Juli 2002
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Sonderberichte

„Gebt uns ein Tor!“

Von Olivier Roos

7,32 m auf 2,44 m, das sind gerade 17,86 m2. Auf diese kleine Fläche konzentrierten sich während zehn Tagen im Juni die Hoffnungen von 1,3 Milliarden Chinesen. Während drei mal 90 Minuten waren sie, oder zumindest diejenigen unter ihnen, die die Spiele der chinesischen Fußballnationalmannschaft an der WM live am Fernseher oder am Radio verfolgen konnten, bis in die letzte Faser gespannt gewesen, hatten auf Erlösung gewartet, bereit zum großen Jubelschrei. Doch dreimal blieb nach der Vorfreude, nach gebannter Erwartung, nach zunehmender Verzweiflung nur die Enttäuschung. Dabei war ihr Wunsch so bescheiden gewesen. Nichts mehr hatten sie verlangt, als dass das Prinzip des Spiels, „das Runde muss ins Eckige“, einmal für sie Wirklichkeit werde. Es hat nicht sollen sein. 0:9 lautete das Verdikt für China nach der Vorrunde.

Am 4. Juni, einem historischen Tag, fällt der Startschuss. Zum ersten Mal spielt China an einer Fußball-WM mit. Der chinesische Fußballverband hält die Ansprüche niedrig – zeigen, was man kann, lernen, soviel es geht – und die Fans wollen nur eines: „Gebt uns ein Tor!“ Doch die Beijinger Jugendzeitung fordert nichts weniger, als dass China zusammen mit Japan und Südkorea, die am selben Tag ihren Einstand geben, Ostasiens Stern aufgehen lasse, nachdem Saudi-Arabien mit dem 0:8 gegen Deutschland schon „den Ruf ganz Asiens ruiniert“ hat. Und so sind hier im Fremdsprachenverlag die Mittagsgespräche in der Kantine von einem Thema beherrscht: Costa Rica – China. Der eine oder die andere träumt insgeheim von einem Punkt in der ersten Partie. Immerhin sind die Mittelamerikaner auf dem Papier eindeutig schwächer als die anderen Gruppengegner Türkei und Brasilien.

14.30 im fünften Stock von China heute, man wird sehen. Echte Fußballfans und Neugierige haben sich versammelt. Einer, der weiß, was sich gehört, hat schon Bier kühl gestellt. Das Spiel beginnt verhalten. Costa Rica ist spielerisch im Vorteil, die chinesische Verteidigung gibt sich gelassen, bisweilen etwas gar lässig. Ab und zu gelingt den Chinesen ein schneller Vorstoß über die Außenpositionen, doch gefährlich wird es selten. Pausenstand: 0:0. Noch bleibt Hoffnung, noch darf weiter geträumt werden. Zweite Halbzeit, das zweite Bier. Sind nicht ganz kühl geworden, die Getränke, eine Bierfontäne wird mit den Worten quittiert: „Machst du schon den Champagner auf? Ist doch noch gar kein Tor gefallen!“ 61. Minute: Der erste Dämpfer für die chinesischen Erwartungen – Costa Rica geht in Führung. Vier Minuten später die kalte Dusche: 2:0. Ich vernehme spöttisches Gelächter. Wer höher fliegende Träume hatte, besinnt sich auf seine Rückzugsposition (ein Tor für China), die anderen haben es schon immer gewusst: China hat an dieser WM keine Chance.

In der zweiten Runde darf China gegen Brasilien antreten. Brasilien! Für manchen chinesischen Spieler dürfte dies das Traumlos gewesen sein, wenn man sieht, wie ihre Augen leuchten, als sie Ronaldo die Hand schütteln dürfen. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht und ist ob all der Ehrfurcht, die ihm entgegengebracht wird, etwas verdattert. Wir schauen uns das Spiel mit 3000 anderen auf dem Großbildschirm beim Arbeiterstadion an. So kann man zwischen zwei Spektakeln auswählen: dem Geschehen auf dem Rasen oder der Menge auf dem Platz. Bloß die bemitleidenswerten Bao’an, die Sicherheitsleute, müssen die Bühne bewachen und dem Fußballspiel den Rücken zukehren, eine harte Willensprüfung. Für die chinesische Mannschaft kann es gegen die Ballkünstler aus Südamerika nur darum gehen, eine gute Figur zu machen. Wenigstens besteht keine Gefahr, dass diese so verbissen daran arbeiten werden, ihren Gegner zu demütigen, wie es die Deutschen gegen Saudi-Arabien getan haben. Tatsächlich machen Ronaldo, Rivaldo & Co. den Eindruck, als ob sie im Spargang drei Punkte abholen wollen. Was ihnen auch gelingt. Zur Pause führen sie bereits 3:0, ohne uns mit berauschendem Fußball begeistert zu haben. Da machen die Chinesen schon mehr für das Spiel und halten ihre Anhänger bei Laune. Diese sorgen mit zunehmender Spiellänge selber für die richtige Stimmung. Musste in der ersten Halbzeit ein chinesischer Spieler in die Nähe des brasilianischen Strafraums vordringen, damit ein Raunen über den Platz ging, so wird in der zweiten Spielhälfte jeder Pass über die Mittellinie bejubelt. In der 61. Minute jedoch reißt es ganz China von den Stühlen und ein Aufschrei hallt durch die Nacht: Zhao Junzhe dribbelt sich durch die brasilianische Abwehr und zieht ab – aber der Ball trifft nur den Pfosten… So heißt es beim Schlusspfiff 0:4 statt 1:4. Schade. Ein Tor gegen Brasilien hätte man den Chinesen schon gegönnt, es wäre ihr „Golden Goal“ gewesen.

