Im
Gedenken an Gertrude Du-Wagner
Von Lu Jiaxian* (Österreich)
Während
der Film „Am anderen Ende der Brücke“ (engl. „Fanny’s Smile“)
in Kinos in Österreich und China gezeigt wurde, traf
die traurige Nachricht ein, dass Gertrude Du-Wagner, das
Vorbild für die Hauptrolle im Film, verschieden sei. Gertrude,
mit chinesischem Namen Hua Zhiping, verliebte sich auf den
ersten Blick in Du Chengrong, einen chinesischen Polizeioffizier,
der in Wien studierte, als sie ihn mit 16 auf einem Eisfeld
erblickte. 1935 verabschiedete sie sich von ihrer Familie
und ihrer Heimatstadt, bestieg einen Ozeandampfer, der Kurs
nach Fernost setzte, und begann ein gewöhnliches, aber
doch großartiges Leben. Sie verließ Wien als
junge Dame und kehrte erst über 50 Jahre später zurück
– da hatte sie schon silbernes Haar und die Mühsal des Lebens
erfahren. Die Zeiten hatten sich geändert und die Jahre
waren vergangen, allein ihre Liebe für ihren Gatten blieb
unverändert. Am 27. Februar 2003 ging ihr letzter Wunsch
in Erfüllung. Sie würde fortan im Dorf Hucang, Kreis Dongyang
in der Provinz Zhejiang, ihrer Heimat während der letzten
60 Jahre, für immer an der Seite ihres Ehemannes in Frieden
ruhen.
Die
österreichische Premiere von „Am anderen Ende der Brücke“
wurde auf den 27. Februar angesetzt. Vor der Aufführung
erfuhr ich von Dr. Gerd Kaminski, dem geschäftsführenden
Vizepräsidenten der Österreichisch-Chinesischen
Freundschaftsgesellschaft (ÖCFG), dass Gertrude schwer
krank war. Dann verließ sie uns still. Viele Leute
bedauerten sehr, dass sie keine Gelegenheit hatte, die österreichisch-chinesische
Gemeinschaftsproduktion zu sehen. Doch diejenigen, die sie
gut kannten, wussten um ihre Bescheidenheit, denn sie hatte
nie großes Interesse daran bekundet, zu einer öffentlichen
Figur zu werden, weder durch einen Film noch über andere
Medien.
Ich
traf Gertrude 1990. Dr. Kaminski hatte mir von einer älteren
Österreicherin namens Gertrude Wagner erzählt,
die vor mehr als 50 Jahren einen Chinesen geheiratet hatte,
seither gemeinsam mit ihm in einem Dorf in China lebte und
nicht einmal für einen Besuch nach Österreich zurückgekehrt
war. Ihr Bruder sagte zuerst, sie lebe in Wuhan. Die ÖCFG
stellte in Wuhan Nachforschungen über sie an, doch dort
gab es niemanden mit diesem Namen. Später legte ihr
Bruder eine Adresse vor, die zeigte, dass sie im Kreis Dongyang
in der Provinz Zhejiang wohnte. Auf Wunsch von Dr. Kaminski
rief ich meine Frau Gao Wenying an, die in Zhejiang auf
Urlaub war, und bat sie, nach Dongyang zu fahren und dort
nach Frau Wagner zu suchen. Sie ersuchte das Büro für Auswärtige
Angelegenheiten von Dongyang um Nachforschungen, die jedoch
ergebnislos blieben. Mit den wenigen Anhaltspunkten von
Dr. Kaminski fuhr meine Frau auf der Landstraße von
Dorf zu Dorf und fragte in jedem Haus in Hucang nach. Dies
ging zwei Tage so, bis sie Gertrudes zweite Tochter traf.
Diese führte sie zum Haus ihrer Mutter. Meine Frau hatte
mehrere Schachteln österreichischer Schokolade dabei,
bei deren Anblick die alte Dame zu Tränen gerührt war.
Sie habe keine österreichische Schokolade mehr gesehen,
seit sie 50 Jahre zuvor das Land verlassen habe, sagte sie.
Gao Wenying benachrichtigte unverzüglich Dr. Kaminski und
teilte ihm mit, dass sie Gertrude im Dorf Hucang gefunden
habe. Sie führe ein hartes Leben und ihr Mann leide an Krebs,
er würde wohl bald sterben, berichtete sie.
Im
April 1990 kamen Dr. Kaminski und Dr. Else Unterrieder,
damals Generalsekretärin der ÖCFG, nach Dongyang,
um Gertrude eine Bescheinigung ihrer österreichischen
Staatsbürgerschaft zu überreichen, die sie mit vielen Schwierigkeiten
hatten ausstellen lassen können. Als Dr. Kaminski Gertrudes
Haus erreichte, lag ihr Mann, Du Chengrong, im Sterben.
Er ergriff die Hand seines Gasts aus fernen Landen und sagte
wiederholt auf Deutsch: „Ich bin sehr glücklich, vielen
Dank!“ Die Bescheinigung war das letzte, aber auch das wertvollste
Geschenk, das die Österreicher dem alten Mann brachten.
