Dezember 2004
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In Merlin Garden

Als uns von meiner Arbeitseinheit gesagt wurde, dass wir unsere Wohnung im Friendship Hotel verlassen müßten, um in eine chinesische Wohnung zu ziehen, trennten wir uns nur ungern von dieser gemütlichen aber auch isolierten Umgebung. Hier lebten nun einmal nur Ausländer. Nach längerer Suche zeigte uns der Makler Merlin Garden, vier rote, große, an einem Teil des Kaiserkanals gelegene Wohnblocks. Entscheidend für uns war, dass an beiden Seiten des Kanals eine autofreie Grünfläche ist, auf der wir mit unserem kleinen Sohn spazieren gehen können.

Natürlich war auch ausschlaggebend, dass wir nun auch ein Kinderzimmer hatten und genug Platz für uns. Wie der Großteil der chinesischen Mietwohnungen war auch diese voll möbliert, so voll, dass wir gerne ein paar der Möbel, die nicht unserem Geschmack entsprachen, wieder losgeworden wären, was leider nicht möglich war. Nun verfügen wir über zwei Sofas und dreieinhalb Betten (eines davon ein Gitterbett).

Es stellte sich bald heraus, dass man nicht in einem Ausländerwohnviertel leben muss, um von der Umwelt isoliert zu sein. In diesen Wohnblocks wohnen Vertreter der chinesischen Elite, was wir langsam an den dicken Mercedes und vor allem an den strengen Türwächtern erkannten. Unsere Freunde denken, wir wohnen in einem Militärsperrbezirk. In der Einfahrt stehen drei Wächter, vor jedem Hauseingang mindestens einer, und wer unsere Türnummer nicht genau weiß, wird bis vor unsere Wohnungstür begleitet und dann von einem salutierenden Wächter verabschiedet. Diese Wächter sind aber auch dafür zuständig, zu grüßen, schwere Einkaufstaschen abzunehmen und – besonders wichtig für mich – den Kinderwagen die drei Stufen beim Eingang hinunterzuheben.

Eine zweite wichtige Gruppe sind die technischen Mitarbeiter der Hausverwaltung. Hausverwaltung im chinesischen Sinne, oder besser gesagt, im Sinne eines Luxuswohnviertels, geht über Blumen gießen und Schnee schaufeln hinaus. Die Dienstleistungen, für die man im Monat ca. 40-50 Euro bezahlt, inkludieren auch Nägel einzuschlagen, Möbel zu verschieben, Wasserrohre zu säubern, Sicherungen auszuwechseln und ähnliches. Wunderbar für jemanden mit zwei linken Händen, mit denen auch noch ein Kleinkind gehalten werden will, doch tragisch für jemanden, der selbst gerne Hand anlegt. Diese guten Geister verbringen den Großteil des Tages im Keller und sehen nicht viel Tageslicht.

Nach der Arbeit schließe ich mich der Gruppe von Müttern, Großeltern und Ayis (Kinderfrauen) an, die mit den dazugehörigen Kindern im Hof sitzen. Dort wird man mit dem Namen des Kindes begrüßt, was ich sehr entzückend finde. Wem würde es in Österreich einfallen zu sagen: „Xuanxuan (der chinesische Kosename unseres Sohnes) kommt!“, wenn mein Name doch Katharina ist. Alle Verwandten und Ayis werden auch in ihrer Funktion zum Kind bezeichnet, wie „Leles Mutter“ und „Dengdengs Großvater“ usw. Dann werden die Babys dazu angehalten, Hände zu schütteln oder sonst in irgend einer Weise Kontakt aufzunehmen. Spielzeug und Kinderwagen werden großzügig untereinander ausgetauscht, was ich sehr schätze, bis auf das eine Mal, als Klein Dengdeng in unseren Wagen pinkelte, da er wie alle chinesischen Babys keine Windel trägt, sondern einen Schlitz in der Hose hat.

Kaum unten angelangt, beginnen wir uns auch schon über die Vor- und Nachteile von Windeln vs. Hosenschlitz, die Essgewohnheiten und Schlafenszeiten der Kinder und deren Kleidung zu unterhalten. Da wir unserem Kind erst mit neun Monaten Eigelb gaben, wegen der Allergiegefahr, lösten wir größtes Erstaunen aus, da die anderen Kleinen Eier als Hauptnahrungsmittel essen, das gleiche gilt für Kuhmilch. Gewicht und Körpergröße werden verglichen und dann beginnen die guten Ratschläge: „Du musst seine Socken weiter hinaufziehen, ist ihm nicht kalt? Zieh ihm doch den Pullover aus, ihm ist zu heiß. Er hat Hunger/Durst. Das darf er nicht in den Mund stecken!“ Meine chinesischen Freunde meinten, ich solle es als positive Anteilnahme ansehen und es einfach über mich ergehen lassen. Doch manchmal flüchte ich aus dem Hof auf das Grüngelände am Kanal.

Dieser Abschnitt des ehemaligen Kaiserkanals wurde ausgebaggert, um Touristenschiffen, die von der Stadt bis zum Sommerpalast fahren, Platz zu schaffen. Denen sehen wir dann zu. Ab und zu schwimmt jemand im Kanal oder lässt Drachen steigen. Hunde gibt es unglaublich viele und ich habe Gelegenheit, meinem Sohn subtil die Liebe zu den Hunden einzuflößen, sodass wir dann später auch einmal seinem Wunsch folgen werden und uns zu den Hundebesitzern zählen können. Es gibt nicht mehr nur die kleinen Pekinesen, sondern auch Golden Retriever und Huskys, ein Luxus, der unseren schwerreichen Nachbarn entspricht. Denn es gilt festzuhalten, dass wir in diesem Wohnviertel zum armen Pöbel gehören. Das fanden wir heraus, als eine Dame im Lift meinen Mann fragte, wie groß denn unsere Wohnung sei. Die Antwort „120 m2“ löste Mitleid aus. „Ach, die kleinste!“ Wir erfuhren so, dass manche Wohnungen in Merlin Garden zweistöckig sind und über 300 m2 verfügen. Später erfuhr ich auch, dass viele Familien zwei Ayis anstellen, eine zum Kochen und eine zum Babysitten. Außerdem haben manche Paare zwei Kinder, die internationale Schulen besuchen. Monatelange Urlaube in der Schweiz und in Kanada sind keine Seltenheit.

Nun leben wir also in einer Umgebung, die wir uns zu Hause nicht leisten könnten, mit Nachbarn zusammen, die wir sonst auch nicht kennen lernen würden, und einer Ayi, der wir aus lauter schlechtem sozialem Gewissen doppelt so viel zahlen wie unsere reichen Nachbarn.

Willkommen in Merlin Garden!

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