Oktober 2002
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Sonderberichte

Presseschau

Bei den Dong in Guizhou

Von Olivier Roos

Unsere Reise im Südosten von Guizhou, von der ich schon in der letzten Nummer berichtet habe, führte uns von Jinping weiter nach Süden nach Liping, wo auf dem „Langen Marsch“ Maos Aufstieg zur Macht begann, und ins Dorf Zhaoxing, durch eine Gegend, in der die Dong die Bevölkerungsmehrheit stellen.

Dong-Dörfer sind leicht an den charakteristischen, bis zu 13-stöckigen Trommeltürmen zu erkennen. Zhaoxing kann gleich mit fünf dieser filigranen Konstruktionen aufwarten, während in den meisten Dörfern nur ein einziger Trommelturm steht. Man erklärt uns, dass jeder Clan seinen eigenen Turm errichtet. Wie in den stattlichen Wohnhäusern aus Holz steckt auch in diesen Bauten kein einziger Nagel. Die Trommeltürme dienten einst dazu, die Dörfler bei Feuer oder einem Angriff zu alarmieren oder zu einem wichtigen Treffen zusammenzurufen. In vielen Orten allerdings werden die Trommeln nicht mehr geschlagen, doch die Türme dienen noch immer als Versammlungsort für Jung und Alt. Auf den Bänken in ihrem Schatten treffen sich tagsüber die Männer zum Plaudern, oder sie dösen auf den für Dong-Architektur ebenfalls typischen „Wind-und-Regen“-Brücken, deren Aufbauten wie kleine Pagoden aussehen. Öffentlich zur Schau gestellte Muße scheint hier den Vätern und Söhnen vorbehalten zu sein (und den Touristen), die Frauen, das lange Haar zu einem Knoten aufgetürmt und mit einem Kamm zusammengehalten, sieht man zumeist bei der Arbeit, sei es beim Weben, Spinnen oder beim Sammeln von Feuerholz. Die traditionelle Tracht, eine Indigo-gefärbte, violett-schwarze Schürze und eine Jacke darüber sowie ein kurzer Rock und Gamaschen, tragen in Zhaoxing nur noch ältere Frauen.

Die Dong wanderten vermutlich vor rund 3000 Jahren aus Gebieten im heutigen Thailand nach China ein. („Dong“ ist die chinesische Bezeichnung für diese Volksgruppe, sie selber nennt sich „Kam“.) Kontakte mit den Han-Chinesen gab es spätestens in der Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.), wovon ihre Erwähnung in Schriften aus jener Zeit zeugt – damals allerdings noch unter dem Namen „Yue“. Der Begriff „Dong“ taucht erstmals 1171 auf. Wie die meisten anderen Ethnien, die einst Zentralchina bewohnten, wurden die Dong allmählich durch die nach Süden drängenden Han-Chinesen in unwegsamere Gegenden getrieben. Das Siedlungsgebiet der über 2,5 Mio. Dong erstreckt sich heute von Nordost-Guangxi über Südost-Guizhou und Südwest-Hunan bis in den Südwesten von Hubei. Ihre Sprache, die nicht weniger als 15 Töne unterscheidet, zählt zu den Tai-Kadai-Sprachen und ist entfernt mit Zhuang und Thai verwandt. Man trennt zwischen einer nördlichen und einer südlichen Varietät, die wiederum in mehrere Dialekte zerfallen. Für den schriftlichen Verkehr dagegen wird seit jeher Chinesisch verwendet. Erst 1958 entwickelten Linguisten auf der Grundlage des lateinischen Alphabets eine Dong-Schrift, die sich im Alltag jedoch nicht durchgesetzt zu haben scheint – lediglich Ämter und andere offizielle Gebäude sind mehrsprachig angeschrieben. In den größeren Orten und in verkehrsmäßig besser erschlossenen Gebieten ist die Dong-Sprache bereits in Bedrängnis. Hier besteht nicht selten die Situation, dass die Kinder zwar noch Dong verstehen, aber nur noch Chinesisch sprechen, während ihre Großeltern fast ausschließlich Dong verwenden. Wirklich zweisprachig sind nur die 25- bis 40-Jährigen. Nur in abgelegeneren Dörfern, wo Chinesisch weniger verbreitet ist (damit aber auch die Alphabetisierungsrate geringer), ist auch die jüngste Generation des Dong mächtig.

