Januar 2003
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Sonderberichte

Blutsbande als Verkaufsnetz

– Wenzhouer in Übersee sollen Produkte aus ihrer Heimat im Ausland vertreiben

Von Olivier Roos

Anlässlich der erstmals in Wenzhou durchgeführten nationalen Leichtindustriemesse gab die örtliche Regierung den Plan bekannt, sich zu einem internationalen Produktionsstandort für die Leichtindustrie entwickeln zu wollen. Auf dem Weg dahin will sich die Stadt unter anderem die große Gemeinschaft der Auslands-Wenzhouer zunutze machen. Sie sollen als Verkaufsnetz dienen, um die Erzeugnisse aus Wenzhou in aller Welt auf den Markt zu bringen.

Als Hafenstadt lag für Wenzhou das Ausland schon immer näher als für andere Gebiete Chinas. Dies umso mehr, als es durch Bergketten vom Rest des Landes abgeschnitten und auf dem Landweg nur schwer zu erreichen war. Die ersten anhaltenden Beziehungen mit Übersee wurden in der Song-Dynastie (960–1279) hergestellt, einer der wenigen Perioden in der chinesischen Geschichte, in denen das Kaiserreich an einem regen Warenaustausch über den Seeweg interessiert war. Nach dem Verbot der Seeschifffahrt in der Ming- und der Qing-Dynastie gab es erst ab 1876 wieder regelmäßige Kontakte mit dem Ausland, als die imperialistischen Mächte die Öffnung von Wenzhou und anderen Vertragshäfen erzwangen.

Die Auswanderung aus Wenzhou und Umgebung nach Europa, so will es die Überlieferung, begann im späten 19. Jh. Der in Qingtian reichlich vorkommende Seifenstein soll dafür verantwortlich gewesen sein. 1884 erhielt ein gewisser Chen Yuanfeng, Steinschnitzer und ansonsten ein Leben als Hausangestellter in einer Gentry-Familie fristend, die Gelegenheit, auf die in der Hangzhou-Bucht gelegene Insel Putuoshan zu fahren und dort sein Kunsthandwerk feilzubieten. Die auf Wochenendurlaub anwesenden Ausländer müssen für seine Produkte dermaßen überrissene Preise gezahlt haben, dass in den Steinschnitzerdörfern eine regelrechte Goldrauschstimmung aufkam. 1893 wollte dann die erste Gruppe von Wenzhouern ihr Glück in Europa versuchen und bestieg ein französisches Schiff, das sie von Vietnam aus nach Marseille brachte. Zunächst waren es nur kleine Gruppen, die ihnen folgten, immerhin aber genug, dass es 1900 für einen Wenzhouer profitabel war, in der Hafenstadt ein Hotel für seine Landsleute zu eröffnen. Andere heuerten unter den Neuankömmlingen Seeleute für verschiedene Reedereien an.

Die große Auswanderungswelle setzte erst später ein, in den 20er und 30er Jahren. 1930 lebten schon 30 000 Qingtianer in Europa, die vor allem als Kulis oder als Kleinhändler ihren Lebensunterhalt verdienten. Neben der Schiffsroute von Shanghai aus wählten viele den Weg über Port Arthur (das heutige Dalian) und die Transsibirische Eisenbahn in den Westen des eurasischen Kontinents. Die direkte Landverbindung vereinfachte die Emigration, und nicht wenige ließen sich auch in Russland bzw. der Sowjetunion nieder.

Für den Anstieg der Auswandererzahlen waren hauptsächlich zwei Gründe verantwortlich. Der eine war der erste Weltkrieg: Großbritannien und Frankreich rekrutierten für die Kriegswirtschaft 100 000 Arbeiter aus der Gegend um Wenzhou, davon allein aus Qingtian 2000. Der zweite Grund war eine katastrophale Dürre in Wenzhou im Jahre 1929, welche die gesamte Ernte vernichtete und viele zum Verlassen des heimatlichen Bodens zwang.

Während die Zahl der Auslands-Wenzhouer in Übersee bis zum 2. Weltkrieg stetig zunahm, fand die Auswanderung mit der Gründung der Volksrepublik ein jähes Ende. Sie setzte erst nach der Errichtung diplomatischer Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und den westlichen Staaten 1971/72 wieder ein. Nach und nach lebte die Migration über die alten Landrouten wieder auf, doch erst mit der Reform- und Öffnungspolitik ab 1978 schnellten die Auswandererzahlen in die Höhe. Wieder waren es jährlich tausende, welche die Reise nach Westen antraten. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung in den 80er Jahren und der steigende Lebensstandard in der Stadt Wenzhou führten jedoch dazu, dass immer weniger Leute abwanderten, um anderswo ihr Geld zu verdienen. Ab den 90er Jahren gab es kaum mehr Auswanderer aus Wenzhou selber – im Gegenteil, die Stadt wurde selber zum Ziel der Binnenmigration und zieht heute Wanderarbeiter aus dem Landesinneren auf der Suche nach Arbeit an.

