Mai 2002
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Kultur und Kunst

Chinas Scherenschnittkunst
Pferde des Himmels und die chinesische Zivilisation
Die „24 Chroniken“
Symbole für Tapferkeit und Standhaftigkeit

Pferde des Himmels und die chinesische Zivilisation

Von Lin Ying

Der Urahne aller Pferde trägt den Namen Tiansi und wird mit dem Sternzeichen „Fang“ gleichgesetzt, der vierten Konstellation im siebten Haus des östlichen Quadranten, gemeinhin auch „azurblauer Drache“ genannt. Man sagt, das Sternzeichen „Fang“ bestehe aus vier Pferden (d.h. den vier Sternen im Kopf des Scorpio). Daher wird es auch „Tiansi“ genannt, ein himmlisches Gespann von vier Pferden. Nachfolgende Generationen fügten ihre eigenen Interpretationen hinzu, so dass das Bild des Pferdes mit dem des Drachen verknüpft wurde.

Während der Westlichen Han-Dynastie reiste der große chinesische Entdecker Zhang Qian (?–114 v. Chr.) durch Zentralasien und gelangte bis weit nach Westen. Dort, in „Dayuan“ (das heute gemeinhin mit dem Ferghana-Becken gleichgesetzt wird), erfuhr er von „Blut schwitzenden“ Pferden, denen nachgesagt wurde, sie seien die besten der Welt und könnten 1000 Meilen im Tag zurücklegen (qianli ma). Zhang Qian berichtete dies Kaiser Wudi (157-87 v. Chr.), der sogleich den strategischen Nutzen solcher Pferde erkannte. Kaiser Wudi überrannte Dayuan, gelangte so in den Besitz der Pferde und schrieb eine Ode an das „Himmlische Pferd des fernen Westens“. Indem sie die Pferde überirdisch nannten, sprachen ihnen die Chinesen himmlische Eigenschaften zu (z.B. Bewusstsein und Gefühle, aber auch Allmacht). Das Pferd hatte himmlische Kraft und einen himmlischen Geist und wurde von der Kunstwelt durch die ganze Geschichte hindurch so dargestellt, bis zum heutigen Tag.

Chinesische Malerei und Schrift teilen den selben Ursprung, da primitive Piktogramme von gemalten Naturbildern abgeleitet sind. In den Orakelinschriften auf Schildkrötenpanzern aus der Shang-Dynastie (16.-11. Jh. v. Chr.) finden sich die Zeichen (Pferd) und (Wagen). Noch in den Textinschriften in einem alten chinesischen Bronzegefäß aus der Zeit der Zhou-Dynastie (11.-3. Jh. v. Chr.) stößt man auf eine Art von Sippenabzeichen, in dem ein Mann rittlings auf einem Schwein sitzt und zwei Pferde hinter sich her führt. Diese Figur ist möglicherweise der Ursprung des chinesischen Zeichens (Familie, Zuhause). Was auch immer die Bedeutung dieser Sippenabzeichen gewesen sein mag, sie weisen auf die Zähmung wilder Pferde hin.

Das Pferd, mit seinen Assoziationen von Yang-Lebensenergie und seinen Verknüpfungen mit der Sonne und dem Sonnenpferd, wurde zur mythischen Grabbeigabe. Ihm wurde nachgesagt, die Macht zu besitzen, die Toten aus dem Grab wieder auferstehen lassen zu können.

Zhouyuan war die Hauptstadt des Zhou-Clans, bevor er die Shang stürzte und seine eigene Dynastie errichtete. Aus diesem Grund gibt es dort eine Anhäufung von Ahnengräbern und Schreinen. Unter den acht ausgegrabenen Pferde- und Wagengruben befindet sich die größte und tiefste in der Mitte. Ihr Alter wird auf 2900 Jahre geschätzt, und ihre Länge beträgt 7,3 m, ihre Breite 5,1-5,3 m. Die Grube liegt 12,6 m unter der Erdoberfläche. Die Art, wie die Pferde hier begraben wurden, ist selten anzutreffen. Eine Herde von lebenden Hengsten wurde in die Grube getrieben, und während sie sich aufbäumten und um sich traten, wurde schleunigst Erde in die Gruppe gekippt, die sie bei lebendigem Leibe begrub. Archäologen fanden Brüche in den Beinknochen der Pferde, die auf die Heftigkeit der Kämpfe schließen lassen. Insgesamt waren in der Grube 95 Pferde.

Die Bedeutung des Pferds für die Menschheit wurde erst in der chinesischen Bronzezeit (ca. 2000–500 v. Chr.) spürbar, in einer Zeit, als die ersten Staaten entstanden – einer Zeit von Kultur und Krieg.