In jedem Dorf steht neben dem Trommelturm eine Freilichtbühne. Wir haben gleich am ersten Abend in Zhaoxing Glück, denn eine Expertengruppe der Regierung ist auf Besuch, um das touristische Potential der Region abzuschätzen, und zu ihren Ehren gibt es eine Gesangs- und Theateraufführung. Traditionellerweise nimmt Singen bei den Dong einen hohen Stellenwert ein – „Reis ist Nahrung für den Körper, Singen ist Nahrung für die Seele“, lautet ein Sprichwort, und ein anderes: „Die volle Bedeutung einer Angelegenheit kann mit Worten nicht angemessen ausgedrückt werden, nur durch Gesang“. In Ermangelung einer Schrift sind die Lieder ihre Literatur. In den meisten Dörfern gibt es Meistersänger, „sang ga“ genannt, welche die Weitergabe der Lieder sichern, aber auch neue dichten und die nächste Generation zum Singen ermuntern.

Gesang und Tanz gibt es zwar fast jeden Abend in Zhaoxing, wenn Touristen dafür bezahlen, doch diese Darbietung scheint tatsächlich mehr als bloße Folklore zu sein, denn kurz vor Beginn ist der Platz vor der Bühne gerammelt voll, sogar auf der Brücke daneben drängen sich die Leute, um einen Blick auf das Spektakel zu ergattern. Auf den besten Plätzen inmitten der Frauen mit Kindern, Männer mittleren Alters, Großmütter und Großväter sitzen die Experten und Touristen. Es ist jedoch nicht der Chor der in voller Festtagskleidung, mit prächtigem Silberschmuck, auftretenden Frauen, der die Dorfbewohner anzieht, sondern die Vorstellung danach: eine Art gesungener Schwank, in dem ein Mann mit den Sorgen und Nöten seiner Frau und seiner Tochter konfrontiert wird, die ihn davon abhalten wollen, sie für seine Geliebte zu verlassen, wie uns unser Nachbar erklärt. Einem der Experten gefällt das Stück aus irgendeinem Grund nicht und er verlässt aufgebracht den Platz, was unser Nachbar mit Recht als Affront empfindet. Der Rest der Menge scheint sich jedoch köstlich zu amüsieren.

Wer an diesem Abend unter den Zuschauern nicht zu sehen ist, sind die Jugendlichen. Sie ziehen es vor, am anderen Ende des Dorfes Mah-Jongg zu spielen oder sich in der einzigen Karaoke-Bar des Orts zu vergnügen. Wer wollte es ihnen verübeln, dass sie aus der Tradition ausbrechen, nicht wie ihre Eltern leben wollen, sondern wie die Jugend in den großen Städten, deren Verheißungen ihnen das Fernsehen in die Stube liefert, dass sie die Bedeutung alter Bräuche nicht mehr einsehen, wenn ihnen in wenigen Stunden Entfernung, in der Kreisstadt Liping, über Internet der Rest der Welt offensteht. Dort wurden uns anlässlich eines Stadtfests die Verhältnisse im Wettstreit der Kulturangebote besonders anschaulich vor Augen geführt. Während sich am Eingang zur Tanzhalle und unter der blinkenden Reklame des Karaoke-Lokals bunt gemischte Menschentrauben bildeten, waren es beim traditionellen Gesangswettbewerb in der kleinen Sportanlage gegenüber vor allem ältere Leute, die dicht bei der Bühne saßen und den Sängerinnen und Sängern lauschten. Es ist wohl unvermeidlich, dass mit dem gesellschaftlichen Wandel, den das Fernsehen, bessere Verkehrsverbindungen und der Tourismus mit sich bringen, die alten Künste nur noch unter den Alten ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugen, und es stellt sich die Frage, ob die Folklorisierung durch den Tourismus, also der Verkauf von Bräuchen für Geld, die Sinnentleerung althergebrachten Kulturguts nicht eher beschleunigt. Schon jetzt werden in einigen Dörfern Lieder und Tänze, die ursprünglich an Festtage gebunden waren, mehrmals täglich aufgeführt. Wie uns der Besitzer eines kleinen Antiquitätenladens in Zhaoxing erklärte, gibt es jedoch durchaus auch gegenläufige Tendenzen. Durch die touristische Wertsteigerung des Brauchtums gewinnen jüngere Dorfbewohner wieder Interesse dafür und sehen ihre ethnische Herkunft als positiv. Doch einfacher wird ihre Aufgabe dadurch nicht, zwischen Tradition und Assimilation eine Identität zu finden.

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