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Kommentar: Wie wird in China Gerechtigkeit realisiert?

2024-05-27 17:42:00 Source:german.chinatoday.com.cn Author:Robert Walker*
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Ma Youli (links), ein Mediator eines Kreisvolksgerichts der Stadt Zibo in Shandong, tauscht sich im November 2022 mit einigen Senioren aus. 

 

Ich erinnere mich noch gut an einen Sommerabend in Kashgar in Xinjiang im vergangenen Jahr. Über der Stadt lag die typische flimmernde Julihitze. In einem Restaurant in einem der Vororte kam es zu einer Auseinandersetzung. Der Grund: Der letzte Gast eines Gruppentischs hatte versucht, die Rechnung zu prellen.  

 

Es kam zu einem handfesten Streit mit dem Restaurantbesitzer und letztlich wurde die Polizei gerufen. Schnell waren drei Beamte und eine Beamtin am Schauplatz des Geschehens und eskortierten alle Beteiligten nach draußen.   

 

Zehn Minuten später erzählte der Restaurantbesitzer lächelnd, was passiert war. Die Männer am Tisch waren einer nach dem anderen gegangen. Jeder hatte dabei versprochen, dass die anderen bezahlen würden. „Man kann den Leuten am Schluss vielleicht gar keinen Vorwurf machen“, sagte der Besitzer zu mir. „Sie sind vom Land in die Stadt gezogen und haben es hier am Anfang wirklich nicht leicht. Vielleicht konnten sie sich das Essen am Ende tatsächlich nicht leisten.“  

 

Unklar ist, was zwischen der Polizei und den beiden Parteien vor der Tür besprochen wurde, um diesen Streit zur offensichtlichen Zufriedenheit aller Seiten beizulegen. Sicher ist aber: Chinas Polizei kennt sich aus mit der Schlichtung derartiger Streitigkeiten, sogenannter Mediation, insbesondere mit drei Formen davon, nämlich Bürgerangelegenheiten, Belangen der öffentlichen Ordnung und Strafsachen.  

 

Um es mit den Worten von Gordon Bazemore, dem verstorbenen Professor für Kriminologie von der Florida Atlantic University, auszudrücken: „Mediation betrachtet Verbrechen als eine Verletzung menschlicher Beziehungen, und nicht nur als einen Verstoß gegen Gesetze“. Im Westen wird die Mediation, also die Kunst der Vermittlung bei Konflikten zur Streitbeilegung, oft als restorative justice, also „wiederherstellende Gerechtigkeit“ bezeichnet, um sie von anderen Formen der Gerechtigkeit abzugrenzen: der „vergeltenden Gerechtigkeit“, die sich auf die Bestrafung konzentriert, und der „rehabilitierenden Gerechtigkeit“, die darauf abzielt, Rückfälle zu verhindern. 

 

Im Gegensatz dazu zielt die sogenannte wiederherstellende Gerechtigkeit darauf ab, Unrecht zu berichtigen und Schaden wiedergutzumachen, und zwar in einem Prozess, in dem Täter und Opfer zusammenkommen, um zu entscheiden, wie sie Wiedergutmachung leisten können. Sehr oft wird in diesem Prozess von einer dritten Partei vermittelt, mit dem Ziel, dass alle Beteiligten einbezogen, alle Parteien gestärkt und allen Gehör geschenkt wird. Letztlich wird ein für alle Seiten akzeptables Ergebnis angestrebt. 

 

Laut John Braithwaite, Professor an der Australian National University in Canberra, ist China weltweit führend, was den Umfang und die Vielfalt von Programmen zur opferorientierten Justiz betrifft. Kein Wunder also, dass britische Rechtswissenschaftler ein anglo-chinesisches Seminar zum Thema „Restorative Justice“ organisierten. Gemeinsam mit Kollegen der Beijing Normal University veranstaltete das Oxford Prospects and Global Development Institute das Seminar im März dieses Jahres am Regent 's Park College der Universität Oxford. 

  

 

 

Gemeinsam an einen Tisch kommen: Am 17. November 2023 findet in der Stadt Zaozhuang in Shandong eine Mediationssitzung statt. Anwesend sind eine Richterin des Volksgerichts des Bezirks Shizhong und eine Mediatorin sowie beide Streitparteien. 

 

Es wurde schnell klar, dass die Grundlagen für die opferorientierte Justiz in der Lehre des Konfuzius zu finden sind. Professor Liu Jianhong von der Universität Macao erläuterte die zentrale Bedeutung des Konzepts der Harmonie im konfuzianischen Denken. Im alten China war die Wiederherstellung der sozialen Harmonie durch die Beilegung zwischenmenschlicher Konflikte die bevorzugte Alternative zum Rechtsstreit. Das konfuzianische Ideal des „Verzichts auf Rechtsstreitigkeiten“ erklärt auch die späte Entwicklung des Rechts in China, wo viele Chinesen bis heute die Mediation dem Rechtsweg vorziehen.  

