Mai 2003
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Weltweite Deflation:

Ursachen und Gegenmittel

Von Erh-Cheng Hwa

Warum ist Deflation ein Anlass zur Sorge? Während der meisten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es eher die Inflation als die Deflation, der die größte Sorge der Währungsbehörden auf der ganzen Welt galt und die Gegenstand makroökonomischer Forschung war. In der heutigen globalisierten Wirtschaft ist das Auftreten von Deflation, abgesehen von einigen hochinflationären Ökonomien in Entwicklungsländern, eine relativ neue Erscheinung. Deflation bedeutet, dass das allgemeine Preisniveau kontinuierlich sinkt. Das Risiko der Deflation liegt darin, dass sie Erwartungen über einen weiteren Preiszerfall wecken könnte. Konsumenten schieben dann größere Ausgaben auf und warten auf tiefere Preise, während Firmen aus Furcht vor Kapitalverlust oder tieferen Gewinnmargen Investitionen zurückstellen oder ganz streichen. Doch eine geringere Nachfrage auf Seite der Konsumenten und nach Investitionen führt wiederum zu tieferen Preisen. Ein Teufelskreis der Deflation setzt ein. Als Gegenmittel gegen tiefere Preise müssten die Währungsbehörden die nominelle Zinsrate senken, um den realen Anstieg der Zinsrate aufzufangen, oder sie gar drastisch reduzieren, um die Gesamtnachfrage wiederzubeleben. Aber je weiter die nominelle Zinsrate fällt, desto enger wird der Spielraum für die Währungspolitik. Sollte – wie seit geraumer Zeit in Japan der Fall – die Wiederbelebung der Nachfrage trotz wiederholter Zinssenkungen scheitern, verlöre die Währungspolitik ihre Wirkung als Gegenmaßnahme gegen den realen Zinsanstieg. Als Ergebnis davon könnte die Wirtschaft in eine Deflationsfalle geraten, die von einem stetigen Anstieg der Arbeitslosigkeit begleitet wäre.

Die Weltwirtschaft sieht sich dem Risiko der Deflation gegenüber. Während sie Mühe hat, aus der Rezession herauszubrechen, ist die Gefahr einer weltweiten Deflation zur Zeit deutlich höher als jemals zuvor in diesem und im vergangenen Jahr. Die Güterpreise sinken in den meisten Teilen der Welt, obwohl der Ölpreis kürzlich anstieg. In den USA und in Westeuropa bleibt die Inflationsrate, am Konsumentenpreisindex gemessen, im positiven Bereich bei 1,5–2,5%, und zwar nur wegen des stetigen Preisanstiegs in den Dienstleistungen, welche den Hauptteil der Wirtschaft in diesen Gebieten ausmachen. Doch selbst die Inflation der Dienstleistungspreise scheint sich abzuschwächen. In Japan fällt das allgemeine Preisniveau seit über drei Jahren, und ein Ende der Deflationsspirale ist nirgends in Sicht. Anderswo in Ostasien ist Preisstabilität die Regel, obwohl 2002 auch die vier „kleinen Drachen“, mit Ausnahme Südkoreas, von leichter Deflation betroffen waren. Hong Kong litt am schlimmsten darunter und konnte sich, wie es scheint, niemals aus dem Deflationsdruck der asiatischen Finanzkrise lösen. Nach einem erfolgreichen makroökonomischen Stabilisierungsprogramm verlagerte sich Chinas Wirtschaftspolitik 1998 von der Bekämpfung der Inflation auf Maßnahmen gegen die Deflation. Die asiatische Finanzkrise war zu einem gewissen Grad für diesen Wandel in der makroökonomischen Steuerung verantwortlich, doch hauptsächlich erfolgte er aufgrund der kurzfristig deflationären Auswirkungen, welche die nach 1997 aggressiv verfolgten Strukturreformen auf die chinesische Wirtschaft hatten. In den letzten zwei Jahren hat die Abkühlung der Weltwirtschaft zusätzlichen Deflationsdruck erzeugt. Trotz der freizügigen Verwendung von Haushaltsdefiziten für die Belebung der Binnennachfrage bewegte sich die chinesische Wirtschaft seit 1998 am Rande der Deflation. Das allgemeine Preisniveau (als BIP-Deflator) sank in den Jahren 1998 und 1999, bevor es in den darauf folgenden zwei Jahren in den positiven Bereich zurückkehrte. Doch 2002 trat die Deflation wieder auf.

