Der
Pujiu-Tempel
und Notre Dame de Paris
Von Huo Jianying


Als
der Vorhang über dem Jahr 2003 aufging, wurden in China
zwei klassische Liebesdramen aufgeführt: die Pekingoper
Die Westkammer und das französische Musical
Notre Dame de Paris. Für die Scharen von Theaterbesuchern,
die sich diese Aufführungen ansahen, war es beide Male ein
Augen- und Ohrenschmaus.
Die
Autoren Wang Shifu und Victor Hugo stammen zwar aus verschiedenen
Gegenden der Erde, aus verschiedenen Ländern und Kulturen.
Dennoch weisen ihre Werke zahlreiche Gemeinsamkeiten auf.
Beide preisen das Streben nach Liebe und Freiheit und prangern
Feudalismus und herrschaftliche Willkür an. Sie stellen
die Benachteiligten und Unterdrückten als rechtschaffen
und mutig dar. Überdies liefert in beiden Stücken eine
religiöse Stätte – der Pujiu-Tempel und die Notre-Dame-Kathedrale
in Paris – die Kulisse für ein Meisterwerk der Bühnenkunst.
Romanze
in einem buddhistischen Kloster
Die
Westkammer spielt in der Regierungsdevise Zhenyuan (785–805) der Tang-Dynastie.
Die Geschichte beginnt mit einem Rasthalt von Madame Cui,
der Witwe des Premierministers, und ihren Kindern in Puzhou
(heute Kreis Yongji, Provinz Shanxi). Sie steigen auf ihrem
Weg nach Chang’an, der Hauptstadt der Tang, im „Hof zur
Birnenblüte“ ab, dem Gästehaus des Tempels. Zhang Junrui,
ein junger Gelehrter aus Luoyang, ist ebenfalls auf dem
Weg nach Chang’an, wo er die kaiserlichen Beamtenprüfungen
ablegen will. Er wohnt im Westflügel des Tempels.
Als
sich Zhang und Madame Cuis Tochter Yingying in der Tempelhalle
treffen, verlieben sie sich ineinander. Yingyings Zofe Hongniang
entgeht dies nicht und sie beschließt, den Frischverliebten
zur Seite zu stehen.
Wenig
später kommt es in der örtlichen Kaserne zu einer
Meuterei. Als der Rebellenführer von Yingyings Schönheit
erfährt, belagert er den Pujiu-Tempel mit der Absicht,
die junge Frau zu entführen. Ihre Mutter verspricht darauf
demjenigen, dem es gelingt, die Angreifer zu vertreiben,
die Hand ihrer Tochter.
Überglücklich
über diese Gelegenheit schreibt Zhang augenblicklich einen
Brief an seinen Klassenkameraden General Weißes Pferd,
der bald mit einer Streitmacht auftaucht, welche die Rebellen
überwältigt und in die Flucht schlägt. Doch Madame
Cui bricht ihr Wort. Zhang ist darüber dermaßen aufgewühlt,
dass er krank wird. Hongniang, die tiefes Mitgefühl für
den liebeskranken jungen Mann empfindet, überredet ihre
Herrin, sich um Mitternacht in den Garten zu stehlen und
Zhang dabei zuzuhören, wie er ihr, seiner Geliebten
auf der anderen Seite der Mauer, Klagelieder spielt. Hongniang
dient später als Botin zwischen Zhang und Yingying
und vereinbart schließlich ein geheimes Treffen für
sie. Die beiden schwören sich ewige Treue und haben
im darauf folgenden Monat ein nächtliches Stelldichein.
Als
Madame Cui von der Angelegenheit erfährt, gerät
sie in Rage und schilt Hongniang heftig für ihren Part in
der Verschwörung. Hongniang aber hält unbeirrt
dagegen, das junge Paar habe keine andere Möglichkeit
gehabt, als eine geheime Verlobung einzugehen, da Madame
Cui ihr eigenes Versprechen gebrochen habe, das den beiden
die Heirat erlaubt hätte.
Madame
Cui, sprachlos vor Verlegenheit, sieht sich gezwungen, ihre
ursprüngliche Zusage einzuhalten, besteht jedoch darauf,
dass Zhang die kaiserlichen Beamtenprüfungen bestehen muss,
bevor er Yingying heiratet. Widerwillig trennt sich Zhang
von seiner Geliebten und reist nach Chang’an, wo er ein
halbes Jahr später die Prüfung mit Bravour besteht:
Er erzielt das Spitzenresultat.
In
der Zwischenzeit bringt Madame Cuis Neffe Zheng Heng, mit
dem Yingying einst verlobt war, das Gerücht in Umlauf, dass
sich Zhang mit der Tochter eines hohen Beamten vermählt
habe. Wütend beschließt Madame Cui, Yingying an Zheng
zu verheiraten, doch glücklicherweise kehrt Zhang rechtzeitig
zurück und die Geschichte nimmt ein frohes Ende.
Während
die meisten chinesischen Liebesdramen als Tragödie
enden, sticht Die Westkammer heraus als Erzählung,
in der die Unterlegenen gegen den allmächtigen Feudalismus
gewinnen. Der Kampfgeist und das Happy-End dieser Oper machen
es zum Lieblingsstück der Massen, da es mit ihren eigenen
Wunschvorstellungen übereinstimmt.
Ursprünglich
trug das Werk, von Yuan Zhen (779–831), einem berühmten
Dichter der Tang-Dynastie (618–907), verfasst, den Titel
Die Geschichte von Yingying. Es wurde im 13. Jh.
von den namhaften Bühnenautoren Dong Jieyuan und Wang Shifu
für die Oper umgeschrieben. Aufgrund seiner packenden Handlung,
der meisterhaften Zeichnung der Charaktere und der reichhaltigen
Sprache ist es bis zum heutigen Tag eines der beliebtesten
Stücke geblieben, und viele seiner Arien werden weit herum
gesungen.


