Fortsetzungsroman:
Die Mordwaffe war ein Insekt
Acht
Kriminalstorys aus dem Alten China
Von Hu Ben
Einführung
Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Kriminalstorys
aus dem Alten China
Geschichten
über Verbrechen und ihre Aufklärung kursierten in China schon
vor tausend Jahren, also zu der Zeit, als Richter Bao geboren
wurde. So wird auch der junge Bao Zheng, wie deer zu Berühmtheit
gelangte Streiter für Recht und Gerechtigkeit hieß, in seiner
Heimatstadt Hefei den Geschichteneerzählern gelauscht haben, die
zu Tempelmärkten und anderen Volksfesten gehörten wie Zauberer
und Akrobaten.
Neben den mündlich überlieferten Kriminalstorys,
in deren Mittelpunkt stets ein Meisterdetektiv stand, gab es auch
Theateraufführungen über verwickelte Fälle und ihre Auflösung.
Erst später nahmen sich chinesische Romanschriftsteller dieses
unerschöpflichen Themenbereichs an. Um 1600 erschienen längere
Detektivromane, und lange bevor ein Edgar Allan Poe in seinen
Short Storys makabre Ereignisse schilderte und Sir Conan Doyle
seinen Sherlock Holmes erfand, stand die Kriminalliteratur in
China bereits in hoher Blüte.
Allerdings waren die chinesischen Ansprüche
an eine Kriminalgeschichte sehr verschieden von jenen westlicher
Leser. Nicht die Frage nach dem Täter, die uns in westlichen Krimis
oft bis zur letzten Seite in Atem hält, ist das Entscheidende,
sondern die Methode seiner Überführung. Dem Leser ist der Täter
oft schon bekannt, bevor er die Geschichte überhaupt zu lesen
beginnt, denn er steht bereits in der Überschrift – so in den
beiden hier veröffentlichten Erzählungen „Wie Bao Gong mit einem
üblen Fürsten fertig wurde“ und „Die habgierige Tante und die
Auferstehung des Anzhu“.
Eine weitere chinesische Besonderheit ist das
Zugeständnis der Krimiautoren an die Vorliebe ihrer Landsleute
für alles Übernatürliche. So tauchen in den Geschichten mitunter
Geister auf (in der Erzählung „Das Fächergehänge aus Koralle“
erscheint der Geist eines kurz vorher ermordeten und setzt sich
im Wirtshaus an den Tisch seines Mörders), oder Tiere und selbst
Küchengeräte treten vor Gericht auf (in der Geschichte „Der Mord
an dem Seidenhändler Liu“ ist ein Tontopf der Ankläger).
Richter Bao ist zwar eine historische Figur
(er lebte von 999 bis 1062 während der Nördlichen Song-Dynastie),
doch um sein Wirken kreisen so viele Geschichten, dass heute nicht
immer eindeutig festzustellen ist, welche sich tatsächlich zugetragen
haben und welche erfunden wurden. Das Leben von Bao Gong (die
Bezeichnung „Gong“ steht für „verdienstvoll“ und „aufrichtig“
und ist eine Art Ehrentitel) ist zu einer Legende geworden, und
er selbst hat längst seinen Platz inmitten der Helden chinesischer
Volkssagen eingenommen.
Die meisten der Geschichten über Richter Bao
dürften indes auf Wahrheit beruhen. Sie mögen im Laufe der Zeit
ausgeschmückt worden sein, wurden teils auch fürs Theateer bearbeitet,
doch Historiker finden in ihnen fast immer ausreichend Hinweise
auf tatsächliche Vorkommnisse, so dass an einem wahren Kern oft
nicht zu zweifeln ist. Die Hinrichtung des Fürsten Peng Kun, Schwiegersohn
des Kaisers Ren Zong, ist zum Beispiel ebenso verbürgt wie es
die Intrigen am Kaiserhof sind, die hier unter dem Titel „Wie
der Kronprinz durch eine Katze ersetzt wurde“ geschildert werden.
Es gibt aber auch Geschichten um Bao Gong, die
man mit Sicherheit ins Reich der Sagen und Märchen verweisen kann.
