
Sind
die Schatten zu retten?
Von
Olivier Roos

Von
rechts verdunkeln unscharfe Umrisse das Licht auf der Leinwand,
von links schiebt sich ihnen ein riesiger Schatten entgegen.
Das Knattern der Holztrommel wird immer schneller, dazwischen
scheppert ein Gongschlag. Die Musik kündigt einen dramatischen
Kampf an. Während sie sich einander nähern und ihre
Schatten immer kleiner werden, erkennt man allmählich
Form und Farbe der Figuren: zwei Reiter, ein roter und ein
goldener, prächtig geschmückt mit Bannern auf dem Rücken
und zwei langen Fasanenfedern auf ihren Helmen. Einen bangen
Augenblick lang stehen sie einander gegenüber, man glaubt,
sie vor Anspannung zittern zu sehen. Dann holt der Goldene
mit seiner Hellebarde aus, der Rote pariert mit dem Schwert,
wendet sein Pferd und stiebt davon, sein Gegner folgt ihm
dicht auf den Fersen. Das Licht flackert und blitzt, während
die zwei Reiter in einer wilden Verfolgungsjagd über die Leinwand
rasen.

Aus dem Publikum gibt es Szenenapplaus,
wie noch manches Mal an diesem Abend. Die Vorführung findet
in der Peking-Universität statt. Rund 200 Zuschauer,
zumeist Studentinnen und Studenten, haben sich eingefunden,
um das Schattenspiel der Truppe aus Huanxian in der Provinz
Gansu zu sehen. Diese wiederum, ein Puppenspieler und sieben
Musiker, sind jedoch nicht nach Beijing gekommen, um der Stadtjugend
Unterhaltung zu bieten. Sie haben einen gewichtigen Auftrag
und anstrengende Zeiten vor sich. Während knapp einer
Woche treten sie jeden Abend auf, an manchen Tagen sogar zweimal.
Zwei Tage und zwei Nächte sind sie im Kleinbus durchgefahren,
um in der 1700 km entfernten Hauptstadt bei der UNESCO vorzusprechen
und um Aufnahme ins Weltkulturerbe anzusuchen. Mitgereist
sind deshalb einige Gemeindevertreter, der Direktor des Kulturhauses
Huanxian, und ein Vertreter des örtlichen Fernsehens
darf selbstverständlich auch nicht fehlen. Die Schattenspieltruppe
soll mit ihren Aufführungen an verschiedenen Universitäten
in Beijing Werbung machen für ihre Kunst und das Interesse
der Großstädter wecken, in diesem Fall der jungen
Bildungselite.
Vor einem Jahr startete die UNESCO ein neues
Programm im Rahmen des Weltkulturerbes, mit dem nicht-materielle
Kultur, auch „unsichtbare“ Kultur genannt, geschützt werden
soll. Diese umfasst in erster Linie mündlich überliefertes
Kulturgut wie orale Literatur, Volkslieder, Theaterstücke
usw. Bisher wurde aus China erst die Kunqu, die Oper
der Provinz Jiangsu, ins Inventar aufgenommen. Zhang Haiming,
der Leiter des Kulturhauses Huanxian, ist zuversichtlich,
dass das Schattenspiel aus seiner Heimat als Weltkulturerbe
anerkannt wird. „Schattenspiel gibt es zwar noch an vielen
Orten in China, doch nirgendwo hat sich eine solch große
Anzahl von Spielern und Bühnen erhalten wie in Huanxian. Im
Bezirk sind noch rund 80 Truppen aktiv“, erklärt er.
Auf nationaler Ebene hat dieser Umstand bereits Anerkennung
gefunden: Im Juni verlieh die Vereinigung für chinesische
Volkskultur dem Ort den Titel „Heimat der Schattenpuppen“.
Huanxian hat es in erster Linie seiner Abgeschiedenheit
zu verdanken, dass sich dort das Schattenspiel in einer ursprünglichen
Form erhalten hat. Während im angrenzenden Ningxia, dem
Autonomen Gebiet der Hui-Nationalität, ein kleines Wirtschaftswunder
stattfindet und die Uhren schneller zu ticken beginnen, bestimmt
im nordöstlichsten Zipfel von Gansu noch immer die Fruchtfolge
auf den Feldern den Rhythmus des Lebens. Der Fortschritt zog
an Huanxian vorbei. „Viele Dörfer sind noch immer ohne
Stromversorgung, es gibt kein Fernsehen. Für die Leute dort
ist Schattenspiel eines der wenigen Unterhaltungsangebote“,
meint Herr Li, Parteisekretär von Huanxian. Die Isolation,
die für die wirtschaftliche Entwicklung ein Nachteil war,
entpuppte sich in kultureller Hinsicht jedoch als Glücksfall.
