Die
Wirtschaftskraft des ganzen Landes wird zur Lösung
der
Landwirtschaftsprobleme mobilisiert
Von Shen Honglei
Die
Themen Landwirtschaft, Bauern und ländliche Gebiete
– bekannt als sannong („drei Landprobleme“) – waren
ein zentrales Anliegen des abgetretenen Ministerpräsidenten
Zhu Rongji und sind es für seinen Nachfolger Wen Jiabao
geblieben. Als Zhu Rongji vor zwei Jahren im goldenen Saal
der Großen Halle des Volkes gefragt wurde, was ihn
am meisten beschäftige, antwortete er ohne Zögern:
„Wie das Einkommen der Bauern gesteigert werden kann.“ Vor
kurzem beantwortete Wen Jiabao, wiederum auf einer Pressekonferenz
im goldenen Saal, Fragen dazu, wo er die größten
Probleme und Herausforderungen sehe. Er gab zur Antwort:
„Zuoberst in der schleppenden Entwicklung der Landwirtschaft
und dem schleichenden Anstieg der bäuerlichen Einkommen.“
Die
Kluft zwischen Stadt und Land in China
Der
auf dem 10. Nationalen Volkskongress (NVK) im März
verlesene Tätigkeitsbericht der Regierung nannte die
folgenden Zahlen: „Chinas BIP stieg zwischen 1997 und 2002
von 7400 Mrd. Yuan auf 10 200 Mrd. Yuan.“ Ausländische
Wirtschaftsbeobachter könnten daraus schließen,
dass die chinesische Wirtschaft alles in allem den sechsten
Rang einnimmt. Für die Chinesen selber heißt dies,
dass das Pro-Kopf-BIP rund 1000 US$ beträgt. Auf jeden
Fall sagt man gemeinhin von einem Land, es habe ein gewisses
Wohlstandsniveau erreicht, wenn das Pro-Kopf-BIP 1000 US$
übersteigt.
Den
Begriff „Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand“ (xiaokang)
kriegt man in China in diesen Tagen oft zu hören, und
für manche ist er Wirklichkeit geworden. Er bedeutet, dass
sie über einen Internet-Anschluss verfügen und gewisse Informationen
mit dem Rest der Welt teilen können, eine geräumige
und komfortable Wohnung besitzen und Zeit haben für geistige
und kulturelle Beschäftigungen. Für die 28,2 Mio. Menschen
aber, die noch immer in Armut leben – die meisten von ihnen
Bauern – ist die Vorstellung einer Gesellschaft mit bescheidenem
Wohlstand noch immer ein Traum.
Obwohl
die letzte Regierung ländlichen Haushalten eine jährliche
Einkommenssteigerung von 3,8% gewährte, hinkt der Lebensstandard
der Mehrheit der Bauern noch immer weit hinter demjenigen
der Städter zurück. Während sich Großstädte
wie Beijing und Shanghai in Richtung einer wissensbasierten
Wirtschaft bewegen und damit in die zweite Phase der Modernisierung
eintreten, bleiben die meisten der westlichen und zentralen
Landesgebiete unterentwickelt. Das regionale Wirtschaftsungleichgewicht
steigt, ebenso wie das Ungleichgewicht zwischen Industrie-
und abgelegenen Landwirtschaftsgebieten. Zwischen 1997 und
2001 erzielten in den blühenden Küstengebieten Ostchinas
neun Provinzen bzw. regierungsunmittelbare Städte ein
BIP-Wachstum von mehr als 9% pro Jahr. Im landwirtschaftlich
geprägten Zentralchina dagegen waren es nur zwei Provinzen.
Dies macht deutlich, welche Kluft sich zwischen den langsam
wachsenden ländlichen Gebieten und den boomenden Großstädten
aufgetan hat.
Die
Bevölkerung von Taiwan, Hong Kong und Macao nicht mitgezählt,
hat China eine ländliche Bevölkerung von 935 Mio.
Das sind 73% der Gesamtbevölkerung des Festlands. Die
Verstädterungsrate, Kreisstädte und kleine Städte
eingeschlossen, liegt bei nur 37% – zehn Prozentpunkte unter
dem Weltdurchschnitt und 40 Prozentpunkte unter dem Wert
von Industrieländern. Chen Yiyu, NVK-Abgeordneter und
Vizepräsident der Chinesischen Akademie der Wissenschaften,
meint, dass die geringe Kaufkraft der Bauern die Landwirtschaft
zum Flaschenhals für Chinas Wirtschaftsentwicklung mache.