Dazu gehört die bereits erwähnte Erzählung, in der ein sprechender
Topf eine Hauptrolle spielt. Sie wurde in die vorliegende Sammlung
aufgenommen gleichsam als Repräsentantin jener Kategorie von Geschichten,
bei denen die Phantasie der Autoren weit ausgeholt und entsprechend
Phantastisches zuwege gebracht hat.
Von den großen Strafverfolgern und Richtern
der Vergangenheit, die in China noch heute weithin bekannt sind
und fast wie Heilige verehrt werden, ist Bao Gong fraglos der
berühmteste. Westlichen Lesern hingegen mag die Person des Richters
Di mehr vertraut sein, und zwar durch das Buch „Merkwürdige Kriminalfälle
des Richters Di“, das der Niederländer Robert van Gulik aus dem
Chinesischen übersetzt hat. Diesem Schatz chinesischer Kriminalstorys
ließ van Gulik dann eine ganze Reihe von eigenen Geschichten um
die Person des Richters folgen. Wie Bao Gong, so ist auch Richter
Di keine erfundene Figur. Er lebte von 630 bis 700, also während
der Tang-Dynastie, und war zuletzt Staatsminister.
Von Bao Gong weiß man, dass er einer wohlhabenden
Familie in der Stadt Hefei, Provinz Anhui, entstammte. Er genoß
eine gute Ausbildung und erlangte im Alter von ca. 20 Jahren,
indem er das entsprechende kaiserliche Staatsexamen bestand, den
akademischen Titel „Jinshi“, Voraussetzung für eine gehobene Beamtenlaufbahn.
Zum Verständnis der Rolle, die Richter im Alten
China spielten, sei hier noch auf die den westlichen Vorstellungen
völlig widersprechende Gepflogenheit verwiesen, dass diese Beamten
gleichsam den ganzen Justizapparat in einer Person verkörperten.
Sie betätigten sich als Detektive, sie waren die Ankläger, sie
allein hatten zugleich über entlastende oder strafmildernde Umstände
nachzudenken, denn es gab keine Verteidiger, und sie allein fällten
die Urteile, denn es gab selbst bei der Aburteilung von Kapitalverbrechen
keine Geschworenen oder dergleichen.
Ein harter Job also, und gefährlich obendrein.
Gefährlich nicht nur deshalb, weil einflussreiche Gesetzesbrecher
wie der hier bereits erwähnte Fürst Peng Kun schon mal Killer
auf einen verhassten Richter ansetzten, sondern auch, weil für
Verfehlungen im Amt schwerste Strafen drohten. Noch während der
Qing-Dynastie (1644-1911) galt: „Wenn jemand fälschlich eines
Kapitalverbrechens bezichtigt wird und auf Grund einer solchen
Anklage verurteilt und hingerichtet wird, soll der Ankläger ebenfalls
hingerichtet werden, und zwar auf dieselbe Weise wie die unschuldige
Person.“
Auch wenn ein Richter seine Kompetenzen überschritt,
musste er mit ernsten Folgen rechnen, so wie Bao Gong in der Geschichte
„Der Mord an dem Seidenhändler Liu“. Obwohl als Kreisrichter nicht
dazu befugt, ließ er den Angeklagten foltern, und als dieser dabei
sein Leben aushauchte, dürfte wohl mancher der Prozessbeteiligten
auf die weitere Karriere des Richters nichts mehr gegeben haben.
Amtsenthebung, Berufsverbot und gar Verbannung waren Disziplinarstrafen,
die in solchen Fällen verhängt wurden. Bao Gong kam aufgrund seiner
damals bereits großen Verdienste mit einer vorübergehenden Suspendierung
noch glimpflich davon.
Zum unverzichtbaren Personal chinesischer Kriminalgeschichten
gehören drei oder vier Mitarbeiter des Richters, die stets als
furchtlose Männer und erfahren in den Kampfkünsten Boxen und Ringen
beschrieben werden. Meistens handelt es sich bei diesen Gehilfen
um vormalige „Brüder der grünen Wälder“, wie man im Chinesischen
Straßenräuber a la Robin Hood bezeichnete. Bao Gong hatte vier
solcher „Helden“, auf deren unverbrüchliche Treue er bauen konnte.
