Pferde
des Himmels und die chinesische Zivilisation
Von Lin
Ying

Der Urahne aller Pferde trägt den Namen
Tiansi und wird mit dem Sternzeichen „Fang“ gleichgesetzt, der
vierten Konstellation im siebten Haus des östlichen Quadranten,
gemeinhin auch „azurblauer Drache“ genannt. Man sagt, das Sternzeichen
„Fang“ bestehe aus vier Pferden (d.h. den vier Sternen im Kopf
des Scorpio). Daher wird es auch „Tiansi“ genannt, ein himmlisches
Gespann von vier Pferden. Nachfolgende Generationen fügten ihre
eigenen Interpretationen hinzu, so dass das Bild des Pferdes
mit dem des Drachen verknüpft wurde.
Während
der Westlichen Han-Dynastie reiste der große chinesische
Entdecker Zhang Qian (?–114 v. Chr.) durch Zentralasien und
gelangte bis weit nach Westen. Dort, in „Dayuan“ (das heute
gemeinhin mit dem Ferghana-Becken gleichgesetzt wird), erfuhr
er von „Blut schwitzenden“ Pferden, denen nachgesagt wurde,
sie seien die besten der Welt und könnten 1000 Meilen im
Tag zurücklegen (qianli ma). Zhang Qian berichtete dies
Kaiser Wudi (157-87 v. Chr.), der sogleich den strategischen
Nutzen solcher Pferde erkannte. Kaiser Wudi überrannte Dayuan,
gelangte so in den Besitz der Pferde und schrieb eine Ode an
das „Himmlische Pferd des fernen Westens“. Indem sie die Pferde
überirdisch nannten, sprachen ihnen die Chinesen himmlische
Eigenschaften zu (z.B. Bewusstsein und Gefühle, aber auch Allmacht).
Das Pferd hatte himmlische Kraft und einen himmlischen Geist
und wurde von der Kunstwelt durch die ganze Geschichte hindurch
so dargestellt, bis zum heutigen Tag.
Chinesische
Malerei und Schrift teilen den selben Ursprung, da primitive
Piktogramme von gemalten Naturbildern abgeleitet sind. In den
Orakelinschriften auf Schildkrötenpanzern aus der Shang-Dynastie
(16.-11. Jh. v. Chr.) finden sich die Zeichen 马
(Pferd) und 车
(Wagen). Noch in den Textinschriften in einem alten chinesischen
Bronzegefäß aus der Zeit der Zhou-Dynastie (11.-3.
Jh. v. Chr.) stößt man auf eine Art von Sippenabzeichen,
in dem ein Mann rittlings auf einem Schwein sitzt und zwei Pferde
hinter sich her führt. Diese Figur ist möglicherweise der
Ursprung des chinesischen Zeichens 家
(Familie, Zuhause). Was auch immer die Bedeutung dieser Sippenabzeichen
gewesen sein mag, sie weisen auf die Zähmung wilder Pferde
hin.
Das Pferd, mit seinen Assoziationen von Yang-Lebensenergie
und seinen Verknüpfungen mit der Sonne und dem Sonnenpferd,
wurde zur mythischen Grabbeigabe. Ihm wurde nachgesagt, die
Macht zu besitzen, die Toten aus dem Grab wieder auferstehen
lassen zu können.
Zhouyuan
war die Hauptstadt des Zhou-Clans, bevor er die Shang stürzte
und seine eigene Dynastie errichtete. Aus diesem Grund gibt
es dort eine Anhäufung von Ahnengräbern und Schreinen.
