Veränderung
des Wohnviertels „Goldfischteich“ in Beijing
Von Zhang
Xiwen


Früher bereitete die Regensaison Zhao Yunshu
die größte Sorge. Da meldeten sich jeden Tag über
zehn Leute, die sie wegen verstopfter Abwasserleitungen, undichten
Stellen im Dach oder Stromausfall um Hilfe baten. Ihre Aufgabe
war nun, mit dem Fahrrad schnell zur Hausverwaltung zu fahren
und die Reparatur zu organisiseren. Da arbeitete sie wie die
Feuerwehr.
Aber während der vergangenen Regensaison
kehrte bei Frau Zhao Ruhe ein. Im Büro des Nachbarschaftskomitees
des Wohnviertels „Goldfischteich“ trank sie in Ruhe ihren Tee,
und das Telefon klingelte nur selten.
Die
Wohnung von Frau Zhao liegt im Wohnviertel „Goldfischteich“
unweit des Nordtors des Himmelstempels. Früher standen hier
mehrere Reihen alter grauer Wohnhäuser. Ihre vierköpfige
Familie – sie und ihr Mann, der Sohn und die Schwiegermutter
– lebte 30 Jahre lang in einer nur 14 m2 großen
Wohnung. Damals hieß dieses Wohnviertel „Drachenschnauzhaargraben“.
Als ein wichtiger Teil des städtischen
Aufbaus von Beijing wurden neulich die alten Wohnhäuser
in diesem Wohnviertel abgerissen und durch neue Wohngebäude
ersetzt. Das Wohnviertel wurde auch auf den schön klingenden,
bereits in der Ming-Dynastie verwendeten Namen „Goldfischteich“
umbenannt. Der Prozess der Modernisierung der Stadt Beijing
mit dem Abriss alter Häuser verändert das Leben vieler
Einwohner. Durch das Schicksal von Frau Zhao, einer älteren
Beijingerin, gewinnt man einen Einblick in die wirtschaftliche
und gesellschaftliche Veränderung bei den einfachen Einwohnern.
Zhao Yunshus Geschichte beginnt in den 50er
Jahren. Sie wurde in einem Vorort von Beijing geboren, der damals
noch nicht zum Stadtgebiet zählte. Die auf dem Land lebenden
Dorfbewohner beneideten die Städter, die ein festes Monatseinkommen
hatten. Zhao Yunshu war damals ein Bauernmädchen mit einem
Grundschulabschluss und einer Portion Ehrgeiz. Sie wollte einen
Städter heiraten, so wie sich manche chinesische Mädchen
vor einigen Jahren um eine Ehe mit einem Ausländer bemühten.
Ihr Wunsch ging in Erfüllung und sie fand einen Mann, der als
Elektriker in einer staatlichen Fabrik arbeitete und in einer
von der Arbeitseinheit zugeteilten Wohnung lebte. Sie war einstöckig,
aus ungebrannten Ziegeln gebaut und befand sich im Wohnviertel
„Drachenschnauzhaargraben“. Diese Ehe war damals aus Sicht von
Zhao Yunshus Freundinnen sehr beneidenswert.
Als Zhao Yunshu zum ersten Mal ins Haus trat,
fiel es ihr schwer, sich mit den Verhältnissen anzufreunden.
Das Wohnviertel „Drachenschnauzhaargraben“ war vor der Befreiung
1949 ein Slumgebiet. Die Häuser waren niedrig und aus Lehm
gebaut. Ihre nur 10 m2 großen Wohnzimmer hatten
nur ein Fenster. Selbst bei sonnigem Wetter war es darin dunkel.
Besonders schlimm war es bei Regen. Vom Dach tropfte es, und
aus der Abwasserleitung strömte eine stinkende Brühe. Viele
Gegenstände in der Wohnung schwammen auf dem trüben Wasser.
