Deutsche
Literatur in China
Von
Liu Luyuan
Wie vor fünfzig Jahren stellen heute deutsche
Freunde, mit Ausnahme der China-Experten, folgende Fragen:
Liest das chinesische Volk gern deutsche Literatur? Welche
bekannten Werke werden gelesen? Wurden diese Werke auf dem
Umweg über Englisch oder Japanisch übersetzt?
Aber es ist doch so, dass schon vor fünfzig
Jahren deutsche Literatur dem chinesischen Volk bekannt war.
Lu Xun (Lu Hsün) etwa, der Begründer der modernen chinesischen
Literatur, der Deutsch konnte, hatte schon Anfang dieses Jahrhunderts
den chinesischen Leser mit deutschen Texten bekannt gemacht.
Er hatte dem chinesischen Publikum auch die Holzschnitte von
Käthe Kollwitz vorgestellt (siehe dazu den Artikel „Lu
Hsün und die deutsche Graphik“ – „China im Aufbau“ Nr. 1/1979).

Gebildete Jugendliche, die sich in der 4.
Mai-Bewegung bewährt hatten, diskutierten damals über
den Charakter von Werther, (Hauptfigur in dem Briefroman Goethes
„Die Leiden des jungen Werthers“) und fanden, dass sie selbst
das gleiche Schicksal wie Charlotte erlitten - die Unterdrückung
durch den Feudalismus. Der hervorragende romantische Dichter
Guo Moruo (Kuo Mo-jo) war es, der diesen berühmten Roman -
ein repräsentatives Werk der deutschen Literatur des
18. Jahrhunderts - aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzte
und dadurch auf viel Sympathie stieß.
Zu dieser Zeit gründeten der bekannte Lyriker
Feng Zhi und andere Dichter die „Gesellschaft der versunkenen
Glocke“, mit der Absicht, Raum für eine neue chinesische Poesie
zu schaffen. Sie waren von G. Hauptmanns Werk „Die versunkene
Glocke“ angeregt worden. Andere Werke des Dichters, wie „Die
Weber“, „Der Biberpelz“ und „Vor Sonnenaufgang“ wurden damals
auch ins Chinesische übersetzt.
In den zwanziger, dreißiger Jahren
übersetzte Guo Moruo einige lyrische Gedichte von J. W. noch
Goethe, die dann großen Einfluss auf die chinesischen
Schriftsteller ausübten. „An den Mond“, „Wanderers Nachtlied“,
„Mignon“ und andere wurden bei den chinesischen Lesern so
beliebt wie manche klassischen chinesischen Gedichte. Außerdem
übersetzte Guo Moruo große klassische Dramen von F.
von Schiller wie die Wallenstein-Trilogie und „Immensee“ von
Theoder Storm. „Immensee“ fand wie „Die Leiden des jungen
Werthers“ von Goethe wegen des aktuellen Bezugs zum Kampf
gegen den Feudalismus und wegen der vollendeten Form bei vielen
jungen Lesern starken Widerhall. „Immensee“ wurde später
von dem berühmten chinesischen Roman-Schriftsteller Ba Jin
noch einmal neu übersetzt. Zu dieser Zeit kam auch der weltbekannte
Kriegsroman von E. M. Remarque „Im Westen nichts Neues“, der
als moderne Literatur betrachtet wurde, auf Chinesisch heraus.
Dadurch wurde es für chinesische Leser möglich, das deutsche
Volk der damaligen Gegenwart besser kennen lernen.
Während der Zeit des Widerstandskrieges
gegen die japanische Aggression wurde dann „Faust“, von Guo
Moruo übersetzt, veröffentlicht. Das war ein großes
Ereignis in der Geschichte des chinesischen deutschen Kulturaustausches.
„Grau ist alle Theorie, und grün des Lebens
goldener Baum“, dieser Ausspruch Goethes ermunterte damals
chinesische Jugendliche, ihr Leben neu zu überprüfen und einzuschätzen.
