Blutsbande
als Verkaufsnetz
–
Wenzhouer in Übersee sollen Produkte aus ihrer Heimat
im Ausland vertreiben
Von
Olivier Roos
Anlässlich
der erstmals in Wenzhou durchgeführten nationalen Leichtindustriemesse
gab die örtliche Regierung den Plan bekannt, sich zu
einem internationalen Produktionsstandort für die Leichtindustrie
entwickeln zu wollen. Auf dem Weg dahin will sich die Stadt
unter anderem die große Gemeinschaft der Auslands-Wenzhouer
zunutze machen. Sie sollen als Verkaufsnetz dienen, um die
Erzeugnisse aus Wenzhou in aller Welt auf den Markt zu bringen.
Als Hafenstadt
lag für Wenzhou das Ausland schon immer näher als für
andere Gebiete Chinas. Dies umso mehr, als es durch Bergketten
vom Rest des Landes abgeschnitten und auf dem Landweg nur
schwer zu erreichen war. Die ersten anhaltenden Beziehungen
mit Übersee wurden in der Song-Dynastie (960–1279) hergestellt,
einer der wenigen Perioden in der chinesischen Geschichte,
in denen das Kaiserreich an einem regen Warenaustausch über
den Seeweg interessiert war. Nach dem Verbot der Seeschifffahrt
in der Ming- und der Qing-Dynastie gab es erst ab 1876 wieder
regelmäßige Kontakte mit dem Ausland, als die imperialistischen
Mächte die Öffnung von Wenzhou und anderen Vertragshäfen
erzwangen.
Die Auswanderung
aus Wenzhou und Umgebung nach Europa, so will es die Überlieferung,
begann im späten 19. Jh. Der in Qingtian reichlich vorkommende
Seifenstein soll dafür verantwortlich gewesen sein. 1884 erhielt
ein gewisser Chen Yuanfeng, Steinschnitzer und ansonsten ein
Leben als Hausangestellter in einer Gentry-Familie fristend,
die Gelegenheit, auf die in der Hangzhou-Bucht gelegene Insel
Putuoshan zu fahren und dort sein Kunsthandwerk feilzubieten.
Die auf Wochenendurlaub anwesenden Ausländer müssen für
seine Produkte dermaßen überrissene Preise gezahlt haben,
dass in den Steinschnitzerdörfern eine regelrechte Goldrauschstimmung
aufkam. 1893 wollte dann die erste Gruppe von Wenzhouern ihr
Glück in Europa versuchen und bestieg ein französisches
Schiff, das sie von Vietnam aus nach Marseille brachte. Zunächst
waren es nur kleine Gruppen, die ihnen folgten, immerhin aber
genug, dass es 1900 für einen Wenzhouer profitabel war, in
der Hafenstadt ein Hotel für seine Landsleute zu eröffnen.
Andere heuerten unter den Neuankömmlingen Seeleute für
verschiedene Reedereien an.
Die große
Auswanderungswelle setzte erst später ein, in den 20er
und 30er Jahren. 1930 lebten schon 30 000 Qingtianer in Europa,
die vor allem als Kulis oder als Kleinhändler ihren Lebensunterhalt
verdienten. Neben der Schiffsroute von Shanghai aus wählten
viele den Weg über Port Arthur (das heutige Dalian) und die
Transsibirische Eisenbahn in den Westen des eurasischen Kontinents.
Die direkte Landverbindung vereinfachte die Emigration, und
nicht wenige ließen sich auch in Russland bzw. der Sowjetunion
nieder.
Für den Anstieg
der Auswandererzahlen waren hauptsächlich zwei Gründe
verantwortlich. Der eine war der erste Weltkrieg: Großbritannien
und Frankreich rekrutierten für die Kriegswirtschaft 100 000
Arbeiter aus der Gegend um Wenzhou, davon allein aus Qingtian
2000. Der zweite Grund war eine katastrophale Dürre in Wenzhou
im Jahre 1929, welche die gesamte Ernte vernichtete und viele
zum Verlassen des heimatlichen Bodens zwang.
Während die
Zahl der Auslands-Wenzhouer in Übersee bis zum 2. Weltkrieg
stetig zunahm, fand die Auswanderung mit der Gründung der
Volksrepublik ein jähes Ende. Sie setzte erst nach der
Errichtung diplomatischer Beziehungen zwischen der Volksrepublik
China und den westlichen Staaten 1971/72 wieder ein. Nach
und nach lebte die Migration über die alten Landrouten wieder
auf, doch erst mit der Reform- und Öffnungspolitik ab
1978 schnellten die Auswandererzahlen in die Höhe. Wieder
waren es jährlich tausende, welche die Reise nach Westen
antraten. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung in den 80er
Jahren und der steigende Lebensstandard in der Stadt Wenzhou
führten jedoch dazu, dass immer weniger Leute abwanderten,
um anderswo ihr Geld zu verdienen. Ab den 90er Jahren gab
es kaum mehr Auswanderer aus Wenzhou selber – im Gegenteil,
die Stadt wurde selber zum Ziel der Binnenmigration und zieht
heute Wanderarbeiter aus dem Landesinneren auf der Suche nach
Arbeit an.
