Wenn
man auf Leibniz gehört hätte…
Ein
interessanter Denkansatz: Was wäre möglicherweise anders
gelaufen, wenn Europa und China, sagen wir vor 300 Jahren, zu
einem intensiven Kulturaustausch gefunden hätten? Kein Geringerer
als Gottfried Wilhelm Leibniz hatte genau dies empfohlen, und
zwar in der von ihm 1697 herausgegebenen Schriftensammlung "Novissima
Sinica".
Europa
und China, so Leibniz, müßten voneinander lernen, einander
ergänzen. "Durch eine einzigartige Entscheidung des
Schicksals", schrieb er, sei es dazu gekommen, "daß
die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation
der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußeren
Enden unseres Kontinents, in Europa und in China, das gleichsam
wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert."
Während Europa in den theoretischen Disziplinen, in der Logik,
Metaphysik, Mathematik, Astronomie und Kriegskunst China überlegen
sei, habe China "auf dem Gebiet der praktischen Philosophie",
zumal "in den Lehren der Ethik und Politik", Vorzüge
aufzuweisen. Die Chinesen seien "zu besseren Regelungen gekommen
und haben in ihrer riesigen Menschengemeinschaft beinahe mehr
erreicht als bei uns die Gründer religiöser Orden in ihrem
engen Kreis."
Leibniz
hatte viele Jahre eine rege Korrespondenz mit in China missionierenden
und wissenschaftlich tätigen Jesuiten geführt, begierig,
alles über dieses ferne Land zu erfahren, und sich so ein Chinabild
erarbeitet, das bei weitem das umfassendste jener Zeit in Europa
war. Seine Idee, umgekehrt auch Missionare aus China "zu
uns" zu schicken, hatte in einer Zeit, in der Europa in einem
Missionierungs- und Kolonisierungseifer sondergleichen seinen
Geist und Ungeist über die Welt verbreitete, allerdings keine
Chance, von den staatstragenden Kreisen auch nur erwogen zu werden.
Übrigens
hat Schopenhauer - rund 150 Jahre nach Leibniz - den Gedanken
nochmals aufgegriffen:
"Ich
denke, daß, wenn der Kaiser von China oder der König
von Siam oder andere asiatische Monarchen europäischen Mächten
die Erlaubnis erteilen, Missionare in ihre Länder zu entsenden,
sie ganz und gar befugt wären, es nur unter der Bedingung
zu tun, daß sie ebenso viele buddhistische Priester mit
gleichen Rechten in das betreffende europäische Land schicken
dürfen… Da würden wir einen interessanten Wettstreit vor Augen
haben und sehen, wer am meisten ausrichtet."
Verpaßte
Chancen der Geschichte? Ganz ohne Zweifel. Denn wie die Jesuiten
in China nicht nur ihren christlichen Gott und christliche Werte
einzuführen versuchten, sondern als Kuluturmissionare auch Wissenschaft
und Technik ins Land brachten, so hätten fraglos auch chinesische
Missionare sich nicht mit der Erklärung der buddhistischen
Lehre begnügt. Ein Quantum fernöstliche Weisheit, von der
Leibniz und andere westliche Philosophen so angetan waren, hätte
Europa jedenfalls gut getan und der Welt vielleicht manch bittere
Erfahrung erspart.
Darüber
und über vieles mehr ist Aufschlußreiches nachzulesen in
Band 33 der "Studia Leibnitiana Supplementa". Das Buch
enthält zwei Dutzend Abhandlungen von Leibniz-Experten aus
mehreren Ländern zum Thema "Leibniz und China".
Wenchao
Li / Hans Poser (Hrsg.): "Das Neueste über China - C. W.
Leibnizens Novissima Sinica von 1697", Franz Steiner Verlag,
390 Seiten, DM 128.-
Atze Schmidt