März 2002
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Sonderberichte

Menschen, über die man spricht

 

Beijing hautnah

Busfahren für Einsteiger

Von Wolfgang Schaub

Da stehe ich nun an der Nong Ke Yuan-Haltestelle beim Freundschaftshotel. Ich bin nicht der einzige, der um 7 Uhr 45 zum Büro will. Geduldig warten Menschentrauben, denen aber nicht viel Geduld abverlangt wird, denn im Minutentakt rollen die Busse an: lange Ungetüme mit Faltenbälgen, Doppelstöcker und ganz moderne Busse. Mehr als 20 Linien halten hier, die Linienübersicht sieht so verwirrend aus wie der Schaltplan eines hochkomplexen Mikrochips.

Einen Zeitplan gibt es nicht, er wäre auch bei der ständigen Staugefahr in Beijing nicht einzuhalten. Ich warte selten länger als 5 Minuten auf eine meiner vier Linien, die zur China International Publishing Group (Dachgesellschaft von China heute) fahren.

Ist es eigentlich ärgerlich, wenn mehrere Busse derselben Linie kurz aufeinander folgen oder gar gleichzeitig ankommen? Ich bin manchmal einer dieser ungeduldigen Westler, die meinen, man „könne das alles doch ein bisschen besser organisieren“. Warum diese (typisch deutsche?) Ungeduld? In China kann ich noch viel lernen.

Beim Einsteigen in den Bus sollte man damit rechnen, dass es manchmal rauh zugeht. Die Hoffnung auf einen Sitzplatz kann in den Stoßzeiten getrost vergessen, es geht nicht selten darum, überhaupt mitzukommen.

In China gibt es noch die gute alte Einrichtung des Schaffners, meistens der Schaffnerin. Manche haben ihren festen Platz mit einem abgesperrten Gang bis zur nächsten Tür, um an alle Passagiere heranzukommen, manche hüpfen bei jeder Haltestelle von Tür zu Tür.

Die meisten Fahrgäste besitzen Monatskarten, ich halte jedesmal meinen 1 Yuan-Schein (0,14 Euro) für die 15-minütige Fahrt bereit. In der Anfangszeit hielt ich der Schaffnerin einen Zettel mit dem Fahrziel hin, was immer noch angeraten ist, wenn man nur gelegentlich mit dem Bus fährt und die Zielhaltestelle unbekannt ist. Das Personal ist nämlich – auch ohne Aufforderung – so nett, rechtzeitig vorher Bescheid zu sagen. In der Zwischenzeit kann ich mich in Chinesisch verständlich machen, eine Kurzvariante, die nur das Ziel nennt. Mehr Höflichkeit ist noch nicht drin. Ich bewundere immer wieder die Schaffnerinnen, die meinem Gestammel einen Sinn entlocken können.

Die Fahrt selbst ist ein Erlebnis in zweierlei Hinsicht:

Manche Fahrer bevorzugen den „binären Fahrstil“, der nur zwei Zustände kennt, nämlich Vollgas und Vollbremsung, und der von allen Fahrgästen orthopädische Ausgleichsbewegungen verlangt. Da bekommt man mal einen Ellbogen ins Kreuz, ein fremder Fuß steht auf dem eigenen oder man teilt unbeabsichtigt selbst aus. Entschuldigungen gibt es fast nie, eine Busfahrt würde auch aus einem ständigen Entschuldigungsgemurmel bestehen. Und weil Chinesen praktische Menschen sind, lässt man es ganz. Ich finde das ganz in Ordnung.

Der zweite Aspekt: Wer das Glück hat, neben dem Fahrer zu stehen, kann das „funktionierende Chaos“ auf Beijings Straßen bestaunen. Da wird von allen Verkehrsteilnehmern mit unbewegter Miene ausgeteilt und eingesteckt, als ob es in China keine Verkehrsregeln gäbe. Es grenzt an ein Wunder, dass nicht mehr Unfälle passieren. Mir stehen meine wenigen Haare zu Berge. Chinesische Busfahrer brauchen starke Nerven, Reaktionsschnelligkeit, ein sehr gutes Augenmaß und eine gehörige Portion Durchsetzungsvermögen.

Was machen die Fahrgäste, deren Fahrzeit meistens viel länger als meine dauert? Zeitunglesen, vor sich hin dösen, bei jeder Haltestelle einen neuen Stehplatz suchen, ins Handy brüllen, Englischvokabeln lernen oder verstohlen bis (unangenehm) offen einen Ausländer beobachten.

Was passiert, wenn doch mal ein Sitzplatz frei wird? Geht es nach Alter, Geschlecht oder gar bisheriger Stehdauer? Nein, einfacher und pragmatischer. Wer am nächsten steht, der hat das Vorrecht. Einzige Ausnahme sind – so meine Beobachtung – Pensionäre. Es scheint Chinesen zu verwirren, wenn ich mein „Vorrecht“ nicht wahrnehme. Es dauert dann eine ganze Weile, bis der Platz wieder besetzt ist. Mir dagegen ist es unangenehm, wenn die Schaffnerin mir einen Sitzplatz organisiert oder ein Fahrgast seinen Sitzplatz anbietet. Darf man annehmen? Muss man ablehnen? Höflichkeit ist eine komplizierte Angelegenheit, die manchmal in ein freundliches Handgemenge ausartet.

Im Sommer ist ein Bus die billigste Sauna der Welt, im Winter halten die Schaukelbewegungen warm. Man kann es aber auch komfortabler haben. Es gibt Busse, die zu allen Jahreszeiten klimatisiert sind, wegen des höheren Fahrpreises auch häufig freie Sitzplätze bieten können und manchmal sogar Fernsehen (mit zahlreichen Werbeunterbrechungen).

Eindrucksvoll anders ist die Reaktion der Chinesen auf unvorhergesehenes: Ein Unfall, das Versagen des Motors. Ohne Murren steigt man aus, nimmt den nächsten Bus oder wartet geduldig auf Ersatz, der per Handy herbeigerufen wird. Beijinger verhalten sich da – zumindest äußerlich – pragmatisch: Westler machen ihren Gefühlen Luft. Das hilft aber dem defekten Motor nicht. Vom Osten lernen, gelassener werden.

Die nächste Haltestelle ist Gan Jia Kou. Jetzt ist es wichtig, wieder Richtung Tür zu kommen, von der ich mich Haltestelle für Haltestelle entfernt habe. Da mir das Drängeln nicht besonders liegt und mir unklar ist, wer mit mir aussteigen will oder einfach nicht weiter in den Bus hineingekommen ist – gestenreiche Versuche, dies herauszufinden, habe ich aufgegeben -, habe ich mir angewöhnt, auf Bewegungen meiner Mitreisenden Richtung Tür zu achten und mich anzuschließen. Das funktioniert und verhindert meine Panik, nicht rechtzeitig den Ausgang zu erreichen.

„Xia yi zhan gan jia kou dao le“. Eigentlich müsste ich jetzt nochmal meine Fahrkarte vorweisen. Doch ein Ausländer in einem öffentlichen Bus, daran erinnert sich jede Schaffnerin. Ein letztes Gedrängel, weil sich die Tür nicht ganz öffnet. Und heute Abend das gleiche nochmal. Wie langweilig ist doch da die Straßenbahnfahrt in meiner Heimatstadt.            

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