Selbst ihr Wohnhaus auf dem Land war viel besser als ihre städtische
Wohnung. Im Gespräch mit ihren Verwandten und Nachbarn
vermied sie es immer, ihre Wohnverhältnisse zu erwähnen.
Sie sagt, sie fürchtete, ausgelacht und geringgeschätzt
zu werden.
In den 60er Jahren wurden die alten, aus Lehm
gebauten Häuser abgerissen. Sie wurden mit zehn Wohnblöcken
ersetzt, in denen für vier Familien ein Waschraum und ein Bad
zur Verfügung standen. Frau Zhao freute sich damals natürlich
über ihre neue Wohnung, die allerdings nur 14 m2
groß war. Diese Wohnung war bald voll mit Möbeln
und Gebrauchsgegenständen. Wie andere Bewohner auch, stellte
sie ihren Kochherd in den öffentlichen Gang. Nachdem ihr
Sohn geboren wurde, wurde das Raumproblem ernster. Dazu sagt
sie: „Wir haben uns in den darauf folgenden 30 Jahren kein Möbel
und kein elektrisches Gerät gekauft.“ Ihr Sohn benutzte
sein Bett als Schreibtisch, bis er die obere Mittelschule absolvierte.
Im Jahr 1978 wurde unter der Leitung von Deng
Xiaoping eine tiefgreifende Reform der chinesischen Wirtschaft
eingeleitet. In den mehr als 20 Jahren, die seither vergangen
sind, haben sich über 200 Millionen Chinesen von der Armut verabschiedet.
Obwohl manche Leute von diesem wirtschaftlichen Wandel profitiert
haben, gab es auch Leute, die durch Personalabbau in maroden
staatlichen Betrieben ihre Arbeit verloren. Solche Leute gerieten
dann auch in wirtschaftliche Schwierigkeiten.
Zhao Yunshu arbeitete früher in einer staatlichen
Sockenfabrik, die jedoch von einem kleineren, flexibleren Gemeindeunternehmen
aus dem Markt gedrängt wurde. Zhao Yunshu verlor dadurch
ihre Arbeitsstelle. Sie nahm die Arbeit als Putzfrau auf und
brachte es damit auf 200 Yuan im Monat, das war mehr als ihr
Lohn in der Sockenfabrik. Obwohl sie zu dieser Zeit mehr Geld
brauchte, entschied sie sich zwei Monate später dennoch
für eine Stellung im Nachbarschaftskomitee, für die sie monatlich
nur 50 Yuan bekam.
Gleichzeitig vergrößerte sich in
diesen Jahren der finanzielle Abstand zwischen den Familien.
Manche Familien kauften sich einen Kühlschrank, einen Fernseher,
eine Waschmaschine, ein Fahrrad, und so wurde immer mehr öffentlicher
Raum besetzt. Die veralteten Stromleitungen waren der Belastung
nicht mehr gewachsen und es traten oft Pannen auf, auch die
Wasserleitung war verrostet. Da die Abwasserleitung sehr oft
verstopfte, schulte jeder Haushalt ein Familienmitglied zum
Klempner. Durch Lecks in der Wasserleitung ging viel Wasser
verloren. Einmal belief sich Frau Zhaos Wasserrechnung auf 100
Yuan – fünfmal soviel wie für einen normalen Haushalt. Wegen
der schlechten Wohnbedingungen gab es häufig Streitigkeiten
zwischen den Nachbarn.
Mitte der 90er Jahre fand Zhao Yunshus Ehemann
wieder eine Anstellung und verdiente mit seiner Rente zusammen
monatlich über 2000 Yuan. Ihr Sohn trat auch in seinen Beruf
ein, und die Bezahlung für die Arbeit im Nachbarschaftskomitee
hatte sich ebenfalls erheblich erhöht. Nach einigen Jahren
hatte die Familie Spareinlagen von über hunderttausend Yuan.
Das Ehepaar Zhao hegte nun den Wunsch, eine größere
Wohnung zu kaufen, um ihrem Sohn die Gründung einer Familie
zu ermöglichen.