Unter den acht ausgegrabenen Pferde- und Wagengruben befindet
sich die größte und tiefste in der Mitte. Ihr Alter
wird auf 2900 Jahre geschätzt, und ihre Länge beträgt
7,3 m, ihre Breite 5,1-5,3 m. Die Grube liegt 12,6 m unter der
Erdoberfläche. Die Art, wie die Pferde hier begraben wurden,
ist selten anzutreffen. Eine Herde von lebenden Hengsten wurde
in die Grube getrieben, und während sie sich aufbäumten
und um sich traten, wurde schleunigst Erde in die Gruppe gekippt,
die sie bei lebendigem Leibe begrub. Archäologen fanden
Brüche in den Beinknochen der Pferde, die auf die Heftigkeit
der Kämpfe schließen lassen. Insgesamt waren in der
Grube 95 Pferde.
Die Bedeutung des Pferds für die Menschheit
wurde erst in der chinesischen Bronzezeit (ca. 2000–500 v. Chr.)
spürbar, in einer Zeit, als die ersten Staaten entstanden –
einer Zeit von Kultur und Krieg.
Dem
Shiji („Geschichtliche Aufzeichnungen“) zufolge ordnete
König Xian von Qin in seinem ersten Regierungsjahr (384
v. Chr.) an, dass der Brauch, lebende Opfer als Grabbeigaben
darzubringen, abgesetzt werden solle. Die Opferung von Menschen
und Tieren, die bis anhin für „richtig“ gehalten wurde, galt
nun als „abartig“, und man begann, sie durch Figuren zu ersetzen.
Rund hundert Jahre später wurde das Grab des Qinshihuang
(des ersten Kaisers von China) mit den Terrakotta-Soldaten und
Kampfpferden angelegt, die in der Skulpturgeschichte ohne Beispiel
gewesen waren. Es gibt Tausende von Tonpferden in der majestätischen
Armee von Terrakotta-Soldaten. Daran wird der große Wandel
in den Bestattungsritualen erkennbar. Dank des Fortschritts
der Menschheit und der Zivilisation und unter Beteiligung unbekannter
Handwerkersklaven und Künstler betrat das Pferd die Bühne der
bildenden Kunst.
In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts
wurde während der Freilegung der drei Gruben, in denen
sich Qinshihuangs begrabene Legionen befinden, eine große
Anzahl von tönernen Kampfpferden ausgegraben – schätzungsweise
mindestens 1000. Sowohl die Terrakotta-Soldaten als auch die
Kampfpferde sind in Lebensgröße. Tausende von Pferden
und Kriegern wurden zusammengestellt, um ein echtes Schlachtfeld
auf großartige und beeindruckende Weise nachzubilden.
Dies steht in Einklang mit
Qinshihuangs
Vorliebe für Strategie und seinem Erfolg als Eroberer – er ging
sieghaft aus einer Reihe größerer Kriege hervor,
was ihm erlaubte, das Land zu vereinen. Keine andere alte Zivilisation
hat eine Welt geschaffen, in der die Toten derart maßstabsgetreu
wiedergegeben wurden, und die Kampfpferde tragen einen wichtigen
Teil zu dieser Errungenschaft bei.
Im Jahre 206 v. Chr. ließ sich Liu Bang
(?–195 v. Chr.) unter dem Regentennamen Gaozu zum ersten Kaiser
der Han-Dynastie ausrufen. Das zentralistische, feudale Regime
wurde bis zum Tod von Liu Che (157–87 v. Chr.), dem Kaiser Wudi,
gefestigt. Es war eine Zeit der Blüte, die nach Größerem
trachtete.
Vor diesem geschichtlichen Hintergrund brach
Zhang Qian zu seinen diplomatischen Expeditionen nach Westen
auf, mit dem Ergebnis, dass seine Route, besser bekannt als
„Seidenstraße“, zu einem wichtigen Handelsweg wurde, der
den Austausch zwischen den Han und den nomadischen Stämmen
erleichterte. Zhang Qians Entdeckung der „Blut schwitzenden“
Pferde in Dayuan weckte Kaiser Wudis Interesse, nicht zuletzt
deshalb, weil gemäß einer Prophezeiung im Yijing
(dem „Buch der Wandlungen“) das „himmlische Pferd aus dem Nordwesten
kommen würde“. Deshalb wollte Wudi um jeden Preis in den Besitz
dieses fabelhaften „Blut schwitzenden“ Pferds aus Dayuan gelangen.