Dem Shiji („Geschichtliche Aufzeichnungen“) zufolge ordnete König Xian von Qin in seinem ersten Regierungsjahr (384 v. Chr.) an, dass der Brauch, lebende Opfer als Grabbeigaben darzubringen, abgesetzt werden solle. Die Opferung von Menschen und Tieren, die bis anhin für „richtig“ gehalten wurde, galt nun als „abartig“, und man begann, sie durch Figuren zu ersetzen. Rund hundert Jahre später wurde das Grab des Qinshihuang (des ersten Kaisers von China) mit den Terrakotta-Soldaten und Kampfpferden angelegt, die in der Skulpturgeschichte ohne Beispiel gewesen waren. Es gibt Tausende von Tonpferden in der majestätischen Armee von Terrakotta-Soldaten. Daran wird der große Wandel in den Bestattungsritualen erkennbar. Dank des Fortschritts der Menschheit und der Zivilisation und unter Beteiligung unbekannter Handwerkersklaven und Künstler betrat das Pferd die Bühne der bildenden Kunst.

In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde während der Freilegung der drei Gruben, in denen sich Qinshihuangs begrabene Legionen befinden, eine große Anzahl von tönernen Kampfpferden ausgegraben – schätzungsweise mindestens 1000. Sowohl die Terrakotta-Soldaten als auch die Kampfpferde sind in Lebensgröße. Tausende von Pferden und Kriegern wurden zusammengestellt, um ein echtes Schlachtfeld auf großartige und beeindruckende Weise nachzubilden. Dies steht in Einklang mit

Qinshihuangs Vorliebe für Strategie und seinem Erfolg als Eroberer – er ging sieghaft aus einer Reihe größerer Kriege hervor, was ihm erlaubte, das Land zu vereinen. Keine andere alte Zivilisation hat eine Welt geschaffen, in der die Toten derart maßstabsgetreu wiedergegeben wurden, und die Kampfpferde tragen einen wichtigen Teil zu dieser Errungenschaft bei.

Im Jahre 206 v. Chr. ließ sich Liu Bang (?–195 v. Chr.) unter dem Regentennamen Gaozu zum ersten Kaiser der Han-Dynastie ausrufen. Das zentralistische, feudale Regime wurde bis zum Tod von Liu Che (157–87 v. Chr.), dem Kaiser Wudi, gefestigt. Es war eine Zeit der Blüte, die nach Größerem trachtete.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund brach Zhang Qian zu seinen diplomatischen Expeditionen nach Westen auf, mit dem Ergebnis, dass seine Route, besser bekannt als „Seidenstraße“, zu einem wichtigen Handelsweg wurde, der den Austausch zwischen den Han und den nomadischen Stämmen erleichterte. Zhang Qians Entdeckung der „Blut schwitzenden“ Pferde in Dayuan weckte Kaiser Wudis Interesse, nicht zuletzt deshalb, weil gemäß einer Prophezeiung im Yijing (dem „Buch der Wandlungen“) das „himmlische Pferd aus dem Nordwesten kommen würde“. Deshalb wollte Wudi um jeden Preis in den Besitz dieses fabelhaften „Blut schwitzenden“ Pferds aus Dayuan gelangen.

Wudi liebte gute Pferde, weil er glaubte, dass sie über Sieg oder Niederlage in einer Schlacht entscheiden würden. Zu Beginn der Han-Dynastie kamen im Norden berittene halb-nomadische Stämme, den Han unter dem Namen Xiongnu (Hunnen) bekannt, an die Macht. In jener Zeit sorgten die Xiongnu an den nördlichen Grenzen immer wieder für Unruhe. Sie ritten auf kräftigen Pferden und bewegten sich rasch von einem Ort zum andern. So stellten sie eine Bedrohung für die Han-Dynastie dar. Nach einer erfolglosen Expedition schickte Kaiser Wudi seine Armee auf einen Straffeldzug gegen Dayuan, das 12 550 li (6 275 km) von der Hauptstadt Chang’an entfernt war. Nach vier Jahren kehrten die Truppen mit einer Auswahl an erstklassigen Pferden zurück, die „Pferde des Himmels“ genannt wurden.

Durch diese Bezeichnung verlieh Kaiser Wudi den Pferden göttliche Macht und den Erkundungsgeist des himmlischen Pferdegotts. Dies bildete den Grundstein dafür, dass das Pferd des Himmels zu einem Thema der chinesischen Künste wurde. Die Höhle 249 in Dunhuang, in den Nördlichen Dynastien angefertigt, ist für ihre Wandmalerei bekannt, die eine Jagdszene zeigt. Jagen ist ein häufiges Motiv in Figuren- und Pferdemalereien, in denen Grün, Blau, Rotbraun und Schwarztöne auf weißem Grund aufgetragen sind. Linien und Falten treffen sich zu Darstellungen von Jägern, Pferden, Bergen, Bäumen und Tieren. Der Aufbau ist romantisch konzipiert und das ganze Bild ist durchdrungen von Leben und Lebhaftigkeit.

Es herrscht Übereinstimmung darüber, dass die Tang-Dynastie das kreativste Zeitalter war. In dieser Zeit erreichte die Pferdemalerei den Höhepunkt an Ruhm und Pracht in der Geschichte der chinesischen Kunst. Vor der Tang war die Pferdemalerei keine Kunstgattung, doch seither haben Maler den Tang-Stil wiederbelebt und veredelt.