Ihre Einbettung in das stark landwirtschaftlich geprägte
gesellschaftliche Umfeld verhinderte, dass die Schattenspielkunst
allzu rasch verschwand. Die Schattenpuppenspieler und Musiker
sind Bauern geblieben, und so finden die meisten Aufführungen
dann statt, wenn es auf dem Acker nicht viel zu tun gibt,
zu Festtagen und Hochzeiten, aber auch zu Begräbnissen.
Das Schattenspiel soll ursprünglich aus
China stammen und breitete sich zwischen dem 13. und dem 15.
Jh. über den ganzen asiatischen Kontinent aus, von Indonesien
bis in die Türkei und sogar bis nach Griechenland. Die früheste
Überlieferung über die Verwendung einer Schattenpuppe
stammt aus der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.). Kaiser
Wu Di war nach dem Tod seiner Frau so untröstlich, dass
sich einer seiner Diener etwas einfallen ließ, um ihm
ein Wiedersehen mit der Verstorbenen zu ermöglichen.
Er hängte einen Vorhang auf und bat den Kaiser am Abend,
aus einiger Entfernung seinen Blick darauf zu richten. Schon
nach einer kurzen Weile konnte Wu Di im Widerschein einer
Lampe die Silhouette seiner Frau erkennen. Natürlich war es
nur der Schatten einer Figur, die der Diener aus Leder hatte
anfertigen lassen.
In Aufführungen verwendete man später
für die Puppen neben Leder auch festes Papier. Die traditionelle
Herstellung einer Schattenpuppe aus Leder ist eine äußerst
aufwendige Angelegenheit, die in Huanxian unter den 300 000
Einwohnern nur noch eine Handvoll Männer beherrschen.
Zahlreiche Arbeitsschritte sind notwendig, um die Kuhhaut
– andernorts, z. B. in Hebei, verwendet man auch Eselshaut
– zu gerben und einzufärben. Um das Leder lichtdurchlässig
zu machen, wird es mit Öl getränkt. Dann geht es
ans Ausschneiden. Für die unheimlich filigranen Puppen und
Kulissen muss ein Schnitzer über 3000 Schnitte ansetzen. Selbstverständlich
werden in Huanxian Schattenspielfiguren inzwischen auch in
größerem Rahmen hergestellt, die als Geschenke
oder Souvenirs zum Verkauf angeboten werden, doch diese können
sich mit der alten Handwerkskunst nicht messen. Die Farben
der neuen Puppen verblassen rasch, deshalb werden für die
Aufführungen Figuren verwendet, die bis zu 150 Jahre alt sind.
Braun und verwelkt sehen diese auf den ersten Blick aus, auf
der Leinwand jedoch, im Scheinwerferlicht, leuchtet ihre Farbenpracht
wie neu.
Aber erst in den Händen
von Shi Chenglin, dem Puppenspieler, werden die delikaten
Kunstwerke zum Leben erweckt: Ein General, dem der eigene
Erfolg über den Kopf wächst und der den Kaiser herausfordert,
ein Mönch, der auf seiner Pilgerreise von Dämonen
bedroht wird, eine Hofdame, deren Herzensgüte keine Anerkennung
findet, die sich aus Gram darüber umbringt und nach
ihrem Selbstmord in der Unterwelt von ihrem reuigen Gatten
besucht wird – Figuren aus alten Legenden und Mythen, die
in China jedes Kind kennt, wie „Die Reise nach dem Westen“,
„Die weiße Schlange“ u. a. Selbstverständlich siegen
die Guten und die Schlechten sehen ihr Unrecht ein oder erleiden
eine gerechte Strafe, so dass am Schluss die sozialen Verhältnisse
wieder im Lot sind. Es sind Moritaten, welche seit Generationen
den Kindern beibringen sollen, was sich gehört und was
nicht, und die Erwachsenen zur Rechtschaffenheit ermahnen.
Shi Chenglin trägt die Erzählungen in einem Singsang
vor, der kennzeichnend ist für das Daoqing-Schattenspiel.
Diese Form wurde musikalisch stark von daoistischen Praktiken
beeinflusst. Ihr Gesangsstil hat sich vor Jahrhunderten aus
der Art entwickelt, wie daoistische Mönche aus dem Kloster
am Xinglong-Berg im Bezirk Huanxian in ihren Ritualen religiöse
Schriften rezitierten. Ebenso altertümlich ist die Sprache,
die darüber hinaus mit zahlreichen Dialektausdrücken versetzt
ist. Damit das eigentümliche Idiom für das Publikum in Beijing
nicht ganz unverständlich bleibt, hat die Delegation
aus Huanxian Seitentitel vorbereitet, die mit einem Overhead-Projektor
neben die Leinwand projiziert werden.