Er weist darauf hin, dass eine gesteigerte Industrieproduktion
keinen Absatz finden wird, falls sich die Landwirtschaft
nicht im selben Ausmaß entwickelt.
Abgesehen
davon war China immer um eine Gesellschaft bemüht, in der
Gleichstellung herrschte. Den Bauern zu einem besseren Einkommen
und zu Wohlstand zu verhelfen ist nicht nur ein Mittel,
um die Binnennachfrage zu steigern, sondern auch der Wunsch
der ganzen chinesischen Nation. In einer Internet-Umfrage
in Guangdong gaben 76% der Universitätsstudenten an,
dass ihnen die Bauernprobleme am meisten Sorge bereiteten.
Auf dem 10. NVK ergriffen zahlreiche Abgeordnete im Namen
der Bauern das Wort, und in den Medien äußern
sich oft Experten zu den „drei Landproblemen“.
Die
Lösung: Industrie
„Die
Lösung der ‚drei Landprobleme’ erfordert neben der
Anstrengung der betroffenen Personen und Gebiete die Unterstützung
einer entwickelten heimischen Industrie“, sagt Zhan Chunxin,
NVK-Abgeordneter und Unternehmer. Die meisten Sektoren der
Staatsbetriebe haben Verluste in Gewinne umgewandelt. Im
Jahr 2002 erzielte die im Staatsbesitz befindliche Wirtschaft
Gewinne in Höhe von 250 Mrd. Yuan – das beste Ergebnis
aller Zeiten. Die Verjüngung der heimischen Industrie Chinas,
insbesondere der Fertigung, liefert eine Garantie für die
allseitige Verwirklichung einer Gesellschaft mit bescheidenem
Wohlstand, die sowohl die ländliche Bevölkerung
als auch die armen Stadtbewohner einschließt.
Xu
Shaofang, ein NVK-Abgeordneter der Provinz Jiangxi und der
Verwaltungsratsvorsitzende der Pingkuang-Gruppe, eroberte
die Frontseiten und Fernsehbildschirme, nachdem er ein heruntergekommenes
Bergbaugebiet aus der Abhängigkeit von der Kohleförderung
gelöst und in ein neues Zeitalter der industriellen
Blüte geführt hatte. Viele Industrieunternehmen schufen
neue Arbeitsplätze für arbeitslose Städter und
Bauern, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die
Städte strömen. Die Pingkuang-Gruppe bietet 170
000 entlassenen Kumpeln Arbeit.
In
den letzten Jahren wurde das Land für die industrielle Entwicklung
in den Städten knapp. Deshalb haben einige Unternehmen
ihre Anlagen in ländlichen Gebieten errichtet, und
das Aufkommen von Industrie hat die ländliche Entwicklung
beschleunigt. Viele große Unternehmensgruppen tätigten
hohe Investitionen in Chinas unterentwickeltem Westen und
stiegen direkt in die Verarbeitung von Landwirtschaftsprodukten
ein. Die Delong Group aus Beijing unternahm diesen Schritt
1994. Heute übersteigt ihr Absatz aus der landwirtschaftsbezogenen
Produktion 4 Mrd. Yuan und macht ein Drittel ihres gesamten
Produktionswerts aus. Die Gruppe investierte in eine Ketchup-Fabrik
in Tunhe, im Autonomen Gebiet Xinjiang, die zur Zeit eine
Jahresherstellungskapazität von 240 000 Tonnen hat.
Dies sind nur 20 000 Tonnen weniger als Heinz, der größte
Ketchup-Hersteller der Welt. Delong ist heute der größte
Ketchup-Exporteur Chinas und beliefert Märkte in Europa
und Nordamerika. Vom Projekt in Tunhe profitierten mindestens
100 000 Bauernfamilien.
Die
Zahl der gegenwärtig in Städten werktätigen
Bauern liegt bei rund 120 Mio. Wie sich erwiesen hat, tragen
sie einen bedeutenden Teil dazu bei, ihre Dörfer aus
der Armut herauszuführen. Etliche unter ihnen erwarben berufliche
Fähigkeiten in den Städten und kehrten nach Hause
zurück, um ein eigenes Geschäft aufzumachen. Diese
Rückwanderung befähigte viele ländliche Gebiete
zur Selbsthilfe. Dass die „drei Landprobleme“ in den ländlichen
Gebieten Jiangsus und Zhejiangs kein Thema sind, kann auf
den Zweiwegverkehr der Bauern zurückgeführt werden. Viele
örtliche Kleinstadt- und Privatunternehmen werden von
ehemaligen Bauern geführt.
