Neuer
Weg zum Reichtum für die Bauern
Von
Li Xia

Die 32-jährige Li Lianfen sieht in
der touristischen Hochsaison ihren Mann und ihren Sohn nur
einmal in der Woche, denn sie führt in ihrem Haus eine kleine
Pension für Touristen, die die ländlichen Sitten und
Gebräuche kennen lernen möchten. Sie ist sowohl
Gastgeberin als auch Dienerin. Außerdem muss sie sich
um viele Kleinigkeiten kümmern und hat deshalb überhaupt keine
Zeit mehr für den Haushalt. Ihr Sohn besucht eine Grundschule
in der Kreisstadt, die über 20 km von ihrem Dorf entfernt
liegt, und übernachtet in einer vorübergehend gemieteten Wohnung
in der Kreisstadt bei seinem Vater, der Lehrer an einer Mittelschule
ist.
Li
Lianfens Familie besteht aus fünf Angehörigen in drei
Generationen: Schwiegervater, Schwiegermutter, Vater, Mutter
und einem siebenjährigen Sohn. Der Schwiegervater ist
Manager eines Landschaftsgebiets und spielt, wie es der chinesischen
Tradition entspricht, auch in der Familie eine führende Rolle.
Die Schwiegermutter kümmert sich um die Familienangelegenheiten.
Alle fünf leben im Wohlstand. Anfangs, als die anderen Haushalte
im Dorf begannen, Touristen Unterkunft und Verpflegung anzubieten,
nahm die Familie Li eine abwartende Haltung ein. Aber später
beschloss Frau Li, ihrem Beispiel zu folgen, weil sich damit
eine zusätzliche Einnahmequelle eröffnete.
Das
Dorf Shicheng im Kreis Miyun, wo die Familie Li lebt, liegt
etwa 100 km von Beijing entfert. Rings um dieses Dorf stehen
Berge, wo es Wasserfälle, Schluchten und Obstgärten
gibt. In den Monaten zwischen März und Oktober ist dieses
Dorf besonders schön: Die Bergblumen sind in voller Blüte,
die Pflanzen grün und der Miyun-Stausee ist wieder voll mit
Wasser. Was für eine bezaubernde Landschaft für Touristen!
Ein anderer wichtiger Grund für die zunehmende
Touristenzahl in Shicheng liegt darin, dass die chinesische
Wirtschaft in den vergangenen 20 Jahren große Fortschritte
gemacht hat. Viele Stadtbewohner haben einen bescheidenen
Wohlstand erreicht. Ein deutliches Kennzeichen dafür ist,
dass sich einige heute ein Auto leisten können. Das vergünstigt
einen Ausflug. Seit zwei Jahren machen immer mehr Menschen
einen Ausflug in die Vororte Beijings.
Der
Kreis Miyun hat eine lange Geschichte. Hier gibt es zahlreiche
natürliche und historische Sehenswürdigkeiten. Die bekanntesten
von ihnen sind die Große Mauer bei Simatai, der einstmals
strategisch wichtige Pass Gubeikou und eine kaiserliche Sommerresidenz.
Die natürlichen Sehenswürdigkeiten wie die staatlichen Waldparks
Wulingshan und Yunmengshan sowie das Landschaftsgebiet Taoyuan
Xiangu können als die „schönsten natürlichen Sehenswürdigkeiten
Beijings“ bezeichnet werden. Das Miyun-Reservoir versorgt
die Stadt mit Trinkwasser und ist zugleich eine schöne
Attraktion für Touristen. Obwohl China ein großes Agrarwirtschaftsland
ist, ist das Leben auf dem Land für viele Stadtbewohner sehr
fremd. Gerade die Stadtkinder haben kaum je ein Schwein oder
ein Schaf zu Gesicht bekommen. Einige Tage bei einer Bauernfamilie
zu verbringen und damit das Leben auf dem Land zu genießen,
das ist der Wunsch vieler Beijinger.
Die
Nachfrage nach Urlaub auf dem Land hat den Bauern einen neuen
Weg zum Wohlstand eröffnet. Bekanntlich sind viele chinesische
Bauern dank der Entwicklung der ländlichen Kleinindustrie
reich geworden. Diese Möglichkeit gab es für die Bauern
in Miyun aber nur sehr beschränkt, denn nach dem Bau
des Miyun-Reservoirs in den 50er Jahren wurden die Fabriken
hier geschlossen oder in andere Orte verlegt, damit das Wasser,
das für die ganze Stadt Beijing als Trinkwasser dient, sauber
bleibt.
Wie
andere Dörfer in bergigen Gebieten Chinas war auch das
Dorf Shicheng vor den 80er Jahren sehr rückständig. Obwohl
die Kreisstadt nur 25 km entfernt liegt, gab es nur wenige,
die sie besucht hatten. Einmal in die Hauptstadt Beijing zu
fahren war der Traum vieler Bauern, denn sie konnten sich
überhaupt nicht vorstellen, war für ein „glückliches“ Leben
die Städter führten.
Heute hat sich das geändert. Die Bauern
begegnen im Dorf fast jeden Tag städtischen Besuchern.