Shi Chenglin hat so viele Stücke im Gedächtnis
gespeichert, dass er ohne weiteres einige Abende damit füllen
könnte. Die längsten dauern bis zu vier Stunden,
doch sie werden selten im vollen Umfang gespielt, meistens
besteht eine Aufführung aus Ausschnitten verschiedener Erzählungen.
Schon mit 17 begann er, die Schattenspielkunst von seinem
Vater zu erlernen, inzwischen betreibt er sie seit 40 Jahren.
Doch so, wie es aussieht, wird die Familientradition mit ihm
enden, denn von seinen Söhnen zeigt keiner Interesse
daran, die Schattenpuppen zum Sprechen zu bringen. Das hat
nicht zuletzt handfeste ökonomische Gründe: Pro Aufführung
erhält jedes Mitglied einer Truppe rund zehn Yuan. Das
ist in einem Gebiet, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen
gerade einmal 1000 Yuan beträgt, zwar nicht wenig, doch
wer sein Glück versucht und in den Zentren des wirtschaftlichen
Booms Arbeit findet, bringt es auf ein Vielfaches davon.
Mit ihrem Desinteresse für das Schattenspiel
sind Shi Chenglins Söhne nicht allein. Gerade unter der
jüngeren Bevölkerung schwindet die Wertschätzung
für das altmodische Theater. Das Schattenspiel kämpft
nicht nur mit Nachwuchsproblemen, ihm läuft dort, wo
es sich über Dutzende von Jahren besser als anderswo erhalten
hat, das Publikum davon. Trotz der landesweit einmaligen Dichte
von Truppen und Bühnen ist es auch in Huanxian eine aussterbende
Kunstgattung. Umso dringlicher sind Bemühungen zu seiner Rettung.
Gemäß Parteisekretär Li plant die Bezirksregierung
spezielle Schulklassen, in denen Schattenpuppenspieler von
klein auf ausgebildet werden sollen. Schattenspiel müsse aber
auch finanziell attraktiv werden, um den Nachwuchs zu sichern,
erklärt er, es müsse zu einem Beschäftigungszweig
ausgebaut werden, und er spricht von einem Markt, den es zu
diesem Zweck zu erschließen gelte. Über das Publikum
an der Peking-Universität zeigt er sich hoch erfreut.
So viel Applaus, eine solche Begeisterung habe er kaum je
erlebt. Ohne Zweifel, der „Markt“ ist hier, in den großen
Städten, wo in gewissen Kreisen ein Bewusstsein für den
drohenden Verlust althergebrachten Kulturguts herangereift
ist. Es wirkt paradox, vielleicht ist es aber auch nur folgerichtig
und ein Zeichen für die Entwurzelung, für den Identitätsverlust
in den Großstädten, dass die Zukunft der letzten
Zeugen traditioneller Volkskünste, die in den unzugänglichsten
Gebieten des Landes, in verschlafenen Nestern überdauert haben,
in den großen, sich rasch wandelnden Städten des
Landes zu liegen scheint, die mit ganzer Kraft zu internationalen
Metropolen ausgebaut werden.
Wer weiß, ob die „Nachfrage“ in den
städtischen Zentren Chinas das Über- und Weiterleben
des Schattenspiels in Huanxian gewährleisten kann. Letztendlich
stellt sich die Frage, wie weit der Schutz „unsichtbarer“
Kultur an den Erhalt ihres gesellschaftlichen Umfelds gebunden
ist. Dass die ursprünglichsten Formen der Volkskünste in den
entlegensten, ärmsten Winkeln des Landes zu finden sind,
ist kein Zufall. Ihre beste Überlebensgarantie ist bisher
die Armut gewesen, möchte man meinen. Was aber wird mit
dem Schattenspiel geschehen, wenn eines Tages die Elektrizität
in die Dörfer kommt und mit ihr die Fernseher? Werden
sich die alten Schatten gegen ihre Kinder, die „elektrischen
Schatten“, wie der Film auf Chinesisch wörtlich heißt,
behaupten können?
Man
kann Parteisekretär Li, der die Zukunft des Schattenspiels
gern in ökonomische Begriffe fasst, und seinen Kollegen
nur viel Umsicht und Fingerspitzengefühl wünschen bei dem
Vorhaben, die Kunst zu einer Einnahmequelle zu machen, um
ihr Weiterbestehen zu sichern. Es bleibt zu hoffen, dass die
Tradition, wenn sie erst einmal zu einem Motor für wirtschaftliches
Wachstum umgewandelt wurde, nicht ihre eigene Existenzgrundlage
zerstört.