Kaifeng
– eine alte Hauptstadt
Von
Tan Manni

Die Stadt Kaifeng, die am Südufer des Mittelaufs
des Huanghe – des Gelben Flusses - liegt, ist heute mehr als
2000 Jahre alt. Sieben Dynastien in der chinesischen Geschichte
hatten sie zu ihrer Metropole auserkoren, vor allem in der
Nördlichen Song-Dynastie (960 – 1127) galt sie als die
blühende Residenz der Welt. „Keine Stadt in der Welt ist so
reich wie Kaifeng“ – so sagte man damals von ihr.
Ein
Bild des realistischen Malers Zhang Zeduan „Flussufer-Szene
am Qingming-Fest“, entstanden im 12. Jahrhundert, gibt die
Situation eines belebten Marktes in Kaifeng jener Zeit genau
und naturgetreu wieder.
Dieses bekannte Bild hat viele Literaten
und Reisende dazu bewogen, diese alte Stadt einmal zu besuchen.
Auch ich war in diesem Sommer dort. Meine Freude war groß,
als ich die Geschäftsviertel in der Vorstadt, die Läden
in den Holzgebäuden und die belebten Märkte, die
von Handwerkern und Bauern nur so wimmelten, genauso vorfand,
wie das Werk „Flussufer-Szene am Qingming-Fest“ sie geschildert
hatte. Kaifeng ist dadurch, dass es als Stadt dennoch auch
die Besonderheit des Landes beibehalten hat, von den anderen
alten Hauptstädten Chinas - Xi’an, Luoyang, Beijing,
Naijing und Hangzhou -, die alles „richtige“ Städte sind,
ziemlich verschieden.
Bemerkenswert ist weiter, dass sich die
lokalen Sitten und Gebräuche sowie die Literatur und
Kunst aus der Nördlichen Song-Dynastie bis heute erhalten
haben und sich immer noch weiterentwickeln. In Kaifeng sind
viele historische Stätten und Ruinen zu finden, die uns
an die Vergangenheit der Stadt erinnern.
Nach 30 Jahren des sozialistischen Aufbaus
hat Kaifeng auch ein modernes Stadtviertel. In Hengjiaochun,
der Gegend der Regenbogen-Brücke, an der sich die „Flussufer-Szene
am Qingming-Fest“ einst abgespielt hat, ragt heute ein Synthese-Turm
der Kunstdüngerfabrik empor. An beiden Seiten der sieben Kilometer
langen Allee, die von Hengjiaochun bis zum Stadtzentrum führt,
stehen die Wohnhäuser der Arbeiter Wand an Wand.
Als
eine richtige Stadt in der Ebene von Osthenan wurde Kaifeng
von 1911 bis 1954 zur Hauptstadt dieser Provinz. In der Vergangenheit
mussten wegen ihrer strategisch wichtigen Lage die Militärmachthaber,
die Zentralchina erobern wollten, zuerst die Stadt Kaifeng
einnehmen. Unter dem Kuomintang-Regime war Kaifeng eine Konsumentenstadt
ohne nennenswerte Industrie, die Wirtschaft stagnierte. Nach
der Gründung des Neuen China wurden in Kaifeng 500 Fabriken
aufgebaut, in denen heute Traktoren, Autos, Landmaschinen,
Werkzeugmaschinen, Computer, Solarbatterien usw. hergestellt
werden. Mit der Inbetriebnahme der Wollwebereien und TV-Fabriken
wurde in Kaifeng in den letzten Jahren die Grundlage für die
Entwicklung der Leichtindustrie der Provinz Henan geschaffen.
Die Stadt Kaifeng nimmt eine Fläche
von 359 km2 ein und zählt 410 000 Einwohner,
von denen eine Hälfte Arbeiter und Angestellte sind.
Der Staat stellte ihnen vor kurzem neue Wohnungen mit einer
Gesamfläche von 340 000 m2 zur Verfügung,
während die alten Wohnungen gleichzeitig instand gesetzt
wurden. Alle Straßen und Gassen sind asphaltiert.