Damals wurden auch in Yan'an die Schauspiele
„Professor Mamlock“ und „Das Trojanische Pferd“ von F. Wolf
von Xiao Shan übersetzt. (Yan'an war damals der Sitz des Zentralkomitees
der Kommunistischen Partei Chinas. Von dort aus leitete die
KP das chinesische Volk im Widerstandskrieg gegen die japanische
Aggression an und später zum Befreiungskrieg). Diese
beiden zeitkritischen Stücke, zu denen der antifaschistische
Kampf motiviert hatte, wurden mehrmals auf chinesischen Bühnen
gezeigt und fanden unter den revolutionären Volksmassen
großen Anklang.
So wurde die deutsche Literatur schon Jahre
vor der Befreiung erfolgreich bei dem chinesischen Publikum
eingeführt. Aber das Ganze blieb doch nur der Eigeninitiative
einer winzigen Zahl Übersetzer überlassen. Erst nach
Gründung des Neuen China wurde der Büchervertrieb systematisch
angegangen, wurden Werke der deutschen Literatur in den Verlagsplan
eines staatlichen Verlages aufgenommen. Es ging darum, eine
neue Volkskultur zu entwickeln, die man aber nur entwickeln
konnte, wenn man von der Weltliteratur, also auch von der
deutschen Literatur lernte. An Universitäten und Hochschulen
konnte man Germanistik studieren. Viele der damaligen Studenten
sind heute auf literalische Übersetzungen spezialisiert.
Feng Zhi und andere, schon ältere Germanisten, geben
heute Einführungen in die deutsche klassische Literatur, aber
bei den jüngeren Germanisten besteht auch großes Interesse
an der modernen deutschen Literatur.
Während vor der Befreiung einige Werke
nicht direkt aus dem Original, sondern nur auf dem Umweg über
eine zweite oder dritte Sprache, übersetzt werden konnten,
wurden im Gegensatz dazu nach der Befreiung die meisten Werke
direkt nach dem Originaltext übersetzt. Das hat natürlich
zu einer eindeutigen qualitativen Verbesserung geführt.
Nach Gründung der VR China wurden Werke
von Goethe, Schiller, Heine und anderen planmäßig
herausgegeben. Darunter waren die von Guo Moruo verbesserten
Übersetzungen von „Faust“, „Die Leiden des jungen Werthers“,
„Hermann und Dorothea“ und „Wallenstein“. Außerdem brachte
man Märchen der Brüder Grimm, Märchen von W. Hauff,
und von A. von Chamisso und anderen sowie das Epos „Nibelungenlied“
auf den Bühnenmarkt und Werke moderner Schriftsteller wie
„Buddenbrooks“ von Thomas Mann, „Erziehung von Verdun“ von
A. Zweig, „Goya“ von L. Feuchtwagner, „Zeit zu Leben und Zeit
zu sterben“ von E. M. Remarque, „Krieg“ und „Trini“ von L.
Renn sowie Werke von F. Wolf, B. Brecht und Anna Seghers.
Ende der sechziger Jahre war in der Entwicklung
der Kunst und Literatur Chinas ein Stillstand eingetreten.
Das war das Ergebnis des damaligen Kulturdespotismus, in diesem
Zusammenhang dadurch versucht, dass alles Ausländische
durch die Viererband verboten worden war. Ausländische
Bücher und somit auch Übersetzungen aus dem Deutschen
wurden nicht mehr vertrieben. Die Werke von Goethe, Schiller,
Balzac, Dickens und Tolstoi waren aus den Buchhandlungen und
Bibliotheken verschwunden. Insbesondere die Jugendlichen,
die praktisch an keine Werke ausländischer Schriftsteller
herankommen konnten, waren über diesen von der Viererbande
verursachten Zustand einer "geistigen Wüste" verärgert.
Erst nach der Zerschlagung der Viererbande durch das chinesische
Volk, unter Führung des Vorsitzenden Hua Guofeng, und nachdem
man auf dem Gebiet der Kunst und der Literatur die Arbeit
wieder aufgenommen hatte, begann man auch wieder mit Übersetzungsarbeiten.
