Beijing
hautnah
Busfahren
für Einsteiger
Von Wolfgang
Schaub
Da stehe ich nun an der Nong Ke Yuan-Haltestelle
beim Freundschaftshotel. Ich bin nicht der einzige, der um
7 Uhr 45 zum Büro will. Geduldig warten Menschentrauben, denen
aber nicht viel Geduld abverlangt wird, denn im Minutentakt
rollen die Busse an: lange Ungetüme mit Faltenbälgen,
Doppelstöcker und ganz moderne Busse. Mehr als 20 Linien
halten hier, die Linienübersicht sieht so verwirrend aus wie
der Schaltplan eines hochkomplexen Mikrochips.
Einen Zeitplan gibt es nicht, er wäre
auch bei der ständigen Staugefahr in Beijing nicht einzuhalten.
Ich warte selten länger als 5 Minuten auf eine meiner
vier Linien, die zur China International Publishing Group
(Dachgesellschaft von China heute) fahren.
Ist es eigentlich ärgerlich, wenn mehrere
Busse derselben Linie kurz aufeinander folgen oder gar gleichzeitig
ankommen? Ich bin manchmal einer dieser ungeduldigen Westler,
die meinen, man „könne das alles doch ein bisschen besser
organisieren“. Warum diese (typisch deutsche?) Ungeduld? In
China kann ich noch viel lernen.
Beim Einsteigen in den Bus sollte man damit
rechnen, dass es manchmal rauh zugeht. Die Hoffnung auf einen
Sitzplatz kann in den Stoßzeiten getrost vergessen,
es geht nicht selten darum, überhaupt mitzukommen.
In China gibt es noch die gute alte Einrichtung
des Schaffners, meistens der Schaffnerin. Manche haben ihren
festen Platz mit einem abgesperrten Gang bis zur nächsten
Tür, um an alle Passagiere heranzukommen, manche hüpfen bei
jeder Haltestelle von Tür zu Tür.
Die meisten Fahrgäste besitzen Monatskarten,
ich halte jedesmal meinen 1 Yuan-Schein (0,14 Euro) für die
15-minütige Fahrt bereit. In der Anfangszeit hielt ich der
Schaffnerin einen Zettel mit dem Fahrziel hin, was immer noch
angeraten ist, wenn man nur gelegentlich mit dem Bus fährt
und die Zielhaltestelle unbekannt ist. Das Personal ist nämlich
– auch ohne Aufforderung – so nett, rechtzeitig vorher Bescheid
zu sagen. In der Zwischenzeit kann ich mich in Chinesisch
verständlich machen, eine Kurzvariante, die nur das Ziel
nennt. Mehr Höflichkeit ist noch nicht drin. Ich bewundere
immer wieder die Schaffnerinnen, die meinem Gestammel einen
Sinn entlocken können.
Die Fahrt selbst ist ein Erlebnis in zweierlei
Hinsicht:
Manche Fahrer bevorzugen den „binären
Fahrstil“, der nur zwei Zustände kennt, nämlich
Vollgas und Vollbremsung, und der von allen Fahrgästen
orthopädische Ausgleichsbewegungen verlangt. Da bekommt
man mal einen Ellbogen ins Kreuz, ein fremder Fuß steht
auf dem eigenen oder man teilt unbeabsichtigt selbst aus.
Entschuldigungen gibt es fast nie, eine Busfahrt würde auch
aus einem ständigen Entschuldigungsgemurmel bestehen.
Und weil Chinesen praktische Menschen sind, lässt man
es ganz. Ich finde das ganz in Ordnung.
Der zweite Aspekt: Wer das Glück hat, neben
dem Fahrer zu stehen, kann das „funktionierende Chaos“ auf
Beijings Straßen bestaunen. Da wird von allen Verkehrsteilnehmern
mit unbewegter Miene ausgeteilt und eingesteckt, als ob es
in China keine Verkehrsregeln gäbe. Es grenzt an ein
Wunder, dass nicht mehr Unfälle passieren. Mir stehen
meine wenigen Haare zu Berge. Chinesische Busfahrer brauchen
starke Nerven, Reaktionsschnelligkeit, ein sehr gutes Augenmaß
und eine gehörige Portion Durchsetzungsvermögen.
Was machen die Fahrgäste, deren Fahrzeit
meistens viel länger als meine dauert? Zeitunglesen,
vor sich hin dösen, bei jeder Haltestelle einen neuen
Stehplatz suchen, ins Handy brüllen, Englischvokabeln lernen
oder verstohlen bis (unangenehm) offen einen Ausländer
beobachten.
Was passiert, wenn doch mal ein Sitzplatz
frei wird? Geht es nach Alter, Geschlecht oder gar bisheriger
Stehdauer? Nein, einfacher und pragmatischer. Wer am nächsten
steht, der hat das Vorrecht. Einzige Ausnahme sind – so meine
Beobachtung – Pensionäre. Es scheint Chinesen zu verwirren,
wenn ich mein „Vorrecht“ nicht wahrnehme. Es dauert dann eine
ganze Weile, bis der Platz wieder besetzt ist. Mir dagegen
ist es unangenehm, wenn die Schaffnerin mir einen Sitzplatz
organisiert oder ein Fahrgast seinen Sitzplatz anbietet. Darf
man annehmen? Muss man ablehnen? Höflichkeit ist eine
komplizierte Angelegenheit, die manchmal in ein freundliches
Handgemenge ausartet.
Im Sommer ist ein Bus die billigste Sauna
der Welt, im Winter halten die Schaukelbewegungen warm. Man
kann es aber auch komfortabler haben. Es gibt Busse, die zu
allen Jahreszeiten klimatisiert sind, wegen des höheren
Fahrpreises auch häufig freie Sitzplätze bieten
können und manchmal sogar Fernsehen (mit zahlreichen
Werbeunterbrechungen).
Eindrucksvoll anders ist die Reaktion der
Chinesen auf unvorhergesehenes: Ein Unfall, das Versagen des
Motors. Ohne Murren steigt man aus, nimmt den nächsten
Bus oder wartet geduldig auf Ersatz, der per Handy herbeigerufen
wird. Beijinger verhalten sich da – zumindest äußerlich
– pragmatisch: Westler machen ihren Gefühlen Luft. Das hilft
aber dem defekten Motor nicht. Vom Osten lernen, gelassener
werden.
Die nächste Haltestelle ist Gan Jia
Kou. Jetzt ist es wichtig, wieder Richtung Tür zu kommen,
von der ich mich Haltestelle für Haltestelle entfernt habe.
Da mir das Drängeln nicht besonders liegt und mir unklar
ist, wer mit mir aussteigen will oder einfach nicht weiter
in den Bus hineingekommen ist – gestenreiche Versuche, dies
herauszufinden, habe ich aufgegeben -, habe ich mir angewöhnt,
auf Bewegungen meiner Mitreisenden Richtung Tür zu achten
und mich anzuschließen. Das funktioniert und verhindert
meine Panik, nicht rechtzeitig den Ausgang zu erreichen.
„Xia yi zhan gan jia kou
dao le“. Eigentlich müsste ich jetzt nochmal meine Fahrkarte
vorweisen. Doch ein Ausländer in einem öffentlichen
Bus, daran erinnert sich jede Schaffnerin. Ein letztes Gedrängel,
weil sich die Tür nicht ganz öffnet. Und heute Abend
das gleiche nochmal. Wie langweilig ist doch da die Straßenbahnfahrt
in meiner Heimatstadt.