China ist stolz darauf, die absolute Armut für die 1,4 Milliarden Einwohner des Landes überwunden zu haben. Jahrhundertelang war China geprägt von natürlichen und gesellschaftlichen Katastrophen. Erstmalig ist es nun in jüngerer Zeit gelungen, der gesamten Bevölkerung ein Leben ohne absolute Armut zu garantieren.
Als ausländischer Beobachter, der mehr oder weniger nur durch ein Fenster nach China hineinschaut, stellt man sich vielleicht vor, jedem Chinesen müsse zur Überwindung der absoluten Armut nur eine Schüssel Reis vom Staat gereicht werden, um das Problem zu lösen – das Schlagwort der eisernen Reisschüssel war in den westlichen Medien schließlich stets präsent. Ähnlich wie die seit Jahren erfolgten Wirtschaftshilfen der westlichen Länder zum Beispiel in Afrika, wo überschüssige Lebensmittel gegen den Hunger verteilt werden. Dort wurde die Armut immer noch nicht überwunden, diese nimmt jedoch im Gegenteil wieder zu. Diese Wirtschaftshilfen waren und die oft zitierte Schüssel Reis wäre nicht nachhaltig. Doch seit der Gründung der Volksrepublik China 1949 wurden rund 850 Millionen Chinesen dauerhaft aus der Armut befreit.
Was hat China anders gemacht?
Aus der eigenen Geschichte hat China gelernt, die Ursachen der Armut zu analysieren: Isolation ländlicher Regionen, mangelnde Konnektivität und Handelsmöglichkeiten in Folge fehlender Infrastruktur, eine eingeschränkte Nutzung natürlicher Ressourcen sowie ungenügende Bildung. Nicht die Naturkatastrophen sind die wesentlichen Ursachen für die weltweit verbreitete und wieder zunehmende Armut – es ist die ungenügende Ausschöpfung der gegebenen Produktivkräfte. Chinas Armutsüberwindung zielt nicht nur darauf, die finanziellen Mittel der betroffenen Familien über die Armutsgrenze zu heben, sondern die materiellen Voraussetzungen für ausreichend Nahrung und Kleidung zu schaffen und neunjährige Schulpflicht, grundlegende Gesundheitsfürsorge und sicheren Wohnraum zu garantieren.
Obwohl für die Volksrepublik das Gemeinwohl der werktätigen Massen vom ersten Tag an im Mittelpunkt stand, wurden doch erst nach den 1978 eingeführten Reformen letztlich erste Erfolge sichtbar, was vor allem am schwierigen Aufbau des Landes und der Notwendigkeit zur Überwindung von Klassengegensätzen in den ersten Jahrzehnten lag. Mehr als 700 Millionen Bedürftige sind dank der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik seit 1978 der Armut entkommen.
Seit dem XVIII. Parteitag der KP Chinas im Jahr 2012 hat China die Armutsüberwindung zur Grundvoraussetzung für die umfassende Vollendung einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand erklärt. In dem Bericht des XIX. Parteitags im Jahr 2017 wurde proklamiert, bis 2020 die arme Landbevölkerung in China nach den gegenwärtigen nationalen Standards aus der Armut zu befreien und bisherige Armutskreise aus der Bedürftigkeit zu führen.
In der Folge konnte die Zahl der verarmten Landbewohner von fast 100 Millionen Ende 2012 auf 5,51 Millionen bis Ende 2019 reduziert werden. Und der Anteil der Menschen auf dem Land, die unterhalb der Armutsgrenze leben, fiel zwischen 2012 und 2019 von 10,2 Prozent auf 1,6 Prozent. Die offizielle Armutsgrenze in China wurde 2011 auf ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 2300 Yuan (6,3 Yuan pro Tag) festgelegt und wird seither mit einem Inflationsausgleich errechnet. Bis 2020 stieg die Armutsgrenze so auf rund 4000 Yuan. Die Regierung hat zugesichert, armutsgefährdete Bevölkerungsgruppen nicht wieder in die frühere Bedürftigkeit zurückfallen zu lassen.
