Februar 2004
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Wer bleibt im leeren Haus?

Über die Familien der ländlichen Wanderarbeiter

Von Luo Yuanjun

Wie so viele überall im ganzen Land deckte die mittlerweile 50-jährige Zhou Yunlan, die in einem Gebirgsdorf in der Provinz Hunan lebt, am Vorabend des traditionellen chinesischen Neujahrs den Tisch: ein Gedeck für ihren Mann und je ein weiteres für ihre Tochter Xiaoman und ihren Schwiegersohn. Vier Gedecke, aber zum Essen war nur sie zu Hause. „Iss doch was“, redete sie vor sich hin, „man muss sich satt essen.“

Der Mann von Zhou Yunlan starb vor einigen Jahren. Ihre Tochter und ihr Mann arbeiten in Guangzhou. Dieses Jahr könnten sie nicht zum Frühlingsfest nach Hause kommen, haben sie ihr telefonisch erklärt.

Seit einigen Jahren arbeiten immer mehr Bauern in der Stadt, was zum wirtschaftlichen Wachstum auf dem Land beitrug.

Laut Schätzungen gibt es in China 485 Mio. ländliche Arbeitskräfte, davon sind 150 Mio. überschüssig. Die Abwanderung der überschüssigen ländlichen Arbeitskräfte zu beschleunigen, ist ein guter Weg, die wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Land und Stadt zu vermindern und die Bauerneinkünfte zu erhöhen. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl der ländlichen Wanderarbeiter beachtlich.

Statistischen Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft zufolge gibt es nun in China 94 Mio. ländliche Arbeitskräfte, die in der Stadt arbeiten. Die Zahl macht 20% der gesamten Arbeitskräfte auf dem Land aus. In vielen Dörfern sieht man keine jungen Arbeitskräfte mehr. Das Pro-Kopf-Jahreseinkommen der ländlichen Wanderarbeiter beträgt im Durchschnitt 5597 Yuan und das der Bauern 2000 Yuan. Im Jahr 2000 betrug allein die Zahl der Wanderarbeiter aus der Provinz Anhui über 4 Mio., und ihre Einkünfte entsprachen den jährlichen Finanzeinnahmen der Provinz.

Recherchen ergaben, dass die Bargeld-Einnahmen der Wanderarbeiter 30% der Bauerneinkünfte ausmachen. Für viele Bauernhaushalte sind ihre Einkünfte die wichtigste Einnahmequelle.

Der 47-jährige Xiao Zhihua aus dem Kreis Luotian, Provinz Hubei, hat eine gute Hand für den Ackerbau. Die Dorfbewohner sagen, dass das von ihm bestellte Feld so gut aussieht wie seine Frau. Die Reisähren sind voll und die Kastaniebäume tragen reichlich Früchte. Von der vierköpfigen Familie arbeiten der 23-jährige Sohn und die 18-jährige Tochter in der Stadt. Er und seine Frau bebauen Wasserreisfelder und unbewässertes Ackerland, und sie sind außerdem verantwortlich für mehr als 100 Kastanienbäume. Xiao Zhihua sagt: „Vom Ackerbau können wir uns gerade satt essen, für mehr reicht es nicht.“

Auch Wang Guifang aus der Provinz Sichuan erklärt, dass die Einnahmen ihres Mannes, der nun in der Stadt arbeitet, die wichtigste Einkommensquelle in ihrer Familie seien. Er verdient ca. 15 000 Yuan im Jahr. Die Einkünfte, die die Familie mit Pfirsichbäumen und der Schweine- und der Entenzucht erzielt, betragen ungefähr 8000 Yuan, also gerade etwas mehr als die Hälfte davon.

Auch Zhou Yunlan brachten die Einkünfte ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns einen besseren Lebensstandard. Im letzten Jahr konnte sie ihr Haus renovieren.