 

Nach 1949 wurde die informelle Volksmediation zu einem Schlüsselelement der nationalen Politik der Massenlinie zur Konfliktlösung an der Basis erklärt. Diese Tradition setzte sich im sogenannten „Fengqiao-Modell“ des Konfliktmanagements fort, das nach einer kleinen Gemeinde in Zhejiang benannt ist, wo man es 1963 erstmals einführte. Bei der Lösung von Streitigkeiten gibt man in China also der Schlichtung klar den Vorzug vor Strafmaßnahmen. 

 

In nicht wenigen westlichen Ländern ist die opferorientierte Justiz dagegen vor allem ein erstrebenswertes Ideal. Wo sie praktiziert wird, ist sie in der Regel freiwillig und wird vergleichsweise selten als Alternative zum Rechtsweg eingesetzt. Anders in China: Hier wird Mediation von der Regierung gefördert und in großem Umfang praktiziert. Es gibt fast 700.000 Volksmediationsausschüsse mit über drei Millionen Mediatoren, von denen 410.000 in Vollzeit arbeiten. Etwa 50 Prozent der Zivilrechtsfälle lösen die Chinesen heute durch derartige Vermittlung. 

 

Die Mediation in China unterscheidet sich dabei in mancher Hinsicht von der opferorientierten Justiz im Westen. Die Tatsache, dass sie in die chinesische Kultur eingebettet und eine Selbstverständlichkeit ist, bedeutet, dass sie weniger freiwillig erscheint als im Westen. Für die Menschen in Europa und den USA bedeutet eine Teilnahme an der opferorientierten Justiz, sich aktiv für einen neuen Ansatz zu entscheiden, insbesondere wenn es um Straftaten geht. Einige westliche Wissenschaftler bestehen sogar darauf, nur dann von echter opferorientierter Justiz zu sprechen, wenn sich Täter- wie Opferseite jeweils ganz bewusst für die Teilnahme an einem Schlichtungsverfahren entscheiden. Auf dem Seminar in Oxford wurde diese Ansicht jedoch von vielen Experten in Frage gestellt. 

 

Fakt ist: Gerechtigkeit wird in Ost und West unterschiedlich konzeptualisiert. Der westliche Gerechtigkeitsbegriff bezieht sich auf universelle Prinzipien, die unabhängig und getrennt von der Regierung sind, die sogenannte natürliche Gerechtigkeit. In China dagegen sieht man das Recht als Ausdruck der Absichten des Staates, die immer im besten Interesse des Volkes liegen. Die Chinesen erwarten folglich, dass der Staat eine zentrale Rolle bei der Mediation spielt. Die drei Millionen zugelassenen Mediatoren bedeuten nichts anderes, als dass der Staat in vielen chinesischen Mediationsverfahren präsent ist, aber nicht etwa als Zwangsgewalt sondern als wohlwollender, konstruktiver Akteur. 

 

„Wiederherstellende Gerechtigkeit“ (restorative justice) lässt sich auf Mandarin sowohl mit 司法 sīfǎ (Urteilsfindung) als auch mit 正义 zhèngyì (Gerechtigkeit) übersetzen, was sich gegenseitig ergänzt. Wie Professor Zhang Qi von der Peking-Universität in Oxford erläuterte, ist es daher wahrscheinlich, dass sich Mediatoren, die sich um ein positives Ergebnis für alle Parteien bemühen, an der Urteilsfindung beteiligen, wenn die Protagonisten selbst keine Schuld oder eine Verletzung ihrer Interessen bei sich sehen. Im Westen müssten sich in der Regel beide Parteien als Täter oder Opfer zu erkennen geben, bevor der Prozess der wiederherstellenden Gerechtigkeit fortgesetzt werden kann. 

 

Wie groß hier das Potenzial für kulturelle Missverständnisse ist, zeigt die westliche Reaktion auf den berühmten Film The Story of Qiu Ju von Regisseur Zhang Yimou aus dem Jahr 1992. Darin bauen Qiu Ju und ihr Ehemann in einem Dorf in Shaanxi Chilischoten an. Der Dorfvorsteher verweigert ihnen aber das nötige Land, um einen Schuppen zur Lagerung der Schoten zu bauen. Bei einer Konfrontation wird Qiu Jus Ehemann in die Leiste getreten. Qiu Ju verlangt eine Entschuldigung. Als diese nicht kommt, sucht sie Gerechtigkeit für das, was sie als Machtmissbrauch ansieht.  

 

Die hochschwangere Qiu reist in den Landkreis, die Stadt und schließlich in die Provinzhauptstadt, wo wohlwollende Beamte versuchen, zu schlichten, nie aber zu Qius Zufriedenheit. Schließlich wendet sich die schwangere Frau an die Justiz, aber das Ergebnis ist nicht die von ihr gewünschte Entschuldigung. Stattdessen wird das Dorfoberhaupt ausgerechnet an dem Tag inhaftiert, an dem sie ihn zu den Feierlichkeiten anlässlich der Geburt ihrer Tochter eingeladen hatte.   

