Wie
international ist Beijing?
Von
Olivier Roos
„Hello!“
– wenn Sie hier in Beijing oder anderswo in China leben und
man Ihnen auf einen Blick ansieht, dass Sie aus dem Ausland
kommen, bin ich sicher, dass Sie beim Lesen dieses Worts automatisch
die „richtige“, eigenartig steigende Intonation in Ihrem Kopf
gehört haben. Doch was, werden Sie sich wohl fragen,
hat „Hello!“ damit zu tun, wie international Beijing ist?
In den letzten Jahren ist die Anzahl der Ausländer in
der Hauptstadt stetig gestiegen, immer mehr Leute kommen her,
um Chinesisch zu lernen, und nach dem WTO-Beitritt Chinas
im letzten Jahr werden bestimmt noch mehr Firmen aus dem Ausland
ihre Fachkräfte hierher schicken. Doch ob eine Stadt
international ist oder nicht, lässt sich nicht allein
aufgrund von Zahlen beurteilen. Maßgebend ist in meinen
Augen, wie sich das Zusammenleben zwischen Einheimischen und
Ausländern gestaltet, wie ihr Verhältnis ist – und
hier kommt „Hello“ ins Spiel.
Zu
diesen Zeilen bewegte mich die folgende Begebenheit. An einem
der freien Tage in der ersten Maiwoche fuhr ich mit meiner
Frau zur Einkaufsmeile am Xidan. Wir nahmen die öffentlichen
Verkehrsmittel und stiegen in Xizhimen in die U-Bahn um. Da
wir nur eine Station fahren würden, setzten wir uns gar nicht
erst, sondern blieben bei den Türen stehen. Kaum war der Zug
losgefahren, stand auf einmal eine Frau mit ihrer vielleicht
9-jährigen Tochter vor uns. Die Kleine grinste uns an,
sagte: „Hello!“, ihre Mutter lächelte etwas verlegen,
und nach dieser Darbietung setzten sie sich wieder an ihren
Platz. Meine Frau und ich verzogen ein wenig das Gesicht,
denn ehrlich gesagt, wir waren leicht genervt. Nun mögen
Sie einwenden: Was ist schon dabei, wenn ein junges Mädchen
von ihrer Mutter dazu aufgefordert wird, vor Ausländern
ihre Englischkenntnisse vorzuführen? Das ist doch süß,
weshalb sollte man sich darüber ärgern?
Was
mich daran störte, und was mich nachdenklich machte,
war, dass es den beiden – oder wohl eher der Mutter – nicht
darum ging, irgendwie mit uns in Kontakt treten zu wollen.
Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass die Frau die Anwesenheit
zweier Ausländer zum Anlass nahm, ihre Tochter ein kleines
Kunststück für die Freunde und Verwandten, die im selben Wagen
saßen, aufführen zu lassen. Obwohl die Kleine ihr „Hello!“
an uns richtete, sprach sie eigentlich die Zuschauer an. Es
war nicht als Kommunikation gemeint, sondern als Schau. Sie
hätte ebenso gut gegen eine Wand sprechen können.
Ich aber habe, mit Verlaub, keine Lust mehr, als Kulisse für
solche Späße herzuhalten. Mir wäre es lieber,
einfach ganz normal als Mensch behandelt zu werden.
Vielleicht
war alles nur ein Missverständnis und ich habe die ganze
Situation falsch gedeutet. Vielleicht waren die zwei, drei
„Hello!“-Rufe, die wir in Xisi, am oberen Ende des Xidan,
vernahmen, nicht so herausfordernd gemeint, wie sie in unseren
Ohren klangen. Es mag auch gut sein, dass die Leute durch
die Ferienstimmung der ersten Maiwoche besonders aufgeräumt
waren und sich zu kühnen Taten hinreißen ließen.
Gerne würde ich es glauben, wenn ich Ähnliches nur nicht
schon öfter erlebt hätte, und wenn sich nicht so
viele meiner ausländischen Freunde über die gleichen
Erfahrungen beklagen würden.
Nun
muss ich aber doch die Verhältnisse zurechtrücken: Die
„Hello!“-Rufer sind, verglichen mit den Hunderten, ja Tausenden,
deren Wege man in dieser Stadt täglich kreuzt, eine verschwindend
kleine Minderheit, und diejenigen in Xisi nahm ich nicht zuletzt
deshalb wahr, weil ich schon seit längerem keine gehört
hatte. Nur haben diese Tausenden das Pech, dass die wenigen
„Hellos!“ sehr unangenehm auffallen und sich – wie es der
menschlichen Natur entspricht – unliebsame Erlebnisse besonders
tief ins Gedächtnis brennen. Doch, und dies sei betont,
ich bin sehr gerne in Beijing. Über alles gesehen finde
ich die Leute hier sympathisch, sie sind gemütlich, gesellig,
lachen gern. Für jedes „Hello!“ fällt mir mindestens
ein unterhaltsames, interessantes Gespräch ein, das sich
irgendwann, zumeist im Taxi, zufällig ergeben hat – ein
normaler Austausch eben, echte Kommunikation zwischen zwei
Menschen, mögen sie noch so verschieden sein.
Als
ich im Herbst 2000 wieder nach Beijing kam, hatte ich den
Eindruck, dass die Leute es schon eher gewohnt waren, Ausländer
zu treffen, und weniger überrascht waren als fünf Jahre zuvor,
wenn diese auch noch Chinesisch sprechen. Leute aus fremden
Ländern gehören ohne Zweifel immer mehr zum Straßenbild.
Wirklich international wird Beijing sein, wenn der Anblick
eines „laowai“ kein Aufsehen mehr verursacht, wenn Ausländerinnen
und Ausländern nicht mehr „Hello!“ nachgerufen wird,
kurz: wenn ihre Anwesenheit für selbstverständlich genommen
wird. Dann werden auch die Plakate mit Slogans wie „Beijingers
are friends to all the world“ nicht mehr nötig sein,
die vornehmlich in der Gegend um Sanlitun hängen. Große
Lettern stehen immer im Verdacht, Wirklichkeit nicht so sehr
wiederzugeben, sondern sie vielmehr schaffen zu wollen.