Chinas schnell wachsende Wirtschaft mit ihrem rasant ansteigenden BIP hat eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze geschaffen. Ende 2017 belief sich die Gesamtzahl der Beschäftigten in China auf 776,4 Millionen, was einem Anstieg von 93 Prozent gegenüber 1978 entspricht. Das wiederum führte zu einem Einkommensgefälle zwischen der ruralen und urbanen Bevölkerung, insbesondere den Menschen in entlegenen Regionen mit schwierigen natürlichen bzw. geologischen Bedingungen, wie beispielsweise in Guizhou, Xinjiang oder Tibet. So haben sich die Probleme der regionalen Armut zunehmend verschärft. Um diese zu überwinden, hat Chinas Regierung eine Reihe entwicklungsorientierter Maßnahmen eingeleitet, wie den Aufbau eines funktionierenden Infrastrukturnetzes – Straßen, Eisenbahnen und Elektrizitätsversorgung. Im November 2013 schlug Staatspräsident Xi Jinping dann erstmals vor, die Armut präzise und auf einzelne Haushalte gerichtet zu bekämpfen.
Während einiger mehrmonatiger privater Autoreisen durch verschiedene Provinzen Chinas in den Jahren vor der Pandemie sowie im Herbst 2023 und Frühjahr 2024 wollte ich mich mit eigenen Augen von der konkreten Situation überzeugen. In den zentralchinesischen, den nordöstlichen, den westlichen Regionen oder denen an den Küsten konnte ich, selbst zu den kleinsten Dörfern in Guizhou oder Hunan, ein ausgebautes Straßensystem nutzen. 2023/24 fand ich kein Dorf, keine Ansiedlung ohne elektrischen Stromanschluss oder eine ausreichende Internetverbindung auf 4G- oder gar 5G-Basis. In allen besuchten Provinzen fand ich neue Siedlungen, in den Dörfern neue, allerdings teils auch sehr einfache, einstöckige Häuser und neue moderne Kleinstädte mit Parks, Einkaufszentren sowie sozialen Einrichtungen. Wirkliche Armut, absolute Armut, konnte ich nicht sehen!
In den westlichen Medien las ich schon vor Jahren, dass die KP Chinas ihre Kader in die Dörfer schickt, etwa in Xinjiang, um die Menschen auszuspionieren, damit sie nicht gegen die Staatspolitik opponieren. Tatsächlich wurde mir bei meiner Reise mehrfach bestätigt, dass Parteikader in die Dörfer kamen und kommen, um mit der ländlichen Bevölkerung zu leben. Nicht aber um zu spionieren, sondern um herauszufinden, wie im konkreten Fall geholfen werden kann. Gemeinsam mit den lokalen Dorfkomitees wurden die von Armut betroffenen Familien in speziellen Registern erfasst, die Ursachen der Not analysiert und konkrete Maßnahmen beschlossen, wie sich die Familien unterstützen ließen. Zu diesen Maßnahmen gehören vor allem die Entwicklung lokaler Industrien, die gezielte Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie auch, falls notwendig, direkte finanzielle Unterstützung.
Als Beispiel für die Schaffung von Arbeit zur Selbstversorgung ohne Armut sei das Projekt „Geniale Mütter“ im Dorf Zaidang im Kreis Rongjiang in Guizhou genannt, in dem die Volksgruppe der Dong lebt. Hier werden die Frauen aus den umliegenden Bergdörfern ausgebildet, lokale Werkstätten zur Pflege des traditionellen Handwerks wie Weben und Färben aufzubauen. Den Frauen werden während der Ausbildungsphase Unterkunft und Einrichtungen zur Kinderbetreuung zur Verfügung gestellt. Nach der Ausbildung können sie mit anderen Frauen ihres Heimatdorfes handwerkliche Produkte herstellen und diese mit Hilfe des Projektes an Handelsketten verkaufen. Damit wird nicht nur die Armut überwunden, sondern auch der soziale Status der Frauen nachhaltig erhöht.
Ein besseres Einkommen dank Ausbildung: Webstühle des Ausbildungsprojektes „Geniale Mütter“
Gut versorgt: Damit die Teilnehmerinnen des Projekts „Geniale Mütter“ sich ganz ihrer Ausbildung widmen können, bietet ihnen die Regierung Betreuungsdienste für den Nachwuchs an.