Du Chengrong verschied am 28. April. Danach blieben wir
mit Gertrude in Kontakt. Die Wiederherstellung ihrer österreichischen
Staatsbürgerschaft brachte ihr einige Vorteile. Das Unterhaltsgeld,
das ihr der österreichische Staat jährlich auszahlte,
war für sie kein geringer Betrag. In der Zwischenzeit hatte
Chinas Reform- und Öffnungspolitik große Veränderungen
in den ländlichen Gebieten Zhejiangs herbeigeführt,
und der Lebensstandard verbesserte sich stetig. In ihren
letzten Jahren führte die alte Dame ein ziemlich behagliches
Leben. Sie schickte uns einige Fotos und berichtete glücklich,
dass sie eine neue Küche besitze und es nicht mehr nötig
habe, in den Hügeln Brennholz sammeln zu gehen.
Mit
Unterstützung der ÖCFG besuchte Gertrude auf Einladung
des Bürgermeisters von Wien, Helmut Zilk, die Stadt im Oktober
1990. Nach über 50 Jahren der Abwesenheit kehrte sie zum
ersten Mal in ihre Heimatstadt zurück und traf ihre Verwandten
und Jugendfreunde. Sie war sehr aufgeregt. Wenn wir uns
mit ihr im Dialekt von Dongyang unterhielten, fiel uns auf,
dass jedes Mal, wenn sie das Wort „wir“ benutzte, sie ihr
Zuhause in China meinte. Während ihres Aufenthalts
in Österreich vermisste sie ihre Familie, ihr Dorf
Hucang, ihre Enkelkinder und ihre Nachbarn so sehr, dass
sie nur nach viel Überzeugungsarbeit bereit war, drei
Monate in Wien zu verbringen.
1991
führte Anna Elisabeth Haselbach, damals Vizepräsidentin
des Österreichischen Nationalrats, eine Delegation
nach China. Auf Ersuchen der ÖCFG lud das Büro für
Auswärtige Angelegenheiten der Provinzregierung von
Zhejiang Gertrude nach Hangzhou ein, um am Empfang zu Ehren
der Besucherdelegation teilzunehmen. Ich traf sie danach
mehrere Male. Das Fernsehen von Zhejiang wollte in Zusammenarbeit
mit dem ORF einen Dokumentarfilm über Gertrude drehen, doch
sie wollte nicht am Fernsehen auftreten. An ihr gebe es
nichts, das einen Film wert sei, sie lebe ein gewöhnliches
Leben wie alle anderen, und viele Chinesen hätten deutlich
stärker unter der „Kulturrevolution“ gelitten als sie.
Es war der Überzeugungsarbeit von Dr. Kaminski zu verdanken,
dass sie schließlich zustimmte. 1995 kam Gertrude
zum zweiten Mal nach Wien, diesmal mit dem Fersehteam der
Fernsehstation Zhejiang. Die Dokumentation, für die Shen
Weiqin vom Zhejianger Fernsehen das Drehbuch schrieb und
Regie führte, wurde in China als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.
Mitglieder der Fernsehequipe schlossen tiefe Freundschaft
mit Gertrude. Shen Weiqin und der Kameramann Pan Liping
besuchten Gertrude an Feiertagen, und sie wiederum rief
sie an, wann immer sie Hilfe brauchte. Im September 1997
folgte Gertrude der dritten Einladung nach Wien, wo sie
an einer Zeremonie zur Veröffentlichung des Buches
„Verheiratet mit China“ von Dr. Kaminski teilnahm. Gertrude
wurde mit Blumen begrüßt, einer Medaille und einer
Ausstellung über ihr Leben. Der österreichische Bundespräsident
Dr. Thomas Klestil empfing sie und führte ein einstündiges,
herzliches Gespräch mit ihr.
Dass
sich chinesische Männer und europäische Frauen
ineinander verlieben und Ausländer nach China heiraten,
kommt nicht selten vor. Gertrude war so unauffällig,
dass sie für eine gewöhnliche Chinesin gehalten werden
konnte. Ihr weißes Haar, ihre hellen, durchdringenden
Augen und die Falten in ihrem Gesicht trugen die Spuren
der Zeit, bezeugten aber auch ihre mütterliche Liebe und
ihren starken Willen. In den über 60 Jahren in China machte
sie große gesellschaftliche Unruhen und viel Mühsal
durch. Doch nie habe ich ein Wort der Klage von ihr vernommen.
Viele andere europäische Frauen, die durch Heirat nach
China gekommen waren, hätten die Ungerechtigkeit und
die Beschwernis kaum ertragen können und wären
längst in ihre Heimatländer zurückgekehrt, um
ein angenehmes Leben zu führen. Gertrude liebte ihren Mann
und ihre Kinder und erfüllte ihre heiligen Pflichten als
Gattin und Mutter. Gemeinsam mit dem chinesischen Volk stand
sie diese unruhigen Zeiten und Jahre der Mühsal durch und
begrüßte das bessere Leben, das die Reformen und die
Öffnung herbeibrachten. Mit ihrem gewöhnlichen
Leben schrieb sie ein glänzendes Kapitel der österreichisch-chinesischen
Freundschaft, erwarb sich große Verdienste als Mutter
und errichtete ein immerwährendes Denkmal in den Herzen
des österreichischen und des chinesischen Volkes.
*Der Autor
ist Ehrenpräsident des Beratungskomitees der Überseechinesen
der ÖCFG.
Aus der
Zweimonatsschrift „Voice of Friendship“, Nr. 120, August
2003