Wenn man Studenten aus Europa, Lateinamerika und anderen westlichen Ländern nach dem Traum ihrer Nation, also etwa nach dem deutschen, französischen oder argentinischen Traum fragt, bekommt man selten eine Antwort. Scheinbar gibt es solche Träume kaum noch. In den USA gibt es, nicht mehr so verbreitet wie früher, den amerikanischen Traum, der aber vielleicht kurz vor einem Comeback steht.
Fragt man chinesische Studenten, bekommt man viele fundierte und auch begeisterte Antworten. Sie haben teilweise selbst erlebt, wie der Traum von mehr Wohlstand für alle und der Wiederbelebung ihrer Nation mehr und mehr wahr geworden ist. Die Studenten haben auch viel von ihren Eltern und Großeltern über die Erfolge Chinas in den letzten Jahrzehnten erfahren.
Damit die Träume eines Landes, also seiner Bewohner, wahr werden können, braucht es kluge und starke Taten. Und für diese braucht es eine starke und kluge Führungspersönlichkeit, die alle Kraft dem Volk widmet. Außerdem braucht es natürlich ein Volk, das über Geschlossenheit und Enthusiasmus verfügt und keine Entbehrungen und Anstrengungen scheut.
Den Begriff und das Konzept „chinesischer Traum“ prägte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping im Jahr 2012 kurz nach seiner Amtsübernahme. Er lieferte damit eine Vision für die Zukunft Chinas und ein Leitprinzip für die Politik und die gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Zentrale Aspekte dieser Vision, die in einem Land der großen Tatkraft auch als To-Do-Liste verstanden werden kann, sind Wiederaufleben der Nation, Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum, Verbesserung des Lebensstandards, Stärkung der Verteidigung, kulturelle Entwicklung und Wiederbelebung, soziale Harmonie und Stabilität sowie Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung.
Träume können nur wahr werden, wenn genug Geld vorhanden ist. In China wird Geld nicht einfach gedruckt, sondern ganz old-school-mäßig hart erarbeitet durch anhaltendes Wirtschaftswachstum. Wer jetzt denkt, dass das alles einfach ist, weil China ja zentral organisiert wird und alles lange geplant werden kann, darf gerne ein zweites Mal darüber nachdenken.
China ist riesig und kompliziert. Das Land hat 1,4 Milliarden Menschen. Die Wirtschaft ist vor allem von der Marktwirtschaft bestimmt, der Staat arbeitet daran, durch die makroökonomische Steuerung die wirtschaftliche Stabilität und Entwicklung zu gewährleisten. China ist international stark eingebunden. China kennt auch Krisen. Wenn nun China trotzdem in einzigartiger Weise wächst, immer moderner und resilienter wird, ist der Grund in erster Linie eine flexible und pragmatische Politik, die das Wohl des Volkes in den Mittelpunkt stellt, Schwächen und Fehler gründlich analysiert und dann schnell und umfassend reagiert und Reformen initiiert.
Die Chinesen kämpfen seit sehr langer Zeit für ihren gemeinsamen Traum.1978 führte Deng Xiaoping die Reform- und Öffnungspolitik ein, um die Wirtschaft zu modernisieren und das Entwicklungsniveau anzuheben. Aus der chinesischen Planwirtschaft wurde eine sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung, ein Erfolgsmodell, dass an die deutsche soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit erinnerte.
Zunächst lag der Fokus der Reformen auf der ländlichen Wirtschaft. Ein vertragsgebundenes Verantwortlichkeitssystem für die Bodenbewirtschaftung auf Basis der Haushalte wurde eingeführt. Später wurden die Reformen auf städtische Gebiete erweitert und Sonderwirtschaftszonen wie Shenzhen geschaffen. Mit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 wuchs Chinas Bedeutung im globalen Handel weiter. China förderte ausländische Investitionen und liberalisierte den Handel.
Seit 2012 setzt Xi Jinping weitere umfassende Reformen um und stärkt das Land und die Weltgemeinschaft mit Initiativen wie der Seidenstraßen-Initiative und der Globalen Entwicklungsinitiative. Die Reform- und Öffnungspolitiken folgen ganz klar dem chinesischen Traum und haben China bereits von einem überwiegend agrarischen Land zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt transformiert. Im nächsten Schritt wird China sicherlich fit fürs 22. Jahrhundert und noch krisenfester gemacht werden.