Diese kommen für einen Ausflug hierher, pflücken selber Obst
im Obstgarten, probieren Wildgemüse und schlafen auf dem Kang,
einem gemauerten, beheizbaren Bett – kurz gesagt, sie führen
hier das Leben, an das die Bauern seit Generationen gewöhnt
sind. Und dank ihrer Ankunft sind die Bauern reich geworden.
Zugleich
räumt die Kreisregierung den Bauern viele Vorzugsbedingungen
ein. Familien wie diejenige von Li Lianfen, die nur ein Kind
haben, können bei der Bank einen zinslosen Kredit aufnehmen.
Außerdem gewährt die Kreisregierung den Bauern
finanzielle Unterstützung. Beispielsweise dürfen die Bauern
einen Obstgarten anlegen oder die Nutzungsrechte am Boden
zu einem anderen Zweck verwenden. Wenn der Anteil der Haushalte,
die eine Pension führen, in einem Dorf 40% übersteigt, investiert
die Kreisregierung in den Aufbau der Infrastruktur. Das Tourismusamt
des Kreises Miyun hat außerdem eine Verwaltungsstelle
für solche Haushalte gegründet, um die Dienstleistungsqualität
im touristischen Bereich zu garantieren.
Nach
über 20 Jahren wirtschaftlicher Entwicklung in China ist den
Behörden auf verschiedenen Ebenen, vor allem aber den
Kreisregierungen, bewusst geworden, dass der Getreideanbau
nicht der einzige Weg ist, um die Existenz der Bauern zu sichern
und sie zu Wohlstand zu führen. Viele Gebiete verfügen über
ein großes Entwicklungspotential, und man kann es auf
verschiedene Weise erschließen. Jia Haijiang, Vizeleiter
der Propagandaabteilung der Kreisregierung Miyun, sagt, dass
die Kreisregierung die wirtschaftliche Struktur reguliert
hat, damit die Wirtschaft auf dem Land weiter wächst
und der Lebensstandard der Bauern ständig erhöht
werden kann. Heute wird im Kreis Miyun kaum mehr Getreide
angebaut. Man hat die Produktion auf den Anbau von Obst, Gemüse
und Nutzpflanzen sowie auf die Entwicklung der Vieh- und Forstwirtschaft
verlagert. Im ganzen Kreis wurden über 400 wirtschaftliche
Organisationen gegründet, deren Aufgabe darin liegt, die Bauern
bei der Nutzung der Ressourcen und bei der Erschließung
der Märkte anzuleiten.
Zur
gleichen Zeit wurden einige Betriebe für die Verarbeitung
von Agrar- und Agrarnebenprodukten gegründet. Ein inländisches
Großunternehmen wurde mit dem Aufbau der Milchviehzucht
beauftragt. Dank der Gründung solcher Betriebe sind die Bauern
in Miyun zu einem gewissen Wohlstand gekommen. Im letzten
Jahr betrug das jährliche Pro-Kopf-Einkommen über 4000
Yuan. Unter allen Kreisen Beijings war dies zwar nicht das
höchste, doch lag Miyun bei der Zuwachsrate an der Spitze.
Wie Mitarbeiter des Tourismusamts Miyun
erläutern, sind die Investitionen für den „Bauernhoftourismus“
niedrig, und sie werfen sehr bald Gewinn ab. Zur Zeit gibt
es im Kreis 2000 Haushalte, die Landurlaub anbieten, in denen
etwa 12 000 Menschen beschäftigt sind. Diese Haushalte
bringen es auf ein Jahreseinkommen von mindestens 8000 Yuan,
die erfolgreichsten verdienen gar bis zu 100 000 Yuan.
Immer
mehr Familien nehmen sich die reich gewordenen Haushalte zum
Vorbild, auch wenn manche von ihnen bereits einen bescheidenen
Wohlstand erreicht haben. Die Familie Li Lianfens ist ein
gutes Beispiel. Natürlich ist es nicht einfach, Geld zu verdienen.
In der touristischen Hochsaison empfängt sie täglich
über 30 Personen. Li Lianfen steht morgens um 5 Uhr auf, um
das Frühstück für ihre Gäste vorzubreiten. Nach dem Frühstück
geht sie einkaufen und macht dann die Gästezimmer sauber.
Viele ihrer Gäste sind Stammkunden, darunter eine ganze
Gruppe von Studentinnen und Studenten der Kunsthochschule.
Sie sind jung und voller Energie und bringen dem Dorf neue
Lebenskraft.
Die Kosten für einen solchen Ausflug sind
nicht hoch. Pro Tag bezahlt man für Essen und Unterkunft nur
35 Yuan. Wenn man über 20 Tage im Dorf bleibt, betragen die
Ausgaben gar nur 20 Yuan pro Tag. Einmal empfing Li Lianfens
Familie einige Gäste aus Shanghai. Anfangs bekagten sich
diese darüber, dass der Aufenthalt zu teuer wäre. Aber
nach einigen Tagen änderten sie ihre Meinung und fanden,
dass der ausgezeichnete Service das Geld durchaus wert war.
Die Bauern sind dank dem „Bauernhoftourismus“
reich geworden. Und gleichzeitig wurde der Austausch zwischen
Stadt und Land gefördert und dadurch der Graben zwischen
den Vorstellungen der Städter und denjenigen der Bauern
verringert.