Wie in der Geschichte „Ein verwickelter Fall und drei Leichen“
geschildert, wurde so ein Gehilfe gelegentlich auch aus eigenem
Antrieb aktiv und trug damit zur Lösung eines Falles bei. Meistens
jedoch handelten sie nur auf Anweisung ihres Herrn. Ihre Aufgabe
war es vor allem, Verdächtige aufzuspüren, Verhaftungen vorzunehmen
und dem Richter als eine Art Leibgarde zu dienen. Seltener wurden
sie auch damit betraut, insgeheim Zeugen auszuhorchen und vorsichtig
Erkundigungen einzuzielen. Weil ihre Qualitäten mehr körperlicher
als geistiger Natur waren, verließen sich die Richter da mehr
auf ihren eigenen Spürsinn.
Zu den Arbeitsmethoden der Richter im Alten
China gehörte es, sich im Umfeld eines Tatorts oder eines vermeintlichen
Verbrechens selber umzuhören, und zwar inkognito. Beliebt, weil
erfolgreich, waren Verkleidungen als Arzt. Bao Gong hat sich dieses
Tricks bedient, wie wir in der Geschichte „Die Mordwaffe war ein
Insekt“ lesen können, und auch bei Richter Di finden sich ähnlich
listige Praktiken.
Eine der Besonderheiten des Strafgesetzbuches
im kaiserlichen China war, dass ein Täter erst verurteilt werden
durfte, wenn er sich schuldig bekannt hatte. Selbst eine lückenlose
Beweiskette reichte für eine Verurteilung nicht aus. Nur so ist
zu verstehen, dass Bao Gong in der Geschichte „Wie der Gott Samgharama
als Zeuge vor Gericht erschien“ dem eindeutig des Mordes an einem
Mönch überführten Zimmermann nicht sogleich die Todesstrafe verkündete,
sondern bei Androhung der Folter erst ein Geständnis von ihm verlangte.
Die Foltermethoden waren im Volk bekannt, denn
Gerichtsverhandlungen im Alten China waren stets öffentlich. Überführte
Verbrecher wussten also, was sie erwartete, wenn sie nicht gestanden:
erst unsägliche Schmerzen als Folge der verschiedenen Arten schwerer
Folterung, und dann letztendlich doch die Verurteilung, denn die
„Großfolter“, wie man die grausame und sich steigernde Peinigung
nannte, presste auch aus den hartnäckigsten Leugnern schließlich
ein Geständnis heraus.
Willkürliche Folter war jedoch strengstens untersagt.
Ein Richter hatte nur dann das Recht, jemanden unter die Folter
nehmen zu lassen, wenn ihm genügend Beweise für dessen Schuld
vorlagen, der Betreffende aber einfach nicht gestehen wollte.
Für Fälle der Folterung von Angeklagten, deren Unschuld sich hinterher
herausstellte, sah das Gesetz drastische Strafen vor. Starb ein
solcher Angeklagter unter der „Großfolter“, so stand darauf die
Todesstrafe für den Richter und alle anderen Beteiligten.
Bevor der Leser sich unseren Geschichten widmet,
sollte er sich vielleicht noch ein wenig mit der Örtlichkeit eines
früheren chinesischen Gerichtshofs und dem Ablauf einer Gerichtsverhandlung
vertraut machen. Dem oben erwähnten Robert van Gulik verdanken
wir diesbezüglich anschauliche Beschreibungen, denen wir hier
einige Details entnehmen.
Ein Gerichtshof im Alten China war Teil des
Gebäudekomplexes der jeweiligen Bezirks- bzw. Kreisverwaltung.
Eine hohe Mauer umgab eine Vielzahl einstöckiger Gebäude, und
vor einem dieser Gebäude, der Gerichtshalle, hing eine große Trommel.
Wollte ein Bürger eine Anklage oder Beschwerde vorbringen, so
schlug er diese Trommel an. Die Halle selbst war bis auf einen
Tisch, bedeckt mit rotem Tuch, und einen Sessel, die beide auf
einen Podium standen, ohne Mobiliar. Gerichtsdiener und Amtsboten
sowie die Zeugen mussten stehen, die Angeklagten hatten vor dem
Richter zu knien.
