Bei
den Dong in Guizhou
Von Olivier
Roos

Unsere Reise im Südosten von Guizhou, von
der ich schon in der letzten Nummer berichtet habe, führte uns
von Jinping weiter nach Süden nach Liping, wo auf dem „Langen
Marsch“ Maos Aufstieg zur Macht begann, und ins Dorf Zhaoxing,
durch eine Gegend, in der die Dong die Bevölkerungsmehrheit
stellen.
Dong-Dörfer
sind leicht an den charakteristischen, bis zu 13-stöckigen
Trommeltürmen zu erkennen. Zhaoxing kann gleich mit fünf dieser filigranen Konstruktionen
aufwarten, während in den meisten Dörfern nur ein
einziger Trommelturm steht. Man erklärt uns, dass jeder
Clan seinen eigenen Turm errichtet. Wie
in den stattlichen Wohnhäusern aus Holz steckt auch in
diesen Bauten kein einziger Nagel. Die Trommeltürme dienten einst dazu, die
Dörfler bei Feuer oder einem Angriff zu alarmieren oder
zu einem wichtigen Treffen zusammenzurufen. In vielen Orten
allerdings werden die Trommeln nicht mehr geschlagen, doch die
Türme dienen noch immer als Versammlungsort für Jung und Alt.
Auf den Bänken in ihrem Schatten treffen sich tagsüber
die Männer zum Plaudern, oder sie dösen auf den für
Dong-Architektur ebenfalls typischen „Wind-und-Regen“-Brücken,
deren Aufbauten wie kleine Pagoden aussehen. Öffentlich
zur Schau gestellte Muße scheint hier den Vätern
und Söhnen vorbehalten zu sein (und den Touristen), die
Frauen, das lange Haar zu einem Knoten aufgetürmt und mit einem
Kamm zusammengehalten, sieht man zumeist bei der Arbeit, sei es beim Weben, Spinnen
oder beim Sammeln von Feuerholz. Die traditionelle Tracht, eine
Indigo-gefärbte, violett-schwarze Schürze und eine Jacke
darüber sowie ein kurzer Rock und Gamaschen, tragen in Zhaoxing
nur noch ältere Frauen.


Die
Dong wanderten vermutlich vor rund 3000 Jahren aus Gebieten
im heutigen Thailand nach China ein. („Dong“ ist die chinesische
Bezeichnung für diese Volksgruppe, sie selber nennt sich „Kam“.)
Kontakte mit den Han-Chinesen gab es spätestens in der
Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.), wovon ihre Erwähnung in
Schriften aus jener Zeit zeugt – damals allerdings noch unter
dem Namen „Yue“. Der Begriff „Dong“ taucht erstmals 1171 auf.
Wie die meisten anderen Ethnien, die einst Zentralchina bewohnten,
wurden die Dong allmählich durch die nach Süden drängenden
Han-Chinesen in unwegsamere Gegenden getrieben. Das Siedlungsgebiet
der über 2,5 Mio. Dong erstreckt sich heute von Nordost-Guangxi
über Südost-Guizhou und Südwest-Hunan bis in den Südwesten von
Hubei. Ihre Sprache, die nicht weniger als 15 Töne unterscheidet,
zählt zu den Tai-Kadai-Sprachen und ist entfernt mit Zhuang
und Thai verwandt. Man trennt zwischen einer nördlichen
und einer südlichen Varietät, die wiederum in mehrere Dialekte
zerfallen. Für den schriftlichen Verkehr dagegen wird seit jeher
Chinesisch verwendet. Erst 1958 entwickelten Linguisten auf
der Grundlage des lateinischen Alphabets eine Dong-Schrift,
die sich im Alltag jedoch nicht durchgesetzt zu haben scheint
– lediglich Ämter und andere offizielle Gebäude sind
mehrsprachig angeschrieben. In den größeren Orten
und in verkehrsmäßig besser erschlossenen Gebieten
ist die Dong-Sprache bereits in Bedrängnis. Hier besteht
nicht selten die Situation, dass die Kinder zwar noch Dong verstehen,
aber nur noch Chinesisch sprechen, während ihre Großeltern
fast ausschließlich Dong verwenden. Wirklich zweisprachig
sind nur die 25- bis 40-Jährigen. Nur in abgelegeneren
Dörfern, wo Chinesisch weniger verbreitet ist (damit aber
auch die Alphabetisierungsrate geringer), ist auch die jüngste
Generation des Dong mächtig.
In
jedem Dorf steht neben dem Trommelturm eine Freilichtbühne.
