Steht
ganz China wegen SARS Kopf?
Ein
Blick in Chinas Provinz – das Leben mit der SARS-Bedrohung
in Ningbo
Von Ursula Nagy

Eines
Morgens sind die Eingangspforten der Berufsschule „Zhongtai“
in Ningbo verschlossen. „Zutritt nur für das Personal und
die Schüler“ informiert das Schild, das seit dem 21. April
vor dem Eingang des Gebäudes steht.
Von diesem
Tag an laufen die Uhren der Schule anderes. Vorsicht ist jetzt
oberstes Gebot. Strenge Ein- und Ausgangskontrolle der Schüler
und Lehrer, Desinfektion des Gebäudes und keine Ausflüge
mehr in „gefährdete Gebiete“ ohne anschließende
Hausquarantäne. Einen Tag später liegen Mundschutz
und Fieberthermometer auf jedem Schreibtisch. Im Eingang stapeln
sich Reissäcke zur Versorgung des Schulpersonals. Und
das von einem Tag auf den anderen. Die Reaktion der Ningboer
ist verständlich. Die chinesische Regierung hat soeben
erste unzensierte Zahlen der SARS-Fälle im ganzen Land
bekannt gegeben – und die sind höher, als es sich die
Menschen in Ningbo vorgestellt haben.
Die 5,4
Millionenstadt Ningbo im Ausnahmezustand? Weit gefehlt. Nach
erster Panik und Angst kehrt nach kurzer Zeit wieder Ruhe
bei den Bewohnern ein. Schließlich gibt es in Ningbo
nach offiziellen Angaben bis heute keinen SARS-Verdachtsfall.
In der ganzen Provinz Zhejiang, in der Ningbo liegt, beläuft
sich die Zahl auf vier Erkrankungen und einen potentiell Inifizierten.
„Don’t panic but be careful“ lautet hier das allgemeine Motto.
Seit Ende April gibt es in einigen Ningboer Krankenhäusern
SARS-Stationen für den Notfall.
Es ist
leerer in den Straßen. Taxifahrer und Händler klagen
über mangelnde Kundschaft, und einige Bars und Restaurants
haben vorübergehend geschlossen. Die traditionellen chinesischen
Ärzte und Kräuterapotheken hingegen haben viel zu
tun. Viele Chinesen vertrauen auf bewährte Heilkräuter
und grünen Tee zur Vorbeugung. Auch wenn gegen die Angst vor
der Ansteckung noch kein Kraut gewachsen ist, nimmt das Leben
in Ningbo seinen gewohnten Gang. Eine Person mit Mundschutz
ist ein eher seltener Anblick. In dem deutschen Supermarkt
„Metro“ fordert ein Eingangsschild zum Maskentragen auf, aber
im Geschäft selbst trägt sie allenfalls das Personal.
Die Chinesen
bekommen nun ein paar Nachhilfestunden in Sachen Hygiene.
In öffentlichen Toiletten gibt es Seife und ausgiebiges
Händewaschen, und verstärkte Reinigung der Einrichtungen
ist an der Tagesordnung. Einige Chinesen fühlen sich auch
sicherer, wenn sie Essig in ihrer eigenen Wohnung verdünsten.
Über die vom Staat verkürzten Maiferien haben die meisten
Chinesen auf den Besuch ihrer Eltern und Ausflüge verzichtet
und sich lieber zu Hause ausgeruht. Vorschrift ist Vorschrift
und man möchte lieber nichts riskieren. Trotz aller Gelassenheit
der Chinesen fällt ihnen das Verdrängen der Gefahr
durch die Lungenkrankheit SARS schwer. „Feidian“ (Abkürzung
von ‘fei dian xing xing fei yan’, dem chinesischen Namen für
SARS) ist in der chinesischer Medienlandschaft Thema Nr.1.
Fernsehen, Radio und Zeitung versorgen ihre Landsleute rund
um die Uhr mit wissenschaftlichen Sendungen, Beiträgen
und Diskussionrunden zum Thema SARS. Ausländern ohne
chinesische Sprachkenntnisse in Ningbo bleibt leider nur der
Blick in den englischsprachigen Staatssender CCTV 9 oder in
einige Zeitungen. Aber dort gibt es bislang nur allgemeine
Angaben über die Lage in den verschiedenen Provinzen Chinas.
Daher reagieren wir Ausländer besonders auf eine der
unangenehmsten Nebenerscheinungen der SARS-Krise: Gerüchte
und Klatsch. Von dieser Quelle erfährt man meist zuerst,
ob es in Ningbo und Umgebung einen neuen Verdachtsfall gibt.
Aber zum Glück gibt es das Internet, über das die Botschaften
ihre ausländischen Bürger mit neuen Zahlen und Fakten
versorgen.
Franziska
Schnuhr, Praktikantin bei einer deutsch-chinesischen Bekleidungsfirma
in Ningbo, sieht die Situation gelassen: „Ich habe überhaupt
keine Angst wegen SARS. Ich trage keinen Mundschutz, fahre
wie immer mit dem Bus. Ich denke auch nicht, dass ich nach
Hause fahre, wenn es schlimmer wird. Gerade in Ningbo habe
ich keine Angst, weil hier weniger Leute Ein- und Ausreisen.
In den Metropolen Shanghai oder Peking würde ich mich nicht
so wohl fühlen.“ So entspannt wie diese Studierende aus Zwickau
sehen es nicht alle Ausländer. Auch wenn sich die meisten
dafür entschieden haben, erst einmal die Stellung zu halten,
haben einige schnell ihre Koffer gepackt und Ningbo für eine
Weile verlassen.
Die Bedrohung
scheint zwar nicht unmittelbar, ist aber auch nicht wegzuwischen.
Daher wird der Alltag eines jeden neu organisiert und die
kleinsten Dinge noch einmal überdacht: Vielleicht doch lieber
in den großen Supermärkten einkaufen als auf den
gut besuchten Obst- und Gemüsemärkten? Ist es wirklich
sinnvoll, den Mundschutz zu tragen, wenn man ein Taxi nehmen
muss oder einkaufen geht? Ist es gefährlich, in Stammrestaurants
und Bars zu gehen?
Letztendlich
ist die allgemeine Stimmung unter den Ausländern und
Chinesen jedoch entspannt und jeder findet, wenn auch mit
der nötigen Vorsicht, seinen eigenen Weg, um sich in
Ningbo weiterhin wohl zu fühlen. Und sei es mit schwarzem
Humor, den die ins häusliche Exil geflüchtete Internet-Gemeinde
verbreitet. Zum Beispiel zu den Vorteilen des SARS-Virus.
Die Kriminalität etwa sei zurückgegangen, weil die meisten
Bösewichte zu Hause bleiben. Die Staatsindustrie konnte
ihre Lager unverkäuflicher Arzneimittel und Mundschutzbinden
mit Gewinn abbauen. Und die Mitmenschen seien seit SARS viel
höflicher: Schon ein Hüsteln genüge, um im Bus einen
freien Platz zu bekommen.