Vor Beginn einer Verhandlung stellten sich die
Gerichtsdiener beiderseits des Podiums auf, Bambusstöcke und Peitschen
sowie Hand- und Gelenkschrauben in Händen haltend. Sobald der
Richter, angetan mit einer dunkelgrünen Robe und schwarzen Kappe,
im Saal erschien, hatte absolute Ruhe zu herrschen.
Angeklagte mussten den ganzen Prozeß über, auch
wenn die Verhandlung viele Stunden dauerte, in kniender Haltung
verbringen. Für ungebührliches Benehmen gab es Peitschenhiebe
oder Stockschläge. Auf dem Richtertisch stand ein Gefäß mit Bambusstäben,
auf denen Zahlen vermerkt waren. Hielt der Richter es für angezeigt,
einen Angeklagten züchtigen zu lassen, so warf er den Gerichtsdienern
einige der Bambusstäbe zu. Die Bestrafung erfolgte auf der Stelle,
und während der Stockschläge auf das Gesäß des Angeklagten wurde
anhand der Bambusstäbe mitgezählt, bis die angeordnete Zahl von
Schlägen erreicht war.
Doch nicht nur Angeklagte, auch Zeugen und selbst
Kläger konnten die Bekanntschaft mit der Schlagkraft der Gerichtsdiener
machen. Wer bei einer Lüge ertappt wurde oder den nötigen Respekt
vermissen ließ, fand sich schnell in der bejammernswerten Lage,
ausgepeitscht oder mit Stöcken und Lederklatschen belehrt zu werden,
dass man dem Vertreter der Justiz nicht ungestraft die Ehrerbietung
verweigert.
Richter Bao wie auch Richter Di fällten ihre
Urteile nach den Bestimmungen eines Strafgesetzbuches aus dem
Jahr 650, das, im wesentlichen unverändert, noch während der letzten
chinesischen Dynastie Gültigkeit hatte. Bei der Anwendung der
Gesetze hatten Richter im Alten China jedoch einen großen Ermessensspielraum,
der größer war als der ihrer europäischen Kollegen zur gleichen
Zeit.
Die Justiz im kaiserlichen China war im Westen
ein häufig und sehr kontrovers diskutiertes Thema. Grausam und
barbarisch nannten die chinesischen Gesetze die einen, während
sie anderen als rühmliche Beispiele hoher Gesetzgebungskunst galten.
Die meisten, die da urteilten, wussten zu wenig. Interessant ist
hingegen, was der Strafrechtsexperte Sir Chaloner Alabaster in
seinen „Anmerkungen und Erläuterungen zum chinesischen Strafgesetz“
(London 1899) geschrieben hat: „Obwohl die Zulassung der Folter
beim Verhör ein Schandfleck ist, der nicht übersehen werden darf,
und obwohl der Strafvollzug in Fällen von Landesverrat und Elternmord
ungeheuerlich ist und die Bestrafung durch den Holzkragen und
den beweglichen Pranger unentschuldbar grausam, muß das chinesische
Strafgesetz im Hinblick auf die Verfahrensweise gerechter und
befriedigender anmuten als unser eigenes System.“
Tatsache ist, dass ein Missbrauch der Machtfülle,
die Richter im Alten China hatten, durch ein ausgeklügeltes Kontrollsystem
wirksam eingeschränkt wurde: Jeder Kreis- und jeder Bezirksrichter
hatte jede seiner Entscheidungen seinen Vorgesetzten zu melden
und zu begründen, und weil jeder Beamte für Fehler seiner Untergebenen
gerade stehen musste, wurde alles genauestens auf seine Richtigkeit
hin überprüft. Gab es Unstimmigkeiten oder auch nur Zweifel, musste
das Verfahren neu aufgerollt werden. Eine im internationalen Vergleich
fortschrittliche Praxis war es auch, dass jeder Angeklagte und
jeder Kläger das Recht hatte, ein Urteil anzufechten und sich
an die nächsthöhere Instanz zu werden. Bis hin zum Kaiser.
Atze Schmidt
(Herausgegeben vom Verlag für fremdsprachige
Literatur)