Auf der jüngsten dritten Plenarsitzung des XX. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (KP Chinas) wurde ein wichtiger Beschluss verabschiedet, der als bedeutendstes Ergebnis der Sitzung gilt. Die KP Chinas bekräftigte erneut ihre Entschlossenheit zur Fortsetzung der Reform- und Öffnungspolitik.
Der Beschluss beinhaltet Maßnahmen zur weiteren Liberalisierung der Wirtschaft, zur Förderung von Innovation und technologischem Fortschritt sowie zur Integration in die globale Wirtschaft. Ebenso sollen die Integration zwischen der realen Wirtschaft und der digitalen Wirtschaft gefördert und die Infrastruktur sowie das Bildungswesen modernisiert werden. Zu den mehr als 300 Reformvorhaben gehört es auch, die immer noch großen Unterschiede zwischen Stadt und Land zu verringern.
Xi Jinping betonte in seiner Rede, dass das Ziel darin bestehe, „das System des Sozialismus chinesischer Prägung weiter zu verbessern und zu entwickeln sowie das Regierungssystem und die Regierungsfähigkeit Chinas zu modernisieren“.
Zur Verbesserung der makroökonomischen Steuerung sollen koordinierte Reformen in den Bereichen Finanzen und Steuern sowie im Bankwesen erfolgen.
Die Öffnung der Wirtschaft wird als „ein hervorstechendes Merkmal der Chinesischen Modernisierung“ bezeichnet. Ziel ist es, die institutionelle Öffnung zu erweitern, die Strukturreform des Außenhandels zu vertiefen und die Mechanismen für eine qualitativ hochwertige Zusammenarbeit im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative zu optimieren.
Sehr wichtige Teile des Reformpakets sind der Aufbau eines standardisierten Marktsystems mit einem einheitlichen nationalen Markt und die Optimierung der Systeme zur Stärkung der Marktwirtschaft, wie der Schutz von Eigentumsrechten, die Informationsoffenlegung, der Marktzugang, das Insolvenzrecht sowie die Kreditaufsicht. Auch familienfreundliche und Geburten fördernde Maßnahmen sollen das Wohl der Bevölkerung sichern und verbessern.
Mit der umfassenden Vertiefung der Reformen werden starke Impulse sowie institutionelle Garantien für das Erreichen des Zweiten Jahrhundertziels geschaffen – China in jeder Hinsicht zu einem modernen sozialistischen Land aufzubauen.
Die angekündigten Marktliberalisierungen können das Wirtschaftswachstum und damit den Lebensstandard der Chinesen steigern. Chinas lautes „Ja!“ zu einem multilateralem Weltwirtschaftssystem und intensivem globalen Handel kann allen Ländern nutzen und den Frieden fördern: Kooperation statt Konfrontation.
Die Förderung von Forschung und Entwicklung wird garantiert die technologischen Fortschritte in KI und anderen Schlüsseltechnologien erleichtern und Chinas Wettbewerbsfähigkeit verbessern.
Xi Jinping gibt mit den Reformen eine starke Antwort auf die internen und externen Herausforderungen Chinas. Die Welt verfolgt gespannt, ob es ihm gelingen wird, den wirtschaftlichen Druck zu mindern und das Vertrauen in die langfristige Stabilität Chinas zu erhöhen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Analyse und Maßnahmen wieder richtig sind und die in eine größere Strategie eingebetteten Reformen Erfolg haben. Xis Popularität wird weiter steigen.
Chinas Bedeutung als Motor der Weltwirtschaft wird logischerweise mit wachsendem wirtschaftlichem Erfolg weiter zunehmen. Diese einmalige wirtschaftspolitische Erfolgsgeschichte und der beispiellose starke Selbstkorrekturmechanismus werden irgendwann auch gebührend in der Fachliteratur gewürdigt werden. China ist eines der wenigen Länder, wenn nicht das einzige Land, das so schnell aus eigenen und fremden Fehlern lernt.
*Nils Bergemann ist studierter Journalist mit langer Erfahrung als Redakteur und Kommunikationsexperte bei Verlagen und anderen Unternehmen. Zuletzt arbeitete er fünf Jahre für die China Media Group. Weiterhin in Beijing lebend unterrichtet er seit 2023 Deutsch, Sprachwissenschaften und Wirtschaft an der University of International Business and Economics.
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