In
Merlin Garden
Als uns von meiner Arbeitseinheit gesagt
wurde, dass wir unsere Wohnung im Friendship Hotel verlassen
müßten, um in eine chinesische Wohnung zu ziehen, trennten
wir uns nur ungern von dieser gemütlichen aber auch isolierten
Umgebung. Hier lebten nun einmal nur Ausländer. Nach längerer
Suche zeigte uns der Makler Merlin Garden, vier rote, große,
an einem Teil des Kaiserkanals gelegene Wohnblocks. Entscheidend
für uns war, dass an beiden Seiten des Kanals eine autofreie
Grünfläche ist, auf der wir mit unserem kleinen Sohn spazieren
gehen können.
Natürlich war auch ausschlaggebend, dass
wir nun auch ein Kinderzimmer hatten und genug Platz für uns.
Wie der Großteil der chinesischen Mietwohnungen war auch diese
voll möbliert, so voll, dass wir gerne ein paar der Möbel,
die nicht unserem Geschmack entsprachen, wieder losgeworden
wären, was leider nicht möglich war. Nun verfügen wir über
zwei Sofas und dreieinhalb Betten (eines davon ein Gitterbett).
Es stellte sich bald heraus, dass man nicht
in einem Ausländerwohnviertel leben muss, um von der Umwelt
isoliert zu sein. In diesen Wohnblocks wohnen Vertreter der
chinesischen Elite, was wir langsam an den dicken Mercedes
und vor allem an den strengen Türwächtern erkannten. Unsere
Freunde denken, wir wohnen in einem Militärsperrbezirk. In
der Einfahrt stehen drei Wächter, vor jedem Hauseingang mindestens
einer, und wer unsere Türnummer nicht genau weiß, wird bis
vor unsere Wohnungstür begleitet und dann von einem salutierenden
Wächter verabschiedet. Diese Wächter sind aber auch dafür
zuständig, zu grüßen, schwere Einkaufstaschen abzunehmen und
– besonders wichtig für mich – den Kinderwagen die drei Stufen
beim Eingang hinunterzuheben.
Eine zweite wichtige Gruppe sind die technischen
Mitarbeiter der Hausverwaltung. Hausverwaltung im chinesischen
Sinne, oder besser gesagt, im Sinne eines Luxuswohnviertels,
geht über Blumen gießen und Schnee schaufeln hinaus. Die Dienstleistungen,
für die man im Monat ca. 40-50 Euro bezahlt, inkludieren auch
Nägel einzuschlagen, Möbel zu verschieben, Wasserrohre zu
säubern, Sicherungen auszuwechseln und ähnliches. Wunderbar
für jemanden mit zwei linken Händen, mit denen auch noch ein
Kleinkind gehalten werden will, doch tragisch für jemanden,
der selbst gerne Hand anlegt. Diese guten Geister verbringen
den Großteil des Tages im Keller und sehen nicht viel Tageslicht.
Nach der Arbeit schließe ich mich der Gruppe
von Müttern, Großeltern und Ayis (Kinderfrauen) an, die mit
den dazugehörigen Kindern im Hof sitzen. Dort wird man mit
dem Namen des Kindes begrüßt, was ich sehr entzückend finde.
Wem würde es in Österreich einfallen zu sagen: „Xuanxuan (der
chinesische Kosename unseres Sohnes) kommt!“, wenn mein Name
doch Katharina ist. Alle Verwandten und Ayis werden auch in
ihrer Funktion zum Kind bezeichnet, wie „Leles Mutter“ und
„Dengdengs Großvater“ usw. Dann werden die Babys dazu angehalten,
Hände zu schütteln oder sonst in irgend einer Weise Kontakt
aufzunehmen. Spielzeug und Kinderwagen werden großzügig untereinander
ausgetauscht, was ich sehr schätze, bis auf das eine Mal,
als Klein Dengdeng in unseren Wagen pinkelte, da er wie alle
chinesischen Babys keine Windel trägt, sondern einen Schlitz
in der Hose hat.
Kaum unten angelangt, beginnen wir uns auch
schon über die Vor- und Nachteile von Windeln vs. Hosenschlitz,
die Essgewohnheiten und Schlafenszeiten der Kinder und deren
Kleidung zu unterhalten. Da wir unserem Kind erst mit neun
Monaten Eigelb gaben, wegen der Allergiegefahr, lösten wir
größtes Erstaunen aus, da die anderen Kleinen Eier als Hauptnahrungsmittel
essen, das gleiche gilt für Kuhmilch. Gewicht und Körpergröße
werden verglichen und dann beginnen die guten Ratschläge:
„Du musst seine Socken weiter hinaufziehen, ist ihm nicht
kalt? Zieh ihm doch den Pullover aus, ihm ist zu heiß. Er
hat Hunger/Durst. Das darf er nicht in den Mund stecken!“
Meine chinesischen Freunde meinten, ich solle es als positive
Anteilnahme ansehen und es einfach über mich ergehen lassen.
Doch manchmal flüchte ich aus dem Hof auf das Grüngelände
am Kanal.
Dieser
Abschnitt des ehemaligen Kaiserkanals wurde ausgebaggert,
um Touristenschiffen, die von der Stadt bis zum Sommerpalast
fahren, Platz zu schaffen. Denen sehen wir dann zu. Ab und
zu schwimmt jemand im Kanal oder lässt Drachen steigen. Hunde
gibt es unglaublich viele und ich habe Gelegenheit, meinem
Sohn subtil die Liebe zu den Hunden einzuflößen, sodass wir
dann später auch einmal seinem Wunsch folgen werden und uns
zu den Hundebesitzern zählen können. Es gibt nicht mehr nur
die kleinen Pekinesen, sondern auch Golden Retriever und Huskys,
ein Luxus, der unseren schwerreichen Nachbarn entspricht.
Denn es gilt festzuhalten, dass wir in diesem Wohnviertel
zum armen Pöbel gehören. Das fanden wir heraus, als eine Dame
im Lift meinen Mann fragte, wie groß denn unsere Wohnung sei.
Die Antwort „120 m2“ löste Mitleid aus. „Ach, die
kleinste!“ Wir erfuhren so, dass manche Wohnungen in Merlin
Garden zweistöckig sind und über 300 m2 verfügen.
Später erfuhr ich auch, dass viele Familien zwei Ayis anstellen,
eine zum Kochen und eine zum Babysitten. Außerdem haben manche
Paare zwei Kinder, die internationale Schulen besuchen. Monatelange
Urlaube in der Schweiz und in Kanada sind keine Seltenheit.
Nun leben wir also in einer Umgebung, die
wir uns zu Hause nicht leisten könnten, mit Nachbarn zusammen,
die wir sonst auch nicht kennen lernen würden, und einer Ayi,
der wir aus lauter schlechtem sozialem Gewissen doppelt so
viel zahlen wie unsere reichen Nachbarn.
Willkommen in Merlin Garden!