Um den dringenden Bedarf an ausländischer
Literatur zu decken, wurde im vorigen Jahr eine Anzahl alter
Übersetzungsarbeiten von weltbekannten Werken wieder
herausgegeben, darunter „Faust“, „Wilhelm Tell“, „Kabale und
Liebe“, „Ausgewählte Gedichte“ von Heine, „Ausgewählte
Märchen“ von den Brüdern Grimm, und „Buddenbrooks“ von
Thomas Mann. Kurze Zeit später brachte man dann auch
„Deutschland, ein Wintermärchen“ von Heine, übersetzt
von Feng Zhi, das Epos „Atta Troll“ heraus und Gedichte von
Georg Weerth, der von Engels als „erster und bedeutendster
Dichter des deutschen Proletariats“ bezeichnet wurde.
Plangemäß werden auch „Ausgewählte
Gedichte“ und „Neue Lieder“ von Geothe, Lessings Dramen „Nathan
der Weise“ und „Emilia Galotti“, Goethes „Wilhelm Meisters
Lehrjahre“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, „Aus meinem
Leben“ und „Dichtung und Wahrheit“, „Effi Briest“ von T. Fontane,
„Der Untertan“ von Heinrich Mann, und „Der Zauberberg“ von
Thomas Mann erscheinen.
Was die Theorie betrifft, haben chinesische
Leser deutsche Schriftsteller größeres Interesse
an der klassischen deutschen Ästhetik. Vor kurzem wurden
deshalb auch Schriften von Clara Zetkin und F. Mehring veröffentlicht,
und bald werden Lessings „Laokoon oder über die Grenzen von
Malerei und Poesie“, sowie J. P Eckermanns „Gespräche
mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, übersetzt
von Professor Zhu Guangqian, der auch Hegels „Ästhetik“
und andere Bücher, die klassische deutsche Ästhetik betreffend,
übersetzt hat, erscheinen. Heines „Die Romantische Schule“,
der erste Band der „Geschichte der neueren schönen Literatur
in Deutschland“ wird auch bald in den Buchhandlungen zu haben
sein; „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland
erschien schon in der letzten Zeit. Da das chinesische Volk
gerne Heine liest und an der Geschichte der deutschen Kultur
interessiert ist, begann man an der Peking-Universität
eine "Geschichte der deutschen Literatur“ zu verfassen.
Auf dem Verlagsplan für 1978 standen aber
auch moderne Werke, wie Werke von Heinrich Böll, Günter
Grass, Siegfried Lenz, Max von der Grün und andere. Die darin
angeschnittenen Themen und die verschiedenartigen Stile werden
es den chinesischen Lesern ermöglichen, das deutsche
Volk besser zu verstehen.
Außerdem schenkt man in China der
deutschsprachigen Literatur aus anderen Ländern Aufmerksamkeit.
Ein Sammelband mit Novellen des schweizerischen Schriftstellers
G. Keller wurde schon vor zehn Jahren herausgegeben, sein
bekannter Künstler- und Entwicklungsroman „Der grüne Heinrich“
wird bald erscheinen. Die Komödie des bekannten schweizerischen
Dramatikers F. Dürrenmatt „Der Besuch der alten Dame“ kommt
bald in einen Sammelband weltbekannter Theaterstücke heraus,
und die bisher nur einzeln erschienenen Novellen des österreichischen
Schriftstellers Stefan Zweig werden auf Wunsch der Leser als
Sammelband auf den Markt kommen. Reportagen des tschechischen
Journalisten und Schriftstellers E. E. Kisch, die dieser in
deutscher Sprache schrieb und durch die die Reportage zu literalischem
Rang erhoben wurde, werden unter dem Titel „Der rasende Reporter“
bald gedruckt werden.
Deutsche Literatur ist in China beliebt,
und die Leser hoffen darauf, dass sie künftig mehr von deutschen
Schriftstellern zu lesen bekommen. Mit dem Ausbau des Kulturaustausches
zwischen China und Deutschland wird dies sicher möglich
werden.
(Aus Nr. 2 von „China
im Aufbau“, 1979)