Im hügeligen, kargen Umland von Wenzhou gibt es aber nach wie vor Dörfer, in denen es für die 20- bis 30-jährigen Männer selbstverständlich ist, das Land zu verlassen. In der Regel haben sie schon eine Adresse in der Tasche, bevor sie sich auf den Weg machen: die eines Verwandten oder Nachbars, der ihnen in der Ferne weiterhelfen wird – und selber seinen Vorgängern gefolgt ist. Diese „Kettenmigration“ ist typisch für die Qiaoxiang, die Auswandererdörfer.

Heutzutage leben rund 240 000 Wenzhouer im Ausland. Aus Qingtian, das in unmittelbarer Nähe liegt, sind es nochmals etwa 60 000. Da diese Angaben aus offiziellen Erhebungen stammen, ist davon auszugehen, dass die wirklichen Zahlen höher liegen. Schätzungen gehen davon aus, dass 5–6% der 7 Mio. Einwohner, die das Umland von Wenzhou hat, ausgewandert sind. In den Qiaoxiang liegt die Auswanderungsrate einiges höher; in Qingtian erreicht sie 15%, anderswo gar die Hälfte der Bevölkerung. 75–80% der Auslands-Wenzhouer haben sich in Europa niedergelassen, vorwiegend in Spanien, Frankreich, Italien, den Niederlanden und neuerdings auch Österreich und Ungarn.

Diese Landsleute in Übersee sind es nun, welche die Wenzhouer Regierung und die lokale Wirtschaft in ihre Aufbaupläne einbinden wollen. Nicht die fliegenden Händler mit Taschen voll von wunderlichen Feuerzeugen, nicht die unsichtbaren Angestellten in den chinesischen Restaurants – in Frankreich ist die Hälfte der Wenzhouer in der Gastronomie tätig – oder die Scharen von Arbeiterinnen und Arbeitern in kleinen Leder- oder Textilverarbeitungsbetrieben. Sondern die Erfolgreichen unter ihnen, welche über gute Handelsverbindungen in ihrem Aufenthaltsland verfügen und Erzeugnissen aus Wenzhou den Zugang zu ausländischen Märkten eröffnen könnten. Während Geschäftsleute unter den Wenzhouern in Westeuropa eindeutig in der Minderheit sind, bildet der Handel die Haupttätigkeit für die chinesischen Migranten in Ungarn. Dort füllten die günstigen Kleider und Schuhe aus Wenzhou nach der Wende 1989 eine Lücke im Warenangebot und konnten sich erfolgreich etablieren. Um ihre Produkte nun auch anderswo abzusetzen, plant Wenzhou die Errichtung von „Warenhäusern für chinesische Erzeugnisse“ in sieben Städten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, den Niederlanden, den USA, der Türkei, der Äußeren Mongolei und Marokko. Fünf solche Zentren existieren schon, u. a. in Rotterdam und São Paolo.

Sollten sich die Auslands-Wenzhouer nicht aus ökonomischer Vernunft dazu entschließen können, am Aufbau eines weltweiten Verkaufsnetzes für Erzeugnisse aus Wenzhou mitzuwirken, dann vielleicht aus Pflichtgefühl ihren daheim gebliebenen Brüdern und Schwestern gegenüber. Li Qiang, Parteisekretär von Wenzhou, betonte, man wolle die Diaspora kulturell enger an ihre Heimat binden und an ihr Gemeinschaftsgefühl appellieren. Seit den frühesten Anfängen der Auswanderung fanden sich Wohltäter, die sich an ihre Wurzeln erinnerten und Schulen oder andere gemeinnützige Projekte in ihrem Geburtsort finanzierten. Und erst die Beteiligung eines vermögenden Auslands-Wenzhouer ermöglichte es, dass 1998 die verkehrsmäßige Isolation Wenzhous beendet und die Stadt endlich an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Nimmt man den Technologie- und Know-how-Transfer und die Investitionen, die in den letzten 20 Jahren in die Stadt und ihr Umland zurückgeflossen sind, zum Maßstab, dann möchte man gern glauben, dass die Blutsbanden auch in Zukunft noch manchen Weg nach außen öffnen werden.

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