Im April 2002 leistete Frau Zhao eine einmalige
Zahlung von 110 000 Yuan für die neue Wohnung. Danach ist sie
unzählige Male zur Baustelle gegangen und hat das Wohngebäude,
das noch im Bau war, besichtigt. Nun wohnt die vierköpfige
Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer Fläche von
über 70 m2, deren große Fenster viel Licht
hereinlassen. Die Innengestaltung ist zwar schlicht, aber die
Wohnung ist mit verschiedenen elektrischen Haushaltsgeräten
ausgestattet. Es gibt einen neuen Fernseher, eine Waschmaschine,
einen Kühlschrank eine Klimaanlage und einen Boiler. Die Wohnung
ist zwar nicht sehr groß, aber komfortabel. Jetzt braucht
sich Frau Zhao nicht mehr vor einem Stromausfall in der Wohnung
zu fürchten.
Zur neuen Wohnung meint Frau Zhaos Sohn: „Seit
meiner Kindheit habe ich mir ein eigenes Zimmer gewünscht, jetzt
auch eine eigene Wohnung. Sie soll allerdings nicht weit von
der Wohnung meiner Eltern liegen, denn so kann ich mich einerseits
um meine Eltern kümmern, andererseits brauche ich nicht zu kochen.
Mein heutiger Lohn ist zwar nicht sehr hoch, aber ich kann einen
Kredit aufnehmen.“
Zhao Yunshus zwei jüngere Brüder haben die
neue Wohnung auch besichtigt. Sie wohnen in der Vorstadt, wo
inzwischen ein Villenviertel entstanden ist. Früher mußte
Frau Zhao ihre Brüder auf dem Land gelegentlich finanziell unterstützen.
Heute ist es umgekehrt. Für die Anschaffung der neuen Wohnung
griffen sie ihr unter die Arme. Der eine Bruder betreibt eine
Blumenfarm und liefert frische Blumen in die Stadt, ein sehr
einträgliches Geschäft; der andere betreibt noch Landwirtschaft
und bringt, wenn er zu seiner Schwester auf Besuch kommt, oft
frisches Gemüse und Obst mit – „aus eigenem Anbau, also ohne
Chemie“, wie er sagt. Übernachten tun sie aber selten bei
Zhao Yunshu. Ihre Häuser, finden sie, seien geräumiger
als Frau Zhaos Wohnung.
Aus ihrem Fenster kann Frau Zhao die großen
Veränderungen betrachten, die in ihrem Wohnviertel stattgefunden
haben. Die heruntergekommenen Wohnhäuser und die schmutzigen
Straßen sind verschwunden, ein neues Wohnviertel mit geräumigen
Grünanlagen ist entstanden, die Straßen sind sauber und
gepflegt, und in der Mitte der Siedlung bildet der „Goldfischteich“
eine Attraktion für die Bewohner.
Frau Zhao arbeitet immer noch im Nachbarschaftskomitee,
beschäftigt sich aber nicht mehr mit der Organisation von
Reparaturen. Sie hat ein schwarzes Brett zur Verbreitung von
medizinischen und juristischen Kenntnissen eingerichtet. Außerdem
hat sie noch ein Tagesaltersheim gegründet, in dem ansonsten
recht isoliert lebende ältere Menschen zusammen Schach
spielen, malen lernen oder Gymnastik machen können.
Im vergangenen Monat stießen drei Hochschulabsolventinnen
zum Nachbarschaftskomitee hinzu. Dadurch wurde Frau Zhao in
ihrer Arbeit entlastet und hat mehr Zeit für sich. Sie kauft
heute in einem in der Nähe liegenden Hongkonger Supermarkt
ein und geht öfters im Himmelstempel spazieren. Abends
macht sie einen Bummel durch die Geschäftsstraße
Wangfujing. Sie genießt ihr Leben.