Da insbesondere arme Bevölkerungsgruppen in abgelegenen Gebieten oder Regionen leben, die häufig von Naturkatastrophen heimgesucht werden bzw. deren Ökosysteme besonders fragil sind, macht es Sinn, ganze Dörfer umzusiedeln. Mich beeindruckten hier zwei Beispiele besonders: Das historische Bergdorf Wudunao in Henan wurde von den Bewohnern verlassen, da keine Anbindung an das Straßensystem möglich war. Ein neues Dorf mit landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen und den notwendigen sozialen Einrichtungen wurde an der regionalen Straße aufgebaut. In Gesprächen bestätigten die Bewohner mir den nunmehr gesicherten Wohlstand.
Ein weiteres Beispiel sah ich in Guizhou, in einer Region der Miao-Volksgruppe, wo die Neubausiedlung Jinping errichtet wurde, um Wohnraum, Arbeitsplätze und Bildungseinrichtungen für die Bergbewohner aus kaum zugänglichen Dörfern zu schaffen. Auch hier wurde mir bestätigt, dass die Umsiedlung gemeinsam mit dem Dorfkomitee beschlossen worden war, wobei das Land, besser gesagt der Wald des Dorfes weiterhin Eigentum der Gemeinschaft bleibt und nach wie vor gemeinsam kommerziell genutzt wird – das gefällte Holz wird durch das Dorfkomitee verkauft. Die Erlöse werden entsprechend aufgeteilt. Durch die Kombination von Arbeitsplätzen in der Stadt und der kommerziellen Nutzung des Gemeinschaftseigentums leben die Menschen dort heute in Wohlstand. Trotz der neuen Wohnstätten bevorzugten es jedoch einige ältere Einheimische, in den abgelegenen Dörfern zu verbleiben.
Die Neubausiedlung Jinping in Guizhou: Ein Angebot für Bewohner aus unzugänglichen Bergdörfern
Das aufgegebene Bergdorf Wudunao in Henan
Tor-Ruine des Dorfes Wudunao
In mehreren Dörfern – ob in Xinjiang, Guizhou, Hubei oder Hunan – sind mir neue einstöckige Bauernhäuser mit bunten Dachziegeln aufgefallen. Wie mir Bewohner erklärten, stellt die Regierung den betroffenen armen Familien bescheidenen Wohnraum in Form von einstöckigen Häusern zur Verfügung, garantiert den Menschen gesundheitliche Betreuung und kostenfreien Schulbesuch, einschließlich Schulbus. Ältere Menschen werden monatlich von Mitarbeitern regionaler medizinischer Einrichtungen besucht und betreut.
Schüler aus armen Familien haben einen Anspruch auf den Erlass der Schulgebühren während ihrer gesamten Schulzeit sowie auf Zuschüsse für ihren Lebensunterhalt. Ein spezielles Krankenversicherungssystem soll dafür sorgen, dass Bedürftige mit schweren oder chronischen Krankheiten Unterstützung erhalten. Ihre medizinischen Behandlungskosten werden mit einem höheren Anteil erstattet als üblich. Arme Familien, die kein eigenes Wohnhaus besitzen oder in baufälligen Wohnverhältnissen leben, erhalten für die Renovierung ihrer Unterkunft oder für einen Neubau ebenfalls Zuschüsse.
In Gesprächen mit Vertretern eines Dorfkomitees im historischen Ort Jinping, nahe Rongjiang, in Guizhou erfuhr ich, dass die Entwicklung der Armutsbekämpfung jährlich durch das Dorfkomitee bewertet werden muss. Dazu finden Gespräche mit den regionalen Regierungskadern, den Dorfbewohnern und den betroffenen Personen statt. Selbst wenn die Familien mittlerweile in gesicherten Verhältnissen leben, werden Fördermaßnahmen wie die Gesundheitsvorsorge, die Unterstützung für gesichertes Wohnen und den Schulbesuch nicht von heute auf morgen eingestellt.
In diesem Dorf konnte ich auch verstehen, wie der innerchinesische Tourismus gefördert wird. Das Dorf erhielt staatliche Unterstützung, um die historische Bausubstanz zu erhalten und damit für Touristen zugänglich zu machen. Neue private Übernachtungsmöglichkeiten in traditionellen Gebäuden wurden geschaffen, die Dorfbewohner geschult als Reiseführer. Gleiches konnte ich auch in anderen Bergdörfern beobachten. Die Bewohner haben Einkünfte aus Vermietung und Touristenbetreuung. Das fördert auch die Entwicklung des Tourismus in bisher abgelegenen, aber historisch interessanten Regionen.