 

 

 

Zwei Mediatoren versuchen im Juli 2023 in einer Polizeistation in Fujian, genauer gesagt im Kreis Jianning der Sadt Sanming, zwischen zwei Streitparteien zu vermitteln.  

 

Westliche Kritiker wie Geor Hintzen rügten den Regisseur dafür, dass er chinesische Beamte als zu wohlwollend stilisiere. Dabei lassen diese Kritiker allerdings die Ausbildung der Regierungsbeamten in Mediationstechniken sowie die in China nach wie vor vorherrschenden positiven Erwartungen an den Staat außer Acht. 

 

Um auf die wiederherstellende Gerechtigkeit und die Polizei zurückzukommen: Im Ethos der Polizeiarbeit in China spiegeln sich noch immer die nach 1949 entwickelten Grundsätze der Massenlinie wider. Diese sahen vor, dass die Polizei eng mit den Nachbarschaftskomitees zusammenwirkt, um eine enge Beziehung zu den Menschen zu pflegen, die sich an vorderster Front für die Verbrechensbekämpfung einsetzen. 

 

Heute wird die Polizeiarbeit durch das Motiv der „Vier Fälle und vier Reaktionen“ (wörtlich eigentlich „Vier Haben und vier Sollen“) geprägt: Die Polizei sollte auf Notfälle reagieren, bei Schwierigkeiten helfen, Menschen aus Gefahren retten und ihre Bedürfnisse erfüllen. Das bedeutet, dass die Polizei, wenn sie darum gebeten wird, an der Vermittlung zwischen Konfliktparteien teilnimmt. Meistens aber ist sie mit Mediationsaufgaben mit Blick auf die öffentliche Ordnung und die Schlichtung von Straftaten beschäftigt.   

 

Erstere Mediationsaufgaben sind dabei im Zusammenhang mit Chinas Streben nach sozialer Harmonie zu sehen. Wenn Streitigkeiten die öffentliche Ordnung verletzen, allerdings mit geringen negativen Auswirkungen, kann die Polizei zum Mittel der Schlichtung greifen. Die Mediation hat in diesen Fällen vor allem eine soziale Funktion, nämlich die Vermeidung von Disharmonie. Im Westen hingegen kommt die wiederherstellende Gerechtigkeit in erster Linie den direkt beteiligten Personen zugute. 

 

2008 hat China die strafrechtliche Schlichtung gesetzlich eingeführt. Sie greift bei zivilrechtlichen Streitigkeiten oder fahrlässigen Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei bzw. sieben Jahren geahndet werden. Laut Professor Zhang Yan von der Universität Macao sind chinesische Polizeibeamte als Angehörige einer von Konfuzius geprägten Kultur oft zur Schlichtung geneigt, ganz im Gegensatz zu Polizisten in westlichen Ländern. Letztere, so analysierte Professor Kerry Clamp von der Universität Nottingham auf dem besagten Seminar in Oxford, seien darauf trainiert, „zu fangen und zu verurteilen“. 

 

Allerdings gibt es in China nur sehr wenige Polizeibeamte – etwa zwölf pro 10.000 Einwohner. Im Vergleich: der weltweite Durchschnitt liegt bei 30 Beamten. Daher kann es vorkommen, dass sich die Polizei unter Druck auf ein Schlichtungsverfahren einlässt, um langwierige Gerichtsverhandlungen zu vermeiden. Ein ähnlicher Druck kann dazu führen, dass sich die Mediation auf die Festlegung einer für beide Parteien akzeptablen Entschädigungssumme konzentriert, obwohl es, wie im Fall von Qiu Ju, nicht immer um Geld geht, sondern manchmal auch um eine Entschuldigung oder einfach um Verständnis. Gelegentlich wird die Schlichtung auch vernachlässigt, etwa wenn die lokalen Behörden der Strafverfolgung Vorrang einräumen oder wenn es wichtig ist, keinen Präzedenzfall zu schaffen. Ein von Professor Zhang Yan angeführtes Beispiel für den letzteren Fall betraf einen Arbeiter, der drohte, von einem Kran zu springen, auf den er geklettert war, um seinen Arbeitgeber zur Zahlung nicht gezahlter Löhne zu bewegen. 

 

Auch wenn die wiederherstellende Gerechtigkeit in China nicht immer perfekt sein mag, so ist sie doch weit mehr als ein fernes Ideal oder ein bloßes Bestreben, wie es im Westen so oft der Fall ist. 

  

*Robert Walker ist Professor am Institut für Soziologie der Pädagogischen Universität Beijing und emeritierter Professor sowie emeritierter Fellow des Green Templeton College der University of Oxford. Er ist zudem Fellow der Royal Society of Arts und der Academy of Social Sciences in Großbritannien.  

 

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