Residenz der Song-Zeit
Zhao
Kuangyin, ein Garnisonskammandeur der Späteren Zhou-Dynastie,
kam im Jahre 960 durch einen Staatsstreich an die Macht. Als
erster Kaiser der Song-Dynastie führt er den Zentralismus
ein und beendete damit den Zustand der feudalen Zersplitterung,
in dem lokale und regionale Militaristen die Herrschaft innegehabt
hatten. In der Gesellschaft herrschte nun Sicherheit, die
Wirtschaft entwickelte sich. In der Nördlichen Song-Dynastie
wurde der Handel von den Manufakturbetrieben in besondere
Geschäfte verlegt, die in den Straßen aufgemacht
wurden; auf den Märkten zirkulierten Papiergeld und Wechsel,
damals eine Weltneuheit; von Schießpulver angetriebene
Raketen wurden ebenfalls hier in Kaifeng zum ersten Mal erfolgreich
gestartet. Kultur und Wissenschaften entwickelten sich rasch;
in der Astronomie, der Kalligraphie und der Drucktechnik wurden
viele weltbewegende Leistungen vollbracht. Bi Sheng leistete
mit seiner weiltberühmten Erfindung des Druckverfahrens mit
beweglichen Lettern einen riesigen Beitrag zur Verbreitung
der Kultur.
Nach der Nördlichen Song-Dynastie begann
die Blüte Kaifengs zu vergehen. Infolge von Überschwemmungen
des Huanghe und von lang dauernden Kriegen wurden die Kulturdenkmäler
Kaifengs schwer beschädigt, besonders im Jahre 1642,
als Prinz Zhou der Ming-Dynastie in Kaifeng den Damm des Huanghe
brechen ließ, um die Kaifeng umzingelnden Truppen der
aufständischen Bauern zu vernichten; der Adel und die
Geldsäcke flohen per Schiff. Von den 370 000 Einwohnern
der Stadt Kaifeng waren nur noch 30 000 am Leben geblieben,
die meisten Häuser waren in fünf Meter tiefem Schlamm
versackt. Nur die „Eisen“- und die Po-Pagode, beide in der
Song-Zeit erbaut, blieben unversehrt.
Historisches
Die „Eisen“-Pagode, 13-stöckig, achteckig
und aus rostroten Ziegeln erbaut, wird als Wahrzeichen Kaifengs
betrachtet. Früher stand an ihrer Stelle eine Holzpagode,
in der während der Song-Zeit aus Indien hierher gebrachte
Buddha-Reliquien aufbewahrt worden waren. Als die Holzpagode
durch einen Blitzschlag verbrannte, wurde nach ihrem Vorbild
diese „Eisen“-Pagode erbaut. Trotz der Einflüsse der Überschnwemmung,
eines starken Erdbebens späterer Zeit und der Kanonenschüsse
der japanischen Invasoren in den 30er Jahren blieb sie unbeschädigt
erhalten. 1957 wurde sie wieder gemäß der Form,
die sie in der Song-Danystie gehabt hatte, renoviert.
Die Po-Pagode, 977 erbaut, zählt zu
den ältesten in Kaifeng noch erhaltenen Bauten. Sie war
ursprünglich neunstöckig, hat jetzt aber nur noch drei
Stockwerke; auf dem dritten Stock steht jedoch noch eine kleine
siebenstöckige Pagode. Man sagt, dass die eigenartige
Pagode auf das Ringen um die Thronfolge zurückführen soll.
Nachdem sein ältester Sohn gestorben war, bestimmte der
Ming-Kaiser Tai Zu seinen ältesten Enkel zum Kronfolger.
Darüber waren die Prinzen erbost, und ganz besonders der Prinz
Zu Xiao, der über die Stadt Kaifeng herrschte. Kaiser Tai
Zu hegte den Aberglauben, dass es in Kaifeng eine „Kraft“
gäbe, die Zu Xiao dabei helfen könnte, den Thron
an sich zu reißen. Um diese Kraft einzudämmen,
wurden auf Befehl des Kaisers die oberen sechs Stockwerke
der Po-Pagode abgetragen, des derzeit höchsten Gebäudes.
Später – in der Qing-Dynastie – wurde dann eine kleine
siebenstöckige Pagode auf dem dritten Stock aufgesetzt.
An die Außenseiten der Pagode wurden 33 cm3
großen Ziegel mit Nischen angebracht, in die Buddhafiguren
eingelassen sind.