Im hügeligen, kargen
Umland von Wenzhou gibt es aber nach wie vor Dörfer,
in denen es für die 20- bis 30-jährigen Männer selbstverständlich
ist, das Land zu verlassen. In der Regel haben sie schon eine
Adresse in der Tasche, bevor sie sich auf den Weg machen:
die eines Verwandten oder Nachbars, der ihnen in der Ferne
weiterhelfen wird – und selber seinen Vorgängern gefolgt
ist. Diese „Kettenmigration“ ist typisch für die Qiaoxiang,
die Auswandererdörfer.
Heutzutage leben
rund 240 000 Wenzhouer im Ausland. Aus Qingtian, das in unmittelbarer
Nähe liegt, sind es nochmals etwa 60 000. Da diese Angaben
aus offiziellen Erhebungen stammen, ist davon auszugehen,
dass die wirklichen Zahlen höher liegen. Schätzungen
gehen davon aus, dass 5–6% der 7 Mio. Einwohner, die das Umland
von Wenzhou hat, ausgewandert sind. In den Qiaoxiang
liegt die Auswanderungsrate einiges höher; in Qingtian
erreicht sie 15%, anderswo gar die Hälfte der Bevölkerung.
75–80% der Auslands-Wenzhouer haben sich in Europa niedergelassen,
vorwiegend in Spanien, Frankreich, Italien, den Niederlanden
und neuerdings auch Österreich und Ungarn.
Diese Landsleute
in Übersee sind es nun, welche die Wenzhouer Regierung
und die lokale Wirtschaft in ihre Aufbaupläne einbinden
wollen. Nicht die fliegenden Händler mit Taschen voll
von wunderlichen Feuerzeugen, nicht die unsichtbaren Angestellten
in den chinesischen Restaurants – in Frankreich ist die Hälfte
der Wenzhouer in der Gastronomie tätig – oder die Scharen
von Arbeiterinnen und Arbeitern in kleinen Leder- oder Textilverarbeitungsbetrieben.
Sondern die Erfolgreichen unter ihnen, welche über gute Handelsverbindungen
in ihrem Aufenthaltsland verfügen und Erzeugnissen aus Wenzhou
den Zugang zu ausländischen Märkten eröffnen
könnten. Während Geschäftsleute unter den Wenzhouern
in Westeuropa eindeutig in der Minderheit sind, bildet der
Handel die Haupttätigkeit für die chinesischen Migranten
in Ungarn. Dort füllten die günstigen Kleider und Schuhe aus
Wenzhou nach der Wende 1989 eine Lücke im Warenangebot und
konnten sich erfolgreich etablieren. Um ihre Produkte nun
auch anderswo abzusetzen, plant Wenzhou die Errichtung von
„Warenhäusern für chinesische Erzeugnisse“ in sieben
Städten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, den Niederlanden,
den USA, der Türkei, der Äußeren Mongolei und Marokko.
Fünf solche Zentren existieren schon, u. a. in Rotterdam und
São Paolo.
Sollten sich die
Auslands-Wenzhouer nicht aus ökonomischer Vernunft dazu
entschließen können, am Aufbau eines weltweiten
Verkaufsnetzes für Erzeugnisse aus Wenzhou mitzuwirken, dann
vielleicht aus Pflichtgefühl ihren daheim gebliebenen Brüdern
und Schwestern gegenüber. Li Qiang, Parteisekretär von
Wenzhou, betonte, man wolle die Diaspora kulturell enger an
ihre Heimat binden und an ihr Gemeinschaftsgefühl appellieren.
Seit den frühesten Anfängen der Auswanderung fanden sich
Wohltäter, die sich an ihre Wurzeln erinnerten und Schulen
oder andere gemeinnützige Projekte in ihrem Geburtsort finanzierten.
Und erst die Beteiligung eines vermögenden Auslands-Wenzhouer
ermöglichte es, dass 1998 die verkehrsmäßige
Isolation Wenzhous beendet und die Stadt endlich an das Eisenbahnnetz
angeschlossen wurde. Nimmt man den Technologie- und Know-how-Transfer
und die Investitionen, die in den letzten 20 Jahren in die
Stadt und ihr Umland zurückgeflossen sind, zum Maßstab,
dann möchte man gern glauben, dass die Blutsbanden auch
in Zukunft noch manchen Weg nach außen öffnen werden.