Ein
tausendjähriger Tempel
Der
Pujiu-Tempel, in dem Die Westkammer spielt, liegt
in Emeiyuan im Kreis Yongji, Provinz Shanxi. Es gibt keine
Aufzeichnungen über das Gründungsjahr des Tempels, doch
historischen Quellen und archäologischen Erkenntnissen
zufolge existierte es bereits, als die Sui-Dynastie 581
an die Macht kam. Damals hieß die Anlage noch „Westlicher
Yongqing-Tempel“. Sie wurde zur Mitte der Tang-Dynastie
in „Pujiu-Tempel“ umbenannt. In der Geschichte von Yingying
verweist Yuan Zhen wie folgt auf den Tempel: „Ein Dutzend
li (1 li = 500 m) östlich von Puzhou
liegt ein Mönchsquartier, der Pujiu-Tempel.“ Über
die letzten tausend Jahre wurde der Tempel mehrmals durch
Erdbeben und Brände zerstört und wieder aufgebaut,
zuletzt 1986.
Die
Tempelanlage umfasst mehrere Gebäude und einen Hinterhof.
Das Westzimmer, in dem Zhang untergebracht war, befindet
sich westlich der Halle des Großen Buddha, während
östlich davon der „Hof zur Birnenblüte“ zu finden ist,
wo Madame Cui und Yingying wohnten. Dazwischen steht die
Rote Mauer, neben der ein beeindruckender Mandelbaum wächst.
In der Erzählung erklimmt Zhang die Mauer mit Hilfe
dieses Baums, um Yingying zu treffen – eine Szene, die durchaus
mit den wahren Gegebenheiten übereinstimmt. Im Tempel wurde
eine Steintafel ausgegraben, in die ein Gedicht mit dem
Titel Der Pujiu-Tempel, ehemaliger Wohnsitz Yingyings
eingeschrieben ist. Es wurde von einem örtlichen Beamten
in der Dading-Periode (1161–1190) der Jin-Dynastie verfasst.
Dies zeigt, dass bereits vor acht Jahrhunderten der Pujiu-Tempel
für den Schauplatz des Westzimmers gehalten wurde.
Legendäre
Pagode
Das
berühmteste Bauwerk im Pujiu-Tempel ist die Yingying-Pagode,
ursprünglich schlicht „Stupa des Pujiu-Tempels“ genannt.
Dies ist der Ort, an dem sich Zhang und Yingying ihre Liebe
schwören. Ihre anmutige Form und die Rolle, die sie
im Westzimmer spielt, führten dazu, dass sie später
umbenannt wurde.
Die
Pagode wird auch für ihre architektonische Perfektion gerühmt.
Wie die meisten Tang-Pagoden ist sie ein rechteckiger, 13-stöckiger
Bau mit mehrschichtigen Dächern und einer Höhe
von 36,7 m. Was sie einzigartig macht, ist ihre bezaubernde
Akkustik. Die Pagode ist eines von vier erhaltenen alten
chinesischen Echo-Bauwerken – die anderen sind die Echo-Mauer
im Himmelstempel in Beijing, die Pagode des Baolun-Tempels
in Henan und die Steinharfe im Tempel des Riesigen Buddha
in Sichuan.
Aus
hochwertigen Backsteinen auf dem Rücken einer frei stehenden
Anhöhe gebaut, ist die Pagode ein perfekter Klangkörper,
deren Hohlraum den Widerhall der Schallwellen ermöglicht.
Schlägt man in 20 Metern Entfernung mit einem Stein
auf den Boden, hört man ein Echo, das an das Quaken
eines Frosches erinnert. Diese Erscheinung ist in den vor
mehr als 200 Jahren erstellten Annalen der Präfektur
Puzhou als „Pujiu-Frosch“ erwähnt.
Andere
bekannte Orte aus dem Westzimmer sind der Yingying-Pavillon
und die Mondanbetungswarte im Hinterhof.
Anhaltende
Anziehungskraft des Protagonisten aus dem Westzimmer
Dank
des dauerhaften Ruhms des Westzimmers zieht der Pujiu-Tempel
Scharen junger Leute an, die dort für ihr Eheglück beten.
Viele junge Paare halten ihre Hochzeitszeremonie im Westzimmer
ab.
Hongniang,
die kecke und lebhafte Magd, die einen wesentlichen Teil
zur Liebesbeziehung zwischen Zhang und Yingying beiträgt,
kennt in China jedes Kind. Ihr Name wurde zur Bezeichnung
für Ehestifterinnen. Es kommt schon einmal vor, dass sie
Zhang und Yingying in einer Opernaufführung die Schau stiehlt.
Gemäß
den neuesten Studien entsprach das Schicksal Yuan Zhens,
des Autors der Geschichte von Yingying, dem Gegenteil
der Erfahrungen seines Protagonisten Zhang. Als Nachfahre
der Herrscherfamilie der Nördlichen Wei-Dynastie besetzte
er verschiedene höhere Beamtenposten in der Verwaltung
der Tang. Die Frau, die er liebte, gehörte jedoch einem
fremden Volk an und war aus dem heutigen Usbekistan nach
Puzhou gekommen. Wegen des großen Abstands zwischen
ihnen, sowohl in ethnischer als auch in gesellschaftlicher
Hinsicht, stand ihre Beziehung unter einem schlechten Stern.
Doch die Literaten der folgenden Jahrhunderte schrieben
sein Werk in Die Westkammer um, eine freudigere Erzählung,
in der sich die Liebenden aus den Fesseln des Feudalismus
lösen und eine freie und glückliche Ehe erkämpfen.