Schwanger
in Beijing
Von Katharina Schneider-Roos
Empfangen habe ich „es“ am 21. April 2003.
Warum ich das so genau weiß: Mein Mann flog am nächsten
Tag nach Hause. Das heißt, dieses Kind wird nicht nur
in Beijing geboren, sondern es wurde auch hier gezeugt.
Aus dem obigen Datum können Sie erkennen,
dass ich jetzt im 6. Monat bin. Laut westlicher Rechnung dauert
eine Schwangerschaft bekanntlich 9 Monate, nach chinesischer
10 Mondmonate, was mich anfangs etwas verwirrte. Eigentlich
spricht man im Westen aber auch von 40 Wochen, was ja nun wirklich
nicht 9 Monate ergibt. Doch das sollte nur der Anfang meiner
Verwirrungen sein.
Nach Bekanntgabe meiner Schwangerschaft bei
chinesischen und westlichen Freunden trafen gleich die ersten
Ratschläge ein. Großer Beliebtheit erfreute sich:
„Lass dir nicht zu viele Ratschläge geben!“, worauf in
der Regel eine Reihe eben dieser folgten, wie z. B.: „Geh nicht
in dieses Krankenhaus, sondern in jenes!“ Oder genau umgekehrt
von der nächsten Person: „Geh in jenes Krankenhaus und
nicht in dieses!“ Jede hatte Geschichten von Freundesfreunden
zu bieten, die die furchtbarsten Katastrophen erlebt hatten.
Chinesische Freunde tendierten mehr dazu, mir Ernährungs-
und Bewegungstipps zu geben. Das Essen sollte nicht zu scharf
sein und keine Meeresfrüchte und Ingwer enthalten. Wenn ich
dann zu scharfes Essen vermied, wurde das von den anderen Tischgästen
als Blödsinn abgetan. Ich sollte doch mehr Suppe trinken
(in China „trinkt“ man Suppe, man isst sie nicht), besonders
mit schwarzen Hühnern. Nun versuche ich, mich möglichst
ausgewogen zu ernähren. Wenigstens das finden alle richtig.
Einig sind sich Osten und Westen auch darin,
dass ein schwangerer Bauch zur allgemeinen Betastung freigegeben
ist. Ich hätte mir nie gedacht, dass mir meine Freunde
und auch Kellnerinnen im Restaurant einmal auf den Bauch tätscheln,
darüberstreichen oder ihn sonst berühren würden – eine unvergessliche
Erfahrung.
Aus all den Ratschlägen heraus erhielt
ich den Eindruck, dass man sich nach chinesischem Verständnis
während der Schwangerschaft am besten gar nicht bewegt
und beim Gehen vom Ehemann gestützt werden soll. Meinem Bewegungsdrang
komme ich trotzdem nach. Ich schwimme drei Mal die Woche – nach
westlicher Lehrmeinung die beste Aktivität, der man auch
bis zum Ende der Schwangerschaft nachgehen soll. Natürlich halte
ich Maß, und doch habe ich deswegen schon Kopfschütteln
geerntet. Vom Schwimmen, warnten mich meine chinesischen Freunde,
und vor allem vom „Wind“, den man dabei abbekommt, kann man
unergründliche Leiden davontragen, die sich aber erst im Alter
zeigen. Vor dem „Wind“ (in etwa: Durchzug, Kälte) muss
man sich bis zum „Yuezi“, dem ersten Monat nach der Geburt,
in Acht nehmen. „Zuo Yuezi“ würde man mit „Wochenbett“ übersetzen,
was aber nicht den vollen Bedeutungsgehalt wiedergibt. Im ersten
Monat nach der Geburt darf die chinesische Wöchnerin ihre
Wohnung nicht verlassen, sich nicht waschen und sich vor allem
keinem „Wind“ aussetzen. Meine persönliche Erklärung
ist, dass dieser Brauch seine Wurzeln in Zeiten und Orten hat,
in denen schwierige Lebensbedingungen herrschten. In den heutigen
Städten, wo es 24 Stunden Heizung und heißes Wasser
gibt, wird er sich mit der Zeit vielleicht auflockern. Ich denke,
dass sich westliche Frauen in den ersten Wochen nach der Geburt
auch nach Möglichkeit schonen, aber ein wenig frische Luft
bekommen Mutter und Kind schon ab.
