Oktober 2003
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Gesellschaft

Im Gedenken an Gertrude Du-Wagner
Zerbrechliche Männer unter starkem Leistungsdruck
Schwanger in Beijing

Im Gedenken an Gertrude Du-Wagner

Von Lu Jiaxian* (Österreich)

Während der Film „Am anderen Ende der Brücke“ (engl. „Fanny’s Smile“) in Kinos in Österreich und China gezeigt wurde, traf die traurige Nachricht ein, dass Gertrude Du-Wagner, das Vorbild für die Hauptrolle im Film, verschieden sei. Gertrude, mit chinesischem Namen Hua Zhiping, verliebte sich auf den ersten Blick in Du Chengrong, einen chinesischen Polizeioffizier, der in Wien studierte, als sie ihn mit 16 auf einem Eisfeld erblickte. 1935 verabschiedete sie sich von ihrer Familie und ihrer Heimatstadt, bestieg einen Ozeandampfer, der Kurs nach Fernost setzte, und begann ein gewöhnliches, aber doch großartiges Leben. Sie verließ Wien als junge Dame und kehrte erst über 50 Jahre später zurück – da hatte sie schon silbernes Haar und die Mühsal des Lebens erfahren. Die Zeiten hatten sich geändert und die Jahre waren vergangen, allein ihre Liebe für ihren Gatten blieb unverändert. Am 27. Februar 2003 ging ihr letzter Wunsch in Erfüllung. Sie würde fortan im Dorf Hucang, Kreis Dongyang in der Provinz Zhejiang, ihrer Heimat während der letzten 60 Jahre, für immer an der Seite ihres Ehemannes in Frieden ruhen.

Die österreichische Premiere von „Am anderen Ende der Brücke“ wurde auf den 27. Februar angesetzt. Vor der Aufführung erfuhr ich von Dr. Gerd Kaminski, dem geschäftsführenden Vizepräsidenten der Österreichisch-Chinesischen Freundschaftsgesellschaft (ÖCFG), dass Gertrude schwer krank war. Dann verließ sie uns still. Viele Leute bedauerten sehr, dass sie keine Gelegenheit hatte, die österreichisch-chinesische Gemeinschaftsproduktion zu sehen. Doch diejenigen, die sie gut kannten, wussten um ihre Bescheidenheit, denn sie hatte nie großes Interesse daran bekundet, zu einer öffentlichen Figur zu werden, weder durch einen Film noch über andere Medien.

Ich traf Gertrude 1990. Dr. Kaminski hatte mir von einer älteren Österreicherin namens Gertrude Wagner erzählt, die vor mehr als 50 Jahren einen Chinesen geheiratet hatte, seither gemeinsam mit ihm in einem Dorf in China lebte und nicht einmal für einen Besuch nach Österreich zurückgekehrt war. Ihr Bruder sagte zuerst, sie lebe in Wuhan. Die ÖCFG stellte in Wuhan Nachforschungen über sie an, doch dort gab es niemanden mit diesem Namen. Später legte ihr Bruder eine Adresse vor, die zeigte, dass sie im Kreis Dongyang in der Provinz Zhejiang wohnte. Auf Wunsch von Dr. Kaminski rief ich meine Frau Gao Wenying an, die in Zhejiang auf Urlaub war, und bat sie, nach Dongyang zu fahren und dort nach Frau Wagner zu suchen. Sie ersuchte das Büro für Auswärtige Angelegenheiten von Dongyang um Nachforschungen, die jedoch ergebnislos blieben. Mit den wenigen Anhaltspunkten von Dr. Kaminski fuhr meine Frau auf der Landstraße von Dorf zu Dorf und fragte in jedem Haus in Hucang nach. Dies ging zwei Tage so, bis sie Gertrudes zweite Tochter traf. Diese führte sie zum Haus ihrer Mutter. Meine Frau hatte mehrere Schachteln österreichischer Schokolade dabei, bei deren Anblick die alte Dame zu Tränen gerührt war. Sie habe keine österreichische Schokolade mehr gesehen, seit sie 50 Jahre zuvor das Land verlassen habe, sagte sie. Gao Wenying benachrichtigte unverzüglich Dr. Kaminski und teilte ihm mit, dass sie Gertrude im Dorf Hucang gefunden habe. Sie führe ein hartes Leben und ihr Mann leide an Krebs, er würde wohl bald sterben, berichtete sie.

Im April 1990 kamen Dr. Kaminski und Dr. Else Unterrieder, damals Generalsekretärin der ÖCFG, nach Dongyang, um Gertrude eine Bescheinigung ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft zu überreichen, die sie mit vielen Schwierigkeiten hatten ausstellen lassen können. Als Dr. Kaminski Gertrudes Haus erreichte, lag ihr Mann, Du Chengrong, im Sterben. Er ergriff die Hand seines Gasts aus fernen Landen und sagte wiederholt auf Deutsch: „Ich bin sehr glücklich, vielen Dank!“ Die Bescheinigung war das letzte, aber auch das wertvollste Geschenk, das die Österreicher dem alten Mann brachten. Du Chengrong verschied am 28. April. Danach blieben wir mit Gertrude in Kontakt. Die Wiederherstellung ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft brachte ihr einige Vorteile. Das Unterhaltsgeld, das ihr der österreichische Staat jährlich auszahlte, war für sie kein geringer Betrag. In der Zwischenzeit hatte Chinas Reform- und Öffnungspolitik große Veränderungen in den ländlichen Gebieten Zhejiangs herbeigeführt, und der Lebensstandard verbesserte sich stetig. In ihren letzten Jahren führte die alte Dame ein ziemlich behagliches Leben. Sie schickte uns einige Fotos und berichtete glücklich, dass sie eine neue Küche besitze und es nicht mehr nötig habe, in den Hügeln Brennholz sammeln zu gehen.