Wudi
liebte gute Pferde, weil er glaubte, dass sie über Sieg oder
Niederlage in einer Schlacht entscheiden würden. Zu Beginn der
Han-Dynastie kamen im Norden berittene halb-nomadische Stämme,
den Han unter dem Namen Xiongnu (Hunnen) bekannt, an die Macht.
In jener Zeit sorgten die Xiongnu an den nördlichen Grenzen
immer wieder für Unruhe. Sie ritten auf kräftigen Pferden
und bewegten sich rasch von einem Ort zum andern. So stellten
sie eine Bedrohung für die Han-Dynastie dar. Nach einer erfolglosen
Expedition schickte Kaiser Wudi seine Armee auf einen Straffeldzug
gegen Dayuan, das 12 550 li (6 275 km) von der Hauptstadt
Chang’an entfernt war. Nach vier Jahren kehrten die Truppen
mit einer Auswahl an erstklassigen Pferden zurück, die „Pferde
des Himmels“ genannt wurden.
Durch diese Bezeichnung verlieh Kaiser Wudi
den Pferden göttliche Macht und den Erkundungsgeist des
himmlischen Pferdegotts. Dies bildete den Grundstein dafür,
dass das Pferd des Himmels zu einem Thema der chinesischen Künste
wurde. Die Höhle 249 in Dunhuang, in den Nördlichen
Dynastien angefertigt, ist für ihre Wandmalerei bekannt, die
eine Jagdszene zeigt. Jagen ist ein häufiges Motiv in Figuren-
und Pferdemalereien, in denen Grün, Blau, Rotbraun und Schwarztöne
auf weißem Grund aufgetragen sind. Linien und Falten treffen
sich zu Darstellungen von Jägern, Pferden, Bergen, Bäumen
und Tieren. Der Aufbau ist romantisch konzipiert und das ganze
Bild ist durchdrungen von Leben und Lebhaftigkeit.
Es
herrscht Übereinstimmung darüber, dass die Tang-Dynastie
das kreativste Zeitalter war. In dieser Zeit erreichte die Pferdemalerei
den Höhepunkt an Ruhm und Pracht in der Geschichte der
chinesischen Kunst. Vor der Tang war die Pferdemalerei keine
Kunstgattung, doch seither haben Maler den Tang-Stil wiederbelebt
und veredelt.
Es gibt viele Geschichten darüber, wie Li
Gonglin, ein Maler und Gelehrter der Song-Dynastie, Pferde malte.
In „Fünf göttliche Pferde“ fällt der Blick des Betrachters
auf alle fünf Tiere. Ihre Körperhaltung ist ruhig und entspannt,
sie stehen einfach da, erhaben und ungezwungen. Betrachtet man
die Reiter daneben, erkennt man, dass keiner dem andern gleicht
und sie sich bezüglich Herkunft, Charakter und sozialem Status
unterscheiden. Ihre Gesichter hinterlassen keinen außergewöhnlichen
Eindruck, weder ist da ein stechender Blick, noch Ehrgeiz, noch
sind übermäßige Emotionen oder Wünsche auszumachen.
Dem
vielseitigen Kaiser Kangxi (1661–1722) gefielen die musikalischen
und malerischen Fähigkeiten der Jesuiten ausgezeichnet.
In der Tat hielt er sie so hoch, dass er sie an den Qing-Hof
berief und sie in den Rang eines Meisters der Musik oder der
Malerei beförderte. Giuseppe Castiglione (1688–1766), Maler
und Architekt, ein italienischer Jesuit aus Neapel – in China
besser bekannt als Lang Shining –, kam 1715 in Beijing an, während
der Regierungszeit Kaiser Kangxis. Er war derjenige, den Kaiser
Kangxi am höchsten schätzte, und wurde als Hofmaler
an den Qing-Hof bestellt. Bis 1766, als er in Beijing verschied,
umspannte seine Karriere 51 Jahre.