Das Alter der meisten ländlichen Wanderarbeiter liegt zwischen 18 und 45 Jahren, ihre Eltern sind oft zwischen 50 und 70 Jahre alt. Diese arbeiten eigentlich nicht mehr, sondern genießen ihren Lebensabend. Doch sie müssen oft harte körperliche Arbeit verrichten, weil die jungen Leute in die Stadt gehen, denn auf ihnen lastet die Verantwortung für die Familie.

In 79 Dörfern im Verwaltungsgebiet der Stadt Chongqing machen die  Familien mit allein älteren Mitgliedern 56,72% der Bevölkerung aus. Und in einem Gebirgsdorf in der Provinz Hubei haben alle arbeitsfähigen Unter-40-Jährigen das Dorf verlassen. Die Feldarbeit bleibt dann den älteren Leuten, den Frauen mittleren Alters sowie den körperlich schwachen und kranken Männern überlassen.

Viele Wanderarbeiter lassen ihre Kinder bei ihren Eltern zurück, so auch Familie Wan. Ihre drei Söhne und die Schwiegertöchter suchten in der Stadt Arbeit. Das alte Ehepaar  muss sich nun um ihre drei Enkelkinder kümmern. Sie haben jeden Tag viel zu tun, die Enkelkinder gehorchen ihnen nicht und sind zu Essenszeiten oft unauffindbar.

Wenn die Feldarbeit nicht zu schwer ist, wie z. B. das Spritzen mit Schädlingsbekämpfungsmittel, macht Zhou Yunlan die Arbeit selbst. Für schwere Arbeit heuert sie jemanden an. Wie in Zeitungen berichtet wird, liegen in vielen Gebieten die Felder brach, weil die jungen Leute in die Stadt abwandern. Im Dorf, wo Zhou Yunlan wohnt, führen die älteren Leute mit Mühe  den Ackerbau weiter.

Für diejenigen, die auf dem Land bleiben, ist Einsamkeit der größte Kummer. Sind jedoch Enkelkinder zu versorgen, fühlen sich die älteren Leute weit besser. Unter der Woche treffen sich die Einsamen häufig, um zu plaudern, Karten oder Mah-Jongg zu spielen oder gemeinsam fernzusehen. Viele beginnen sich für Nachrichten über die Provinz zu interessieren, wo ihre Kinder arbeiten.

Zhou Yunlan konnte anfangs nicht verstehen, dass Xiaoman dieses Jahr nicht zum Frühlingsfest nach Hause zurückkommen kann. Allmählich jedoch entwickelte sie Verständnis für ihre Tochter. Es geht Xiaoman nämlich nicht um die Überstunden an den Feiertagen, sondern darum, dass sie ihre Arbeitsstelle verlieren könnte. Wenn sie nach dem Frühlingsfest eine neue suchen müsste, würde alles wieder von vorn anfangen, und der Lohn wäre auch um einige hundert Yuan niedriger.

Für das Frühlingsfest 2004 hat die Fabrik, in der Xiaoman arbeitet, ein Angebot gemacht. Wenn die Familienmitglieder zu Besuch kommen, übernimmt die Fabrik die Kosten für ihre Unterkunft und Verpflegung vom 1. bis zum 7. Tag des neuen Jahres. Viele Dorfbewohner waren neidisch auf diese Begünstigung von Zhou Yunlan. Für sie jedoch ist die Pietät der Kinder am wichtigsten, das Neujahrsessen hat für sie keine besondere Bedeutung. Sie vertraut darauf, dass ihre Kinder aufs Land zurückkehren werden, sobald sie genug Geld verdient haben. „Sie können doch nicht ewig in der Stadt arbeiten“, tröstet sich Zhou Yunlan.

In den 80er Jahren gab es in Zhou Yunlans Dorf einige kleine Kohlegruben, in die viele Bauern von den umliegenden Orten zur Arbeit fuhren. Als die Kohlevorräte erschöpft waren, gingen die Dorfbewohner auswärts Arbeit suchen. Nur wenn sich die lokale Wirtschaftssituation verbessert, können die Kinder bleiben, denkt Zhou Yunlan immer wieder.

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