Aus den Ruinen des majestätischen Palastes
der Nördlichen Song-Dynastie und des späteren Hofes
des Prinzen Zhou der Ming ragt eine große Halle mit
gelb glasiertem Dach hervor, die auf einer 13 m hohen Plattform
steht. Vor der Halle befindet sich ein aus Holz gestalteter
Longting („Drachen-Pavillon“), in dem früher eine Gedenktafel
an die kaiserlichen Ahnen aufgestellt war. An Festtagen drückten
die Minister und hohen Beamten hier vor dieser Tafel ihre
Verehrung aus. Die Plattform und der Drachen-Pavillon, die
heute noch existieren, wurden im Jahre 1934 umgebaut. Vom
Drachen-Pavillon aus hat man einen guten Überblick über
die ganze Stadt. Unten dehnt sich eine Straße, die früher
lediglich dem Kaiser diente, bis in weite Fernen; an beiden
Seiten der Straße drängt sich die Stadt. Am Horizont
ragen der Fernsehsender und hohe Gebäude des Kraftwerkes
und der Kunstdüngerfabrik empor, vor dem Pavillon liegen zwei
Seen, an deren Ufern man sich erfrischt; einige Leute rudern
mit Booten auf dem Wasser herum, andere kühlen sich schwimmend
ab.
Das weit und breit berühmte Xiangguo-Kloster
zählt zu den belebtesten Orten Kaifengs. Hier ist es
dem Besucher möglich, die seit der Nördlichen Song-Dynastie
bestehenden Tradition aufzuspüren.
Im Jahre 555 wurde das Jianguo-Kloster auf
einem Gelände erbaut, auf dem in der Zeit der Streitenden
Reiche der Hof des Bruders des Königs von Wei gestanden
hatte. Es wurde jedoch bald vernachlässigt und war dann
in der Tang-Zeit nur noch ein Privatgarten. Später kaufte
ein wandernder Mönch namens Shanghui aus Spendengeldern
den Garten auf und ließ darin wieder ein Kloster errichten.
Sein Name lautete wiederum „Jianguo-Kloster“. Im Jahre 712
erschien dem Kaiser Rui Zong die Buddhafigur des Jianguo-Klosters
im Traum und offenbarte ihm die Natur ihrer Heiligkeit. Er
betrachtete diesen Traum als ein Symbol des Glücks für ihn
und ließ das Jianguo-Kloster in Xiangguo-Kloster umbennen,
weil ihm vor seiner Thronbesteigung der Titel „Prinz Xiang“
verliehen worden war.
In der Tang- und Song-Zeit bot das Kloster
mit seinen vielen Hallen und Mönchszellen ein majestätisches
Bild. In der Song-Zeit gab es hier mehrere Wandgemälde
bekannter Maler der Tang- und Song-Dynastie. Die Kaiser der
Song-Zeit kamen sehr oft hierher, um zu Buddha zu beten. Am
Ende der Ming-Zeit wurde das Xiangguo-Kloster durch die Überschwemmung
in Trümmer gelegt. Der Qing-Kaiser Qian Long ließ das
Xiangguo-Kloster dann von neuem erbauen. Jetzt gibt es im
Kloster noch drei hintereinander stehende große Hallen,
verschiedene Pavillons und eine Halle mit einem achtstöckigen,
glasierten Dach, durch das eine aus einem Ginkgo-Stamm geschnitzte
Statue der Bodhisattwa Guanyin mit tausend Armen ragt.
Seit der Song-Zeit ist die Gegend des Xiangguo-Klosters
auch Handelszentrum und Verkehrsknotenpunkt. Das Kloster beherbergt
zur Zeit des Jahrmarktes zehntausend Menschen. Hier kann man
Geschichtenerzähler hören, man kann Akrobaten, Sumo-Ringer,
Marionettentheater, Schattenspiel und andere Kunststücke sehen.
Auch Weissager und Ärzte gehen auf dem Markt ihren Tätigkeiten
nach.
Dieser traditionelle Markt mit verschiedenen
Spielen findet bis in die heutige Zeit hinein statt, und zwar
hauptsächlich in Xixiang, an der Straße westlich
des Xiangguo-Klosters. Im südlichen Teil der Straße
verkaufen Straßenhändler Kleidung, Metallwaren
und andere Alltagsgebrauchsgegenstände. Im nördlichen
Teil sind Imbiß-Buden, Gaststätte, Balladen- und
Kunsthäuser, Theater und Kinos zu finden. An beiden Seiten
der Straße vor dem Xiangguo-Kloster verhökern Bauern
ihr Gemüse und Obst. Der Handel läuft wie geschmiert,
und es herrscht reger Verkehr, was einen schon an das Bild
„Flussufer-Szene am Qingming-Fest“ erinnern kann.