Der Klassiker unter den frühesten Werken,
die Castiglione in China schuf, ist eine Rolle mit dem Titel
„Hundert Pferde“. Castiglione stellte sie 1728 fertig, als er
40 Jahre alt war. Man kann das Bild als freie Welt interpretieren,
in der die Pferdenatur vollumfänglich zum Ausdruck kommt,
aber auch als ein durch einen italienischen Prediger idealisiertes
chinesisches Schäfergedicht.
Westlichen
Malgewohnheiten folgend erstellte Castiglione eine Skizze von
„Hundert Pferde“ auf Papier, bevor er die Arbeit an der endgültigen
Fassung aufnahm. Auf Seide schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit
der Wiedergabe einer wissenschaftlichen Perspektive auf die
Landschaft, die dem Bild ein Gefühl von Geräumigkeit und
Tiefe verleiht. Die Proportionen der menschlichen Figuren und
der Pferde auf der Wiese sind sehr genau wiedergegeben. Alle
Pferde unterscheiden sich in ihrer Körperhaltung, und jedes
nimmt eine typische Stellung ein, die aus verschiedenen Blickwinkeln
dargestellt ist: von vorne, im Halbprofil oder im Profil. Einige
trinken Wasser, andere durchqueren einen Fluss, wieder andere
stehen still, grasen, vergnügen sich zu zweit in der frischen
Luft oder wälzen sich am Boden. An der Detailtreue der
Naturbeobachtung erkennt man die Genauigkeit von Castigliones
Zeichenkünsten. In der endgültigen Fassung auf Seide macht sich
auch seine Vertrautheit mit dem chinesischen Geschmack durch
die Wahl des traditionellen chinesischen gongbi (penibler
Realismus mit leuchtenden Farben), durch technische Formeln
und sorgsam wiedergegebene Licht-/Schatteneffekte bemerkbar,
so dass die Pferde durch Hervorhebungen auf ihren Fellen dreidimensional
erscheinen. Seine durch Genauigkeit und konsequente Wahrheitstreue
geprägte Herangehensweise war beispiellos, etwas, das vor
ihm in China niemand getan hatte.
Xu Beihong, der berühmteste Pferdemaler Chinas
im 20. Jh., studierte einst Kunst in Japan und Frankreich. Er
malte Pferde nicht, weil sie einem Bedürfnis der Politik entsprachen,
sondern weil er sie von klein auf immer schon gern gezeichnet
hatte. Ein Leben lang waren edle Pferde sein Thema. Die von
Xu Beihong gemalten galoppierenden Pferde wirken alle lebhaft,
doch ihre kultivierten und eleganten Eigenschaften gehen über
diejenigen von echten Pferden hinaus. In chinesischen Augen
„sind diese galoppierenden Pferde keine wilden Pferde. Sie haben
sowohl eine Drachen- wie auch eine menschliche Natur. Sie laufen
frei von allen Zwängen. Sie sind ein Bild der Vorstellung,
ein charakteristisches Symbol, ein Symbol der Freiheit, des
Aufrichtens, ein Symbol der chinesischen Nation zu dem Zeitpunkt,
wo sie ihren Kopf hebt.“
Die Geschichte der chinesischen Pferdemalerei
ist die Geschichte der chinesischen Zivilisation, eine Geschichte,
die uns lehrt, dass die Chinesen der Natur, ihren Mitmenschen
und den Pferden freundlich, aber auch feindlich gesinnt sind.
Der Geist der Pferdemalerei widerspiegelt ebenso die Sorgen,
das Glück und die Hoffnung der chinesischen Nation im letzten
Jahrtausend.