Es gibt viele Geschichten darüber, wie Li Gonglin, ein Maler und Gelehrter der Song-Dynastie, Pferde malte. In „Fünf göttliche Pferde“ fällt der Blick des Betrachters auf alle fünf Tiere. Ihre Körperhaltung ist ruhig und entspannt, sie stehen einfach da, erhaben und ungezwungen. Betrachtet man die Reiter daneben, erkennt man, dass keiner dem andern gleicht und sie sich bezüglich Herkunft, Charakter und sozialem Status unterscheiden. Ihre Gesichter hinterlassen keinen außergewöhnlichen Eindruck, weder ist da ein stechender Blick, noch Ehrgeiz, noch sind übermäßige Emotionen oder Wünsche auszumachen.

Dem vielseitigen Kaiser Kangxi (1661–1722) gefielen die musikalischen und malerischen Fähigkeiten der Jesuiten ausgezeichnet. In der Tat hielt er sie so hoch, dass er sie an den Qing-Hof berief und sie in den Rang eines Meisters der Musik oder der Malerei beförderte. Giuseppe Castiglione (1688–1766), Maler und Architekt, ein italienischer Jesuit aus Neapel – in China besser bekannt als Lang Shining –, kam 1715 in Beijing an, während der Regierungszeit Kaiser Kangxis. Er war derjenige, den Kaiser Kangxi am höchsten schätzte, und wurde als Hofmaler an den Qing-Hof bestellt. Bis 1766, als er in Beijing verschied, umspannte seine Karriere 51 Jahre.

Der Klassiker unter den frühesten Werken, die Castiglione in China schuf, ist eine Rolle mit dem Titel „Hundert Pferde“. Castiglione stellte sie 1728 fertig, als er 40 Jahre alt war. Man kann das Bild als freie Welt interpretieren, in der die Pferdenatur vollumfänglich zum Ausdruck kommt, aber auch als ein durch einen italienischen Prediger idealisiertes chinesisches Schäfergedicht.

Westlichen Malgewohnheiten folgend erstellte Castiglione eine Skizze von „Hundert Pferde“ auf Papier, bevor er die Arbeit an der endgültigen Fassung aufnahm. Auf Seide schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit der Wiedergabe einer wissenschaftlichen Perspektive auf die Landschaft, die dem Bild ein Gefühl von Geräumigkeit und Tiefe verleiht. Die Proportionen der menschlichen Figuren und der Pferde auf der Wiese sind sehr genau wiedergegeben. Alle Pferde unterscheiden sich in ihrer Körperhaltung, und jedes nimmt eine typische Stellung ein, die aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt ist: von vorne, im Halbprofil oder im Profil. Einige trinken Wasser, andere durchqueren einen Fluss, wieder andere stehen still, grasen, vergnügen sich zu zweit in der frischen Luft oder wälzen sich am Boden. An der Detailtreue der Naturbeobachtung erkennt man die Genauigkeit von Castigliones Zeichenkünsten. In der endgültigen Fassung auf Seide macht sich auch seine Vertrautheit mit dem chinesischen Geschmack durch die Wahl des traditionellen chinesischen gongbi (penibler Realismus mit leuchtenden Farben), durch technische Formeln und sorgsam wiedergegebene Licht-/Schatteneffekte bemerkbar, so dass die Pferde durch Hervorhebungen auf ihren Fellen dreidimensional erscheinen. Seine durch Genauigkeit und konsequente Wahrheitstreue geprägte Herangehensweise war beispiellos, etwas, das vor ihm in China niemand getan hatte.

Xu Beihong, der berühmteste Pferdemaler Chinas im 20. Jh., studierte einst Kunst in Japan und Frankreich. Er malte Pferde nicht, weil sie einem Bedürfnis der Politik entsprachen, sondern weil er sie von klein auf immer schon gern gezeichnet hatte. Ein Leben lang waren edle Pferde sein Thema. Die von Xu Beihong gemalten galoppierenden Pferde wirken alle lebhaft, doch ihre kultivierten und eleganten Eigenschaften gehen über diejenigen von echten Pferden hinaus. In chinesischen Augen „sind diese galoppierenden Pferde keine wilden Pferde. Sie haben sowohl eine Drachen- wie auch eine menschliche Natur. Sie laufen frei von allen Zwängen. Sie sind ein Bild der Vorstellung, ein charakteristisches Symbol, ein Symbol der Freiheit, des Aufrichtens, ein Symbol der chinesischen Nation zu dem Zeitpunkt, wo sie ihren Kopf hebt.“

Die Geschichte der chinesischen Pferdemalerei ist die Geschichte der chinesischen Zivilisation, eine Geschichte, die uns lehrt, dass die Chinesen der Natur, ihren Mitmenschen und den Pferden freundlich, aber auch feindlich gesinnt sind. Der Geist der Pferdemalerei widerspiegelt ebenso die Sorgen, das Glück und die Hoffnung der chinesischen Nation im letzten Jahrtausend.

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