Ist Deflation notwendigerweise schlecht? Nicht unbedingt. Es hängt von ihrer Ursache ab. Falls sie von einer Steigerung des Angebots (einer Verschiebung der Angebotskurve nach links) herrührt, geht der Preisabfall mit einem Anstieg der Produktion und der Beschäftigung einher. In diesem Fall sinken die Preise, und die Löhne steigen, was den Konsumenten zum Vorteil gereicht. Falls die Deflation jedoch durch eine Verringerung der Nachfrage (eine Verschiebung der Nachfragekurve nach unten) hervorgerufen wird, werden fallende Preise von einem Rückgang der Produktion und der Beschäftigung begleitet. In diesem Fall gewinnen die Konsumenten, aber auf Kosten der Werktätigen. Die Verbindung von steigendem Angebot und sinkender Nachfrage vervielfacht den Druck auf die Preise und hat eine unzweideutige Wirkung auf den Ausstoß und die Beschäftigung. Dieses Szenario scheint auf die gegenwärtige Lage der Weltwirtschaft zuzutreffen, in der die wichtigsten Ökonomien von Deflation bedroht sind, während ihr Beschäftigungsgrad offensichtlich stagniert.

Weltweite Deflation hat weltweite Ursachen. Wenn die heutige Deflation von globalem Ausmaß ist, was sind dann die globalen Kräfte, die sie antreiben? Es scheint, dass sowohl historische als auch zyklische Faktoren eine Rolle spielen, die genau entgegengesetzte Wirkungen auf die Weltwirtschaft ausüben. An erster Stelle unter den historischen Kräften sind ein heftiger Wettbewerb um Güter und Dienstleistungen auf den globalen Märkten zu nennen sowie die Verbreitung fortgeschrittener Technologien, besonders von Informationstechnologie (IT), rund um den Globus. Ersteres ist das Ergebnis freieren Handels und eines freieren Investitionsregimes, welche den weltweiten Wettbewerb auf dem Gütermarkt und zunehmend auch im Bereich der Dienstleistungen verschärft haben. Um genau zu sein, hat das Wachstum im internationalen Handel mit Dienstleistungen in den letzten Jahren dasjenige im Güterhandel überholt. Was die Verbreitung von Technologie betrifft, begünstigte die IT-Revolution das Wachstum im internationalen Handel, und zwar wiederum stärker im Dienstleistungs- als im Güterbereich. Die Auslagerung von Software-Dienstleistungen aus den USA in das Niedriglohnland Indien ist ein typisches Beispiel, aber es gibt unzählige andere.

China trägt nicht, wie schon mehrfach behauptet wurde, zur weltweiten Deflation bei. Im Gegenteil, es regt das globale Wirtschaftswachstum an. Kürzlich erschienen in einer Reihe angesehener internationaler Wirtschaftsmedien Artikel, deren Tenor lautete, China erzeuge auf seinem Weg zum „Herstellungszentrum der Welt“ einen weltweiten Deflationsdruck, indem es die Weltmärkte mit Gütern zu konkurrenzlos tiefen Preisen beliefere. Die japanische Regierung stellte sich auf denselben Stand und warf China vor, Deflation zu exportieren. Sie rief die Volksrepublik auf, ihre Währung aufzuwerten. Diese Argumentation ist anzuzweifeln – das Gegenteil ist nämlich der Fall. Während die Welt einen Konjunkturrückgang erlebt, ist es China, welches das globale Wachstum stimuliert und so das Risiko einer weltweiten Deflation verringert. Zum einen ist China zu einem wichtigen Exportmarkt für die Länder in Ostasien geworden, einschließlich Japan. Zum andern erhöhen die günstigen Preise seiner Güter das reale Einkommen von Haushalten und Staatsinstitutionen auf der ganzen Welt. Und schließlich ist, längerfristig gesehen, Chinas Aufstieg zu einem wettbewerbsfähigen Ausfuhrland Ausdruck einer effizienteren Verteilung des globalen Kapitals und damit eine Quelle für weltweites Wachstum. Dies ist am stetig steigenden Beitrag multinationaler Unternehmen zu Chinas Handel sichtbar – ihr Anteil liegt mittlerweile bei über 50%. Die wachsende Verflechtung Chinas mit der Weltwirtschaft liefert einen Antrieb für globales Wachstum, ähnlich wie freierer Welthandel und ein freieres Investitionsregime die Grundlage für die weltweite wirtschaftliche Blüte nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten.Was die Deflation betrifft, unterscheidet sich Chinas Wirkung in keiner Weise von den zwei historischen Kräften, die im letzten Abschnitt erwähnt wurden.