Gleichzeitig wächst die Verbundenheit zwischen den Volksgruppen und festigt das chinesische Nationalgefühl. In der Stadt Tashkurgan in Xinjiang konnte ich bei der Besichtigung der historischen Steinfestung beobachten, wie Touristen die Verbindung der historischen Seidenstraße mit der Neuen Seidenstraße über den Karakorum Highway erlebten. Das Bewusstsein der Reisenden für die Traditionen der verschiedenen Volksgruppen, für die chinesische Geschichte wird auch durch die großartig ausgestatteten Museen in den Kreisstädten und natürlich in den Provinzhauptstädten gestärkt.
Steinfestung: Die Reste der alten Stadtmauer in Tashkurgan in Xinjiang
Bitte recht freundlich! Touristen haben sich für diesen Erinnerungsschnappschuss in Zhangjiajie eigens in traditionelle Volkstrachten gehüllt.
Eine immer größere Rolle für die Erhöhung des Lebensstandards in abgelegenen, aber landschaftlich attraktiven Regionen spielt der Inlandstourismus. Landschaftliche Attraktionen wie Zhangjiajie, das „Avatar-Gebirge“ in der Provinz Hunan, der Landschaftspark Liupanshui oder Beilidujuan nahe Bijie, beides in Guizhou, haben ganze Regionen verändert. Neue „Kleinstädte“ mit privaten Hotels, erschwinglich für jeden Touristen, sind neben vielen Restaurants, in denen lokale Spezialitäten serviert werden, entstanden und haben viele neue Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten geschaffen.
Tief beeindruckt haben mich die gewachsenen Kleinstädte, in denen neben dem historischen Kern neue, moderne Wohnsiedlungen, Serviceeinrichtungen und Unternehmen entstanden sind. Genannt als Beispiele seien hier nur Yiyang in Henan oder Zhenning in Guizhou. Geprägt ist das Straßenbild dieser Städte durch die New Energy Vehicles, aber nicht die teuren von Tesla oder BYD, sondern von Wuling, den Fahrzeugen, die sich auch die Bewohner leisten können, die aus der Armut herauswuchsen.
Es geht aufwärts in Sachen Lebensstandard: Ein neues Wohnviertel in Zhenning in Guizhou
Ein gutes Leben für die Bevölkerung als Ziel: Schüler warten auf den Schulbus
Der historische Ort Qiandongnan in Guizhou
Alt und Neu: Der Ort Yiyang in Henan
Die Touristenattraktion Zhijiang in der Stadt Huaihua in Hunan
China hält am Recht auf Leben und Entwicklung als primärem grundlegendem Menschenrecht fest und bemüht sich stets darum, bedürftigen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Das Land hat die weltweit größten Systeme für Bildung, soziale Absicherung, medizinische Versorgung und demokratische Beteiligung auf kommunaler Ebene geschaffen. Mehr als 800 Millionen Chinesen wurden aus der Armut befreit. Diese Errungenschaften sind weltweit einzigartig.
Während einer Inspektionsreise in Chongqing erklärte Xi Jinping: „Was Chinas Modernisierung betrifft, so steht das Wohlergehen der Menschen im Vordergrund. Alles, was die Partei und die Regierung tun, dient dem Zwecke, den einfachen Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen.“ Xi äußerte die Hoffnung, dass Parteikomitees und Regierungen auf allen Ebenen mehr finanzielle und materielle Ressourcen in die Lösung von Problemen für das Wohlergehen der Menschen investieren und praktische Dinge tun sollten, um das Leben der Menschen stetig zu verbessern und so das Gefühl von Gewinn, Glück und Sicherheit kontinuierlich zu steigern. Was bei der Armutsbekämpfung erreicht wurde, müsse gefestigt und ausgeweitet werden, so Chinas Staatspräsident, um sicherzustellen, dass keine große Anzahl von Menschen in die Armut zurückrutscht.
„Gezielte Strategien zur Armutsbekämpfung sind der einzige Weg, Menschen aus der Armut zu helfen und die ehrgeizigen Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu erreichen“, sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres in einem Grußschreiben an das Globale Forum für Armutsbekämpfung und Entwicklung 2017. „China hat hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt. Daraus können auch andere Entwicklungsländer wertvolle Erfahrungen ziehen“, so Guterres weiter.
*Uwe Behrens ist langjähriger Chinakenner und war 27 Jahre unter anderem in China und Indien als Logistikmanager tätig.
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