Und nun zur scheinbar wichtigsten Frage für
chinesische Schwangere: Junge oder Mädchen? Zur Klärung
dieser Frage gibt es verschiedene Analysemethoden: War der Schwangeren
in den ersten drei Monaten unwohl, hat sie ungewollt Nahrung
von sich gegeben? Dann ist es ein Junge. Ich hatte all meine
Nahrung bei mir behalten, was auf ein Mädchen schließen
ließ. Hat die Schwangere vermehrt saure oder vermehrt
scharfe Nahrung zu sich genommen? Ist der Bauch spitz oder rund?
Mein Vater bot im Scherz eine österreichische Variante:
Wachsen vor dem Haus viele Walnüsse? Dann wird es ein Junge.
Wir verdarben das Spiel und ließen uns
das Geschlecht des Kindes auf dem Monitor des Ultraschallgeräts
zeigen, was chinesischen Eltern verboten ist, da in Gebieten,
die stark der Tradition verhaftet sind, Mädchen als minderwertiger
Nachwuchs gelten und in mehreren Fällen abgetrieben wurden.
Es war unverkennbar ein Junge. Die untersuchende Ärztin
hielt den Vater deswegen für besonders glücklich und überreichte
ihm ein Ultraschallbild mit dem für sein Geschlecht charakteristischen
Körperteil. Der Vater war eindeutig glücklich, aber darüber,
dass er sein Kind sah und es gesund zu sein schien, nicht weil
es seinem Geschlecht angehörte. Die Reaktionen der chinesischen
Freunde waren unterschiedlich. Die einen gratulierten zum „runden
Söhnchen“, im Sinn von „Glück gehabt!“. Die anderen, aufgeschlosseneren
machten uns beinahe Vorwürfe, da sie dachten, wir hätten
die Untersuchung nur wegen der frühestmöglichen Erkennung
des Geschlechts durchführen lassen. Wir waren nur froh, dass
sich nun die deutsche Namenssuche ein wenig eingeschränkt
hatte. Die chinesische Namenssuche überlassen wir ohnehin einem
chinesischen Arzt, der nach jahrhundertelang tradierten Methoden
den passendsten und glückbringendsten Namen ermitteln wird.
Er steht mir auch bei Fragen bei, die im westlichen Krankenhaus
nicht besprochen werden, wie z. B. die Balance meines Magen-Qis.
Seine Mutter war eine berühmte Dorfhebamme und ich freue mich
schon auf die praktischen Hinweise zur Pflege des Neugeborenen.
Was das angeht, verlasse ich mich auch auf meine Mutter, die
mir bei der Geburt und einen Monat danach zur Seite stehen wird.
Dies wiederum dürfte im Westen wie im Osten üblich sein.
Die Wahl des Krankenhauses fiel auf ein amerikanisches,
das immens teuer ist, dessen Kosten aber von meiner Versicherung
gedeckt werden. Zwei chinesische Krankenhäuser, die von
gleicher Qualität und möglicherweise sogar besser
ausgestattet sind, wären auch in Frage gekommen, doch wollte
ich in dieser sensiblen Situation nicht mit kulturellen Unterschieden
und sprachlichen Verwirrungen zu kämpfen haben. Gerüchten
zufolge (es soll auch Statistiken geben) ist außerdem
die Kaiserschnittrate in chinesischen Spitälern um einiges
höher als im Westen, und die Männer sind bei der Geburt
unerwünscht. Da mein Mann und ich dieses Erlebnis aber gemeinsam
bestehen wollen, kam es nicht in Frage, dass er in den wichtigsten
Minuten (oder eher Stunden) hinausgeschickt wird.
Nun hoffen wir, dass die nächsten Monate
auch so gut wie die ersten sechs verlaufen. Nach der Geburt
müssen wir uns wohl für eine Staatsbürgerschaft entscheiden
– mein Mann und ich haben zusammen drei, zur Wahl steht allenfalls,
aufgrund des Geburtsorts, auch die chinesische. Wir gehen nach
dem Motto vor „Je mehr, desto besser“.