Es
ist eine weltweit gängige Praxis, die Entwicklung der
Städte vor der Entwicklung der ländlichen Gebiete
zu fördern. Mit einem Pro-Kopf-BIP von 1000 US$ ist
in China die Marke erreicht, über der die Errungenschaften
der Industrie in die Landwirtschaft zurückfließen
und Stadt und Land auf einen gemeinsamen Entwicklungspfad
einschwenken.
Technologische
Lösung
China
ist der größte Reisproduzent der Welt. Ein vom
namhaften chinesischen Wissenschaftler Yuan Longping und
seinen Assistenten entwickelter Hybridreis liefert einen
mu-Ertrag von 500 kg (15 mu = 1 ha). Seine
Verbreitung in China hat den durchschnittlichen mu-Ertrag
auf 400 kg gesteigert. Yuan Longping glaubt, dass China
seine riesige Bevölkerung mit der beschränkten
landwirtschaftlichen Nutzfläche ernähren kann.
Die UNO-Welternährungsorganisation FAO hat einen Plan
entworfen, um Yuans Hybridreis rund um die Welt zu verbreiten.
Hightech
und neue Technologien finden Eingang in die landwirtschaftliche
Entwicklung. Es wird berichtet, dass der Anteil der Hightech-Industrie
an der chinesischen Wirtschaft in den letzten zehn Jahren
von 1% auf 15% gestiegen ist. Zur Zeit gibt es landesweit
405 Erschließungszonen für Hightech-Landwirtschaft
und Schaufarmen für moderne Landwirtschaft. Biotechnologie
und IT spielen eine wachsende Rolle für die Umwandlung der
traditionellen Landwirtschaft in China.
Der
chinesische Landwirtschaftsminister kündigte auf einer Pressekonferenz
zum 10. NVK die Gründung regionaler landwirtschaftlicher
Produktionsgürtel an. Die Regierung sieht die Festlegung
von 35 vorteilhaften Gebieten für den Anbau von Weizen und
Mais für besondere Zwecke, ölreichem Soja, Baumwolle,
Raps, Zuckerrohr, Orangen und Äpfeln vor sowie für
die Produktion von Milch, Rind- und Schaffleisch und Wasserprodukten.
Die Milchverarbeitungsbetriebe Yili und Mengniu, beide in
der Inneren Mongolei ansässig, sind in China führend
und technisch auf einem hohen Stand. Ihr jährlicher
Absatz erreicht 6 Mrd. bzw. 4 Mrd. Yuan. Um die Ressourcen
der Inneren Mongolei besser zu nutzen und die Einkommen
der örtlichen Bauern zu erhöhen, setzt die Hauptstadt
Hohhot Hochtechnologie ein. In China entsteht eine wissensbasierte
Landwirtschaft, die sich durch technologische Innovation
auszeichnet.
Menschliche
Unterstützung
Vor
zwei Jahren gab Yang Yuxue seinen Posten in einem Zentralorgan
in Beijing auf und meldete sich als Freiwilliger, um im
Tongren-Bezirk der abgelegenen Provinz Guizhou als Parteisekretär
zu arbeiten. „Die Touristen sehen in Guizhou die schöne
Landschaft, aber zu Hause bei den einheimischen Bauern sah
ich nur herzzerreißende Armut“, sagt Yang. „Ein Bauer
sagte mir, dass er während eines ganzen Jahres keine
Nacht durchgeschlafen habe, weil er sich seine Kuh, die
einzige Einkommensquelle der Familie, ans Handgelenk band,
aus Furcht, sie könnte gestohlen werden.“ Als Yang
Yuxue die reichen Wasservorkommen der Gegend sah, leitete
er die örtlichen Bauern in der Fischzucht an. Heute
serviert man Lachs aus Tongren in vielen großen Restaurants
im ganzen Land. Tongren verfügt auch über günstige Bedingungen
für den Anbau von Heu, also führte Yang die örtlichen
Bauern einmal mehr auf die Straße zur Marktwirtschaft
und überredete sie zum Heuanbau und zur Viehzucht. Die Geldbeutel
der Bauern füllten sich mit der Zeit erfreulich.
Bis
heute haben sich über 200 000 Universitätsabgänger
aus den Städten gemeldet, um freiwillig in einem von
17 von der Armut betroffenen Gebieten in Zentral- und Westchina,
einschließlich Xinjiang und Tibet, zwei Jahre Dienst
zu leisten. Sie sind in der Grundschulbildung oder im Gesundheitswesen
tätig oder unterweisen Bauern in der Anwendung von
Landwirtschaftstechniken. 207 Kreise profitieren von ihnen.
Diese jungen Menschen bringen neue Ideen, neues Leben und
Kreativität in die rückständigen Orte.