Das dritte Spiel, gegen die Türkei, ist für die chinesische Auswahl die letzte Gelegenheit, einen Ehrentreffer zu landen und ihre Fans für die emotionalen Strapazen der letzten Tage zu entschädigen. In der Beijinger Jugendzeitung wird ein Fan mit den Worten zitiert, ihm sei ein 1:10 lieber als ein 0:5. Hier im Haus ist die Zuschauerrunde schon kleiner geworden. Unentwegte, die noch immer gewagt haben, von einem Punkt zu träumen, werden bald hart in die Realität zurückgeholt. Nach nur neun Minuten liegt China bereits mit zwei Toren im Rückstand. Die chinesischen Spieler scheitern am letzten, entscheidenden Pass und kommen so kaum in Tornähe, zum Ärger ihrer Landsleute. So wird ihr Wunsch nach einem Tor nie in Erfüllung gehen. Der Kollege von der spanischen Abteilung, der sich mit etwas Verspätung zu uns gesellen will, kehrt auf der Stelle um, als er das Resultat erfährt. Dann, aus dem Nichts heraus, durchbricht ein Schrei die schwüle Mattigkeit des Versammlungsraums. Yang Chen knallt den Ball am wie angewurzelt dastehenden gegnerischen Torhüter vorbei in Richtung linke obere Ecke – doch abermals müssen 600 Millionen Fernsehzuschauer miterleben, wie sich ihre Hoffnungen mit einem metallenen „Klonk!“ am Pfosten zerschlagen. Während der türkische Schlussmann aufatmet, sinkt Yang auf die Knie und mit ihm eine ganze Nation. Zuerst hatten sie kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu. Gesenkten Hauptes verlassen die chinesischen Fußballer das Feld, nachdem sie kurz vor Ende der Partie den dritten Gegentreffer hinnehmen mussten. Wenig später können sich Korea und Japan für die Achtelfinals qualifizieren. Ostasiens Stern ist ohne China aufgegangen, das eine nur leicht bessere Bilanz aufweist als Saudi-Arabien. Die Chinesen müssen feststellen, dass im asiatischen Fußball die Grenze zwischen Spreu und Weizen durch das Gelbe Meer verläuft.

Zu Hause brauen sich nach dem letzten Auftritt an der Fußball-WM die ersten Schimpftiraden zusammen. In den virtuellen Schwarzen Brettern im Internet machen frustrierte Fans ihrer Enttäuschung darüber Luft, dass es die chinesische Mannschaft nicht fertigbrachte, ihren bescheidenen Wunsch zu erfüllen. „Es ist eine absolute Schande, dass die chinesische Mannschaft ohne einzigen Torerfolg nach Hause zurückkehrt“, beschwert sich jemand auf sina.com, einem der größten Internetportale des Landes. Die China Daily zeigt sich erleichtert darüber, dass sich der gekränkte Nationalstolz nur im virtuellen Raum bemerkbar macht. Anderswo würden Fußballfans nach dem Ausscheiden ihres Nationalteams Autos umwerfen und gar Passanten niederschlagen, und immerhin hätten noch im März dieses Jahres in Xi’an Anhänger der Heimmannschaft aus Wut über ihre Niederlage im Stadion Feuer gelegt und ein Polizeiauto angezündet. Doch das Ausscheiden Chinas aus der WM ruft hierzulande zumeist stille Resignation hervor. Einige erhoffen sich vom Resultat eine heilsame Wirkung für die Zukunft. Jetzt wisse die chinesische Fußballwelt wieder, wo sie im internationalen Vergleich wirklich stehe. Bis zum ersten Punkt an einer WM ist es noch ein langer Weg. Aber wenigstens ein Tor sollte doch das nächste Mal drinliegen.

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