Mit Unterstützung der ÖCFG besuchte Gertrude auf Einladung des Bürgermeisters von Wien, Helmut Zilk, die Stadt im Oktober 1990. Nach über 50 Jahren der Abwesenheit kehrte sie zum ersten Mal in ihre Heimatstadt zurück und traf ihre Verwandten und Jugendfreunde. Sie war sehr aufgeregt. Wenn wir uns mit ihr im Dialekt von Dongyang unterhielten, fiel uns auf, dass jedes Mal, wenn sie das Wort „wir“ benutzte, sie ihr Zuhause in China meinte. Während ihres Aufenthalts in Österreich vermisste sie ihre Familie, ihr Dorf Hucang, ihre Enkelkinder und ihre Nachbarn so sehr, dass sie nur nach viel Überzeugungsarbeit bereit war, drei Monate in Wien zu verbringen.

1991 führte Anna Elisabeth Haselbach, damals Vizepräsidentin des Österreichischen Nationalrats, eine Delegation nach China. Auf Ersuchen der ÖCFG lud das Büro für Auswärtige Angelegenheiten der Provinzregierung von Zhejiang Gertrude nach Hangzhou ein, um am Empfang zu Ehren der Besucherdelegation teilzunehmen. Ich traf sie danach mehrere Male. Das Fernsehen von Zhejiang wollte in Zusammenarbeit mit dem ORF einen Dokumentarfilm über Gertrude drehen, doch sie wollte nicht am Fernsehen auftreten. An ihr gebe es nichts, das einen Film wert sei, sie lebe ein gewöhnliches Leben wie alle anderen, und viele Chinesen hätten deutlich stärker unter der „Kulturrevolution“ gelitten als sie. Es war der Überzeugungsarbeit von Dr. Kaminski zu verdanken, dass sie schließlich zustimmte. 1995 kam Gertrude zum zweiten Mal nach Wien, diesmal mit dem Fersehteam der Fernsehstation Zhejiang. Die Dokumentation, für die Shen Weiqin vom Zhejianger Fernsehen das Drehbuch schrieb und Regie führte, wurde in China als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Mitglieder der Fernsehequipe schlossen tiefe Freundschaft mit Gertrude. Shen Weiqin und der Kameramann Pan Liping besuchten Gertrude an Feiertagen, und sie wiederum rief sie an, wann immer sie Hilfe brauchte. Im September 1997 folgte Gertrude der dritten Einladung nach Wien, wo sie an einer Zeremonie zur Veröffentlichung des Buches „Verheiratet mit China“ von Dr. Kaminski teilnahm. Gertrude wurde mit Blumen begrüßt, einer Medaille und einer Ausstellung über ihr Leben. Der österreichische Bundespräsident Dr. Thomas Klestil empfing sie und führte ein einstündiges, herzliches Gespräch mit ihr.

Dass sich chinesische Männer und europäische Frauen ineinander verlieben und Ausländer nach China heiraten, kommt nicht selten vor. Gertrude war so unauffällig, dass sie für eine gewöhnliche Chinesin gehalten werden konnte. Ihr weißes Haar, ihre hellen, durchdringenden Augen und die Falten in ihrem Gesicht trugen die Spuren der Zeit, bezeugten aber auch ihre mütterliche Liebe und ihren starken Willen. In den über 60 Jahren in China machte sie große gesellschaftliche Unruhen und viel Mühsal durch. Doch nie habe ich ein Wort der Klage von ihr vernommen. Viele andere europäische Frauen, die durch Heirat nach China gekommen waren, hätten die Ungerechtigkeit und die Beschwernis kaum ertragen können und wären längst in ihre Heimatländer zurückgekehrt, um ein angenehmes Leben zu führen. Gertrude liebte ihren Mann und ihre Kinder und erfüllte ihre heiligen Pflichten als Gattin und Mutter. Gemeinsam mit dem chinesischen Volk stand sie diese unruhigen Zeiten und Jahre der Mühsal durch und begrüßte das bessere Leben, das die Reformen und die Öffnung herbeibrachten. Mit ihrem gewöhnlichen Leben schrieb sie ein glänzendes Kapitel der österreichisch-chinesischen Freundschaft, erwarb sich große Verdienste als Mutter und errichtete ein immerwährendes Denkmal in den Herzen des österreichischen und des chinesischen Volkes.

*Der Autor ist Ehrenpräsident des Beratungskomitees der Überseechinesen der ÖCFG.

Aus der Zweimonatsschrift „Voice of Friendship“, Nr. 120, August 2003

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