Die Hauptschuld an der weltweiten Deflation liegt, wie bereits erwähnt, bei der abnehmenden Nachfrage. Die amerikanische Wirtschaft – die wichtigste Lokomotive des weltweiten Wirtschaftswachstums – erholt sich nur mühsam von der Krise, in die sie das Platzen einer der größten Blasen am Aktienmarkt seit 50 Jahren stürzte. Der Arbeitsmarkt in den USA ist schwach und der Nutzungsgrad liegt unter dem Normalwert, insbesondere im Hightech-Sektor, was eine Erholung bei den Investitionen behindert. Die Gesamtnachfrage in der Eurozone und in Großbritannien lässt ebenfalls nach, was die Europäische Zentralbank kürzlich veranlasste, Gegensteuer in Form einer Zinssenkung um 50 Basispunkte zu geben. Japan betreibt weiterhin Realitätsverleugnung. Das Wachstum dort war bis jetzt minim, und eine Wiederbelebung der Wirtschaft ist trotz wiederholter fiskalischer Anreize, deren einziges sichtbares Ergebnis war, die Staatsverschuldung zu einer der höchsten der Welt anwachsen zu lassen, nicht in Sicht.

Der weltweite Deflationsdruck könnte durch Strukturreformen gemindert werden. Deflation wird üblicherweise mit einer expansionistischen, antyzyklischen Politik bekämpft, so auch in der gegenwärtigen Wirtschaftslage. Eine solche Politik ist allerdings nur dann wirkungsvoll, wenn die zugrunde liegenden Ursachen für die Deflation auch tatsächlich zyklischer und nicht struktureller Art sind. Falls in erster Linie strukturelle Hindernisse für die Deflation verantwortlich sind, könnten expansionistische makroökonomische Maßnahmen die Wirtschaft schädigen, indem sie eine nötige Strukturanpassung verzögern. Dies trifft ganz klar auf Japan zu. Weil der Regierung die Entschlossenheit fehlt, die Binnennachfrage durch Strukturreformen zu beleben, weicht sie auf die bequemere Alternative aus, die externe Nachfrage durch Währungsabwertung anzuregen. Damit tut sie nichts anderes, als Deflation zu exportieren, und geht das Risiko ein, einen Abwertungswettlauf loszutreten, der niemandem nützen würde.

In ähnlicher Weise, aber viel geringerem Ausmaß, muss die US-amerikanische Wirtschaft die Glaubwürdigkeit der Unternehmensführungen wiederherstellen, um das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen. Die Restrukturierung von Firmen ist ebenfalls notwendig, um überschüssige Kapazität, die während des letzten Wirtschaftsbooms blindlings geschaffen wurde, zu rationalisieren. Für die Ökonomien in der Eurozone besteht Übereinstimmung darüber, dass der Mangel an Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt auszuräumen ist. Und in China schließlich lässt sich die Fortsetzung der Politik, die Nachfrage durch Haushaltsdefizite zu beleben, nur rechtfertigen, wenn gleichzeitig die Strukturreform weiter verfolgt wird.

Erh-Cheng Hwa war von 1992 bis 1997 Chefökonom in der Vertretung der Weltbank in China.

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