Juni 2002
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Sonderberichte

Wie international ist Beijing?

Von Olivier Roos

„Hello!“ – wenn Sie hier in Beijing oder anderswo in China leben und man Ihnen auf einen Blick ansieht, dass Sie aus dem Ausland kommen, bin ich sicher, dass Sie beim Lesen dieses Worts automatisch die „richtige“, eigenartig steigende Intonation in Ihrem Kopf gehört haben. Doch was, werden Sie sich wohl fragen, hat „Hello!“ damit zu tun, wie international Beijing ist? In den letzten Jahren ist die Anzahl der Ausländer in der Hauptstadt stetig gestiegen, immer mehr Leute kommen her, um Chinesisch zu lernen, und nach dem WTO-Beitritt Chinas im letzten Jahr werden bestimmt noch mehr Firmen aus dem Ausland ihre Fachkräfte hierher schicken. Doch ob eine Stadt international ist oder nicht, lässt sich nicht allein aufgrund von Zahlen beurteilen. Maßgebend ist in meinen Augen, wie sich das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Ausländern gestaltet, wie ihr Verhältnis ist – und hier kommt „Hello“ ins Spiel.

Zu diesen Zeilen bewegte mich die folgende Begebenheit. An einem der freien Tage in der ersten Maiwoche fuhr ich mit meiner Frau zur Einkaufsmeile am Xidan. Wir nahmen die öffentlichen Verkehrsmittel und stiegen in Xizhimen in die U-Bahn um. Da wir nur eine Station fahren würden, setzten wir uns gar nicht erst, sondern blieben bei den Türen stehen. Kaum war der Zug losgefahren, stand auf einmal eine Frau mit ihrer vielleicht 9-jährigen Tochter vor uns. Die Kleine grinste uns an, sagte: „Hello!“, ihre Mutter lächelte etwas verlegen, und nach dieser Darbietung setzten sie sich wieder an ihren Platz. Meine Frau und ich verzogen ein wenig das Gesicht, denn ehrlich gesagt, wir waren leicht genervt. Nun mögen Sie einwenden: Was ist schon dabei, wenn ein junges Mädchen von ihrer Mutter dazu aufgefordert wird, vor Ausländern ihre Englischkenntnisse vorzuführen? Das ist doch süß, weshalb sollte man sich darüber ärgern?

Was mich daran störte, und was mich nachdenklich machte, war, dass es den beiden – oder wohl eher der Mutter – nicht darum ging, irgendwie mit uns in Kontakt treten zu wollen. Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass die Frau die Anwesenheit zweier Ausländer zum Anlass nahm, ihre Tochter ein kleines Kunststück für die Freunde und Verwandten, die im selben Wagen saßen, aufführen zu lassen. Obwohl die Kleine ihr „Hello!“ an uns richtete, sprach sie eigentlich die Zuschauer an. Es war nicht als Kommunikation gemeint, sondern als Schau. Sie hätte ebenso gut gegen eine Wand sprechen können. Ich aber habe, mit Verlaub, keine Lust mehr, als Kulisse für solche Späße herzuhalten. Mir wäre es lieber, einfach ganz normal als Mensch behandelt zu werden.

Vielleicht war alles nur ein Missverständnis und ich habe die ganze Situation falsch gedeutet. Vielleicht waren die zwei, drei „Hello!“-Rufe, die wir in Xisi, am oberen Ende des Xidan, vernahmen, nicht so herausfordernd gemeint, wie sie in unseren Ohren klangen. Es mag auch gut sein, dass die Leute durch die Ferienstimmung der ersten Maiwoche besonders aufgeräumt waren und sich zu kühnen Taten hinreißen ließen. Gerne würde ich es glauben, wenn ich Ähnliches nur nicht schon öfter erlebt hätte, und wenn sich nicht so viele meiner ausländischen Freunde über die gleichen Erfahrungen beklagen würden.

Nun muss ich aber doch die Verhältnisse zurechtrücken: Die „Hello!“-Rufer sind, verglichen mit den Hunderten, ja Tausenden, deren Wege man in dieser Stadt täglich kreuzt, eine verschwindend kleine Minderheit, und diejenigen in Xisi nahm ich nicht zuletzt deshalb wahr, weil ich schon seit längerem keine gehört hatte. Nur haben diese Tausenden das Pech, dass die wenigen „Hellos!“ sehr unangenehm auffallen und sich – wie es der menschlichen Natur entspricht – unliebsame Erlebnisse besonders tief ins Gedächtnis brennen. Doch, und dies sei betont, ich bin sehr gerne in Beijing. Über alles gesehen finde ich die Leute hier sympathisch, sie sind gemütlich, gesellig, lachen gern. Für jedes „Hello!“ fällt mir mindestens ein unterhaltsames, interessantes Gespräch ein, das sich irgendwann, zumeist im Taxi, zufällig ergeben hat – ein normaler Austausch eben, echte Kommunikation zwischen zwei Menschen, mögen sie noch so verschieden sein.

Als ich im Herbst 2000 wieder nach Beijing kam, hatte ich den Eindruck, dass die Leute es schon eher gewohnt waren, Ausländer zu treffen, und weniger überrascht waren als fünf Jahre zuvor, wenn diese auch noch Chinesisch sprechen. Leute aus fremden Ländern gehören ohne Zweifel immer mehr zum Straßenbild. Wirklich international wird Beijing sein, wenn der Anblick eines „laowai“ kein Aufsehen mehr verursacht, wenn Ausländerinnen und Ausländern nicht mehr „Hello!“ nachgerufen wird, kurz: wenn ihre Anwesenheit für selbstverständlich genommen wird. Dann werden auch die Plakate mit Slogans wie „Beijingers are friends to all the world“ nicht mehr nötig sein, die vornehmlich in der Gegend um Sanlitun hängen. Große Lettern stehen immer im Verdacht, Wirklichkeit nicht so sehr wiederzugeben, sondern sie vielmehr schaffen zu wollen.

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