In Kaifeng wurden manche Straßen nach
Persönlichkeiten in der Geschichte benannt. Die „Baofujia“
war 1056 eine Straße, in der sich der Gerichtshof und
das Wohnhaus von Bao Cheng, des Präfekten von Kaifeng,
befanden. Bao Cheng war ein aufrechter und rechtsschaffener
Beamter, der das Gesetz sehr streng beachtete. Die „Youliangsi-Straße“
war eine Stätte, wo Menzius im 4. Jahrhundert v. u. Z.
den König des Wei-Staates von seinen Behauptungen überzeugte.
„Yangjiahu“, der See vor dem Drachen-Pavillon, war in der
Song-Dynastie ein Ort, wo die Familie Yang Ye wohnte, heldenhafte
Kämpfer gegen die Invasion der Khitan-Tartaren. Das Buch
und die Peking-Oper „Die Generalinnen der Familie Yang“ erzählen
von der Geschichte Yang Yes und seiner Familie.
Malereien und Stickereien
Die Malereien der Song-Zeit gehören
zum kostbaren Kulturschatz Chinas. In der Song-Dynastie versammelten
sich Maler in Kaifeng und machten hier in der Maltechnik auf
der Basis der Malerei der Sui- und Tang-Zeit große Fortschritte.
In der Nördlichen Song-Dynastie gelangte
die traditionelle chinesische Malerei mit Blumen- und Vogelmalereien
sowie Frauen- und Landschaftsgemälden zu ihrer Blütezeit.
Der achte Kaiser der Song-Dynastie, Zhao Ji, war ein bekannter
Maler mit reichen Erfahrungen. Sowohl seine Blumen- und Vogelmalereien
wie auch seine kalligraphischen Werke zählen zu den kostbaren
ihrer Art in China.
Das Bild „Flussufer-Szene am Qingming-Fest“
von Zhang Zeduan ist typisch für die Song-Malerei. Es war
mehrmals verloren gegangen und wurde dann wieder aufgefunden;
es wird jetzt im Palast-Museum zu Beijing aufbewahrt. Beim
Bau der „Song-Stadt“ als Reiseziel für Touristen lehnte man
sich ebenfalls einigermaßen an dieses Bild an.
In Kaifeng ist das Studium der Kalligraphie
sehr populär. Im Museum werden 1500 Steintafeln aufbewahrt,
in die kalligraphische Inschriften mehrerer Dynastien eingemeißert
sind. In Restaurants, Warenhäusern, Schulen und Familien
werden kalligraphierte Schriftrollen gern als Dekorationen
benutzt. Im Xiangguo-Kloster und in den Parks demonstrieren
Kalligraphen oft ihre Kunstfertigkeit und Technik. In den
Frühlingsfesttagen gehen sie aufs Land, um den Bauern die
traditionellen doppelten Spruchreihen an die Torpfosten zu
schreiben.
In der Nördlichen Song-Dynastie wurde
am Hofe die Akademie für Stickerei eingerichtet, in der 300
Stickerinnen für den Kaiser und seinen Hofstaat arbeiteten.
Die Shiguxiu-Gasse in der Nähe des Xiangguo-Klosters
war damals auch für Stickerei bekannt. Nach dem Sturz der
Nördlichen Song-Dynastie wurde die Residenz nach Süden
verlegt, und eine Anzahl Stickerinnen musste mitkommen. Sie
sind die Vorfahren vieler bekannter Stickerinnen in Suzhou.
Zur Zeit der Gründung des Neuen China 1949
war die Technik der Kaifeng-Stickerei vergessen. 1955 rief
die Volksregierung Stickerinnen aus sieben Familien, bei denen
die Stickkunst von Generation zu Generation überliefert worden
war, zusammen und ließ sie anhand einer Menge von Fragmenten
der Kaifeng-Stickerei die alte Technik studieren. Später
wurde die Fabrik für die Kaifeng-Stickerei gegründet, und
heute arbeiten in der Fabrik mehr als 360 Stickerinnen. In
der von ihnen hergestellten Stickerei „Flussufer-Szene am
Qingming-Fest“ wird die gleichnamige, 525 cm lange und 25
cm breite Song-Malerei, in der 550 Merschenfiguren, 50 Stück
Vieh und viele Wagen, Sänften, Schiffe und Häuser
dargestellt sind, oringinalgetreu wieder gegeben. Diese Stickerei
zeichnet sich durch die schlichte Form, ruhende Eleganz, gute
Komposition und klare Abstufungen sowie durch den lebendigen
Ausdruck aus.
Aus
„China im Aufbau“, Nr. 11, 1981