Wir haben gleich am ersten Abend in Zhaoxing Glück, denn eine
Expertengruppe der Regierung ist auf Besuch, um das touristische
Potential der Region abzuschätzen, und zu ihren Ehren gibt
es eine Gesangs- und Theateraufführung. Traditionellerweise
nimmt Singen bei den Dong einen hohen Stellenwert ein – „Reis
ist Nahrung für den Körper, Singen ist Nahrung für die
Seele“, lautet ein Sprichwort, und ein anderes: „Die volle Bedeutung
einer Angelegenheit kann mit Worten nicht angemessen ausgedrückt
werden, nur durch Gesang“. In Ermangelung einer Schrift sind
die Lieder ihre Literatur. In den meisten Dörfern gibt
es Meistersänger, „sang ga“ genannt, welche die Weitergabe
der Lieder sichern, aber auch neue dichten und die nächste
Generation zum Singen ermuntern.
Gesang
und Tanz gibt es zwar fast jeden Abend in Zhaoxing, wenn Touristen
dafür bezahlen, doch diese Darbietung scheint tatsächlich
mehr als bloße Folklore zu sein, denn kurz vor Beginn
ist der Platz vor der Bühne gerammelt voll, sogar auf der Brücke
daneben drängen sich die Leute, um einen Blick auf das
Spektakel zu ergattern. Auf den besten Plätzen inmitten
der Frauen mit Kindern, Männer mittleren Alters, Großmütter
und Großväter sitzen die Experten und Touristen.
Es ist jedoch nicht der Chor der in voller Festtagskleidung,
mit prächtigem Silberschmuck, auftretenden Frauen, der
die Dorfbewohner anzieht, sondern die Vorstellung danach: eine
Art gesungener Schwank, in dem ein Mann mit den Sorgen und Nöten
seiner Frau und seiner Tochter konfrontiert wird, die ihn davon
abhalten wollen, sie für seine Geliebte zu verlassen, wie uns
unser Nachbar erklärt. Einem der Experten gefällt
das Stück aus irgendeinem Grund nicht und er verlässt aufgebracht
den Platz, was unser Nachbar mit Recht als Affront empfindet.
Der Rest der Menge scheint sich jedoch köstlich zu amüsieren.
Wer
an diesem Abend unter den Zuschauern nicht zu sehen ist, sind
die Jugendlichen. Sie ziehen es vor, am anderen Ende des Dorfes
Mah-Jongg zu spielen oder sich in der einzigen Karaoke-Bar des
Orts zu vergnügen. Wer wollte es ihnen verübeln, dass sie aus
der Tradition ausbrechen, nicht wie ihre Eltern leben wollen,
sondern wie die Jugend in den großen Städten, deren
Verheißungen ihnen das Fernsehen in die Stube liefert,
dass sie die Bedeutung alter Bräuche nicht mehr einsehen,
wenn ihnen in wenigen Stunden Entfernung, in der Kreisstadt
Liping, über Internet der Rest der Welt offensteht.
Dort wurden uns anlässlich eines Stadtfests die Verhältnisse
im Wettstreit der Kulturangebote besonders anschaulich vor Augen
geführt. Während sich am Eingang zur Tanzhalle und unter
der blinkenden Reklame des Karaoke-Lokals bunt gemischte Menschentrauben
bildeten, waren es beim traditionellen Gesangswettbewerb in
der kleinen Sportanlage gegenüber vor allem ältere Leute,
die dicht bei der Bühne saßen und den Sängerinnen
und Sängern lauschten. Es ist wohl unvermeidlich, dass
mit dem gesellschaftlichen Wandel, den das Fernsehen, bessere
Verkehrsverbindungen und der Tourismus mit sich bringen, die
alten Künste nur noch unter den Alten ein Zugehörigkeitsgefühl
erzeugen, und es stellt sich die Frage, ob die Folklorisierung
durch den Tourismus, also der Verkauf von Bräuchen für
Geld, die Sinnentleerung althergebrachten Kulturguts nicht eher
beschleunigt. Schon jetzt werden in einigen Dörfern Lieder
und Tänze, die ursprünglich an Festtage gebunden waren,
mehrmals täglich aufgeführt. Wie uns der Besitzer eines
kleinen Antiquitätenladens in Zhaoxing erklärte, gibt
es jedoch durchaus auch gegenläufige Tendenzen. Durch die
touristische Wertsteigerung des Brauchtums gewinnen jüngere
Dorfbewohner wieder Interesse dafür und sehen ihre ethnische
Herkunft als positiv. Doch einfacher wird ihre Aufgabe dadurch
nicht, zwischen Tradition und Assimilation eine Identität
zu finden.