Herr
Shu, der Hutong-Zeichner
Von
Ya Qi




Seit
den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Herr Shu, ein gebürtiger
Beijinger, trauriger Zeuge des Verschwindens der alten Stadtmauern und der Gassen in der Altstadt. Seiner Meinung nach ist die Altstadt ohne ihre engen Gassen einfach nicht mehr
dasselbe.
Auf
seinen nostalgischen Streifzügen durch die verbliebenen Gassen
stieß er auf die
Yongkang-Gasse an der Dongzhimen-Straße des Stadtbezirks
Dongcheng und ihre interessante Struktur, die sich aus einer
vorderen und einer hinteren Yongkang-Gasse sowie den parallelen
Yongkang-Gassen Nr. 1–5 zusammensetzt. An diesem Abend machte
er sich Gedanken über diese einzigartige Struktur, konnte aber
nicht herausfinden, wie diese Gassen miteinander verbunden waren.
So begann er, in historischen Aufzeichnungen nachzuschlagen,
und stellte dabei fest, dass man keine Informationen dazu findet,
wie sich seit Jahrhunderten die Namen und der Verlauf der Gassen
verändert haben, weil die alten und neuen Stadtpläne
nur den Zustand der Gassen zu einem bestimmten Zeitpunkt
dokumentieren. Er fasste den Entschluss, einen Stadtplan zu
zeichnen, der die historische Entwicklung der Stadt zurückverfolgt.
Dazu meinte er: „Selbst wenn die alten Gassen nicht mehr existieren,
kann man sich anhand dieses Stadtplans ein Bild vom alten Beijing
machen und die historische Entwicklung von Beijing nachvollziehen.“
So
fand er eine neue Beschäftigung: das Messen und Zeichnen
der Gassen.
Am
Anfang verwendete er ein Messband, was aber mühselig war. Er
hatte nämlich bei der Arbeit keinen Gehilfen und musste
zum Messen das eine Ende des Messbandes an seinem Fahrrad befestigen.
So aber störten die Fußgänger und Fahrzeuge
seine Arbeit in den Gassen. Glücklicherweise fiel ihm eine praktischere
Methode ein: die Gassen mit abgewogenen Schritten zu messen.
Fünf Schritte entsprachen genau 3 m.
Diese Methode hat Geschichte:
Beim Bau von Dadu (Große Hauptstadt, heute Beijing) während
der Yuan-Dynastie (1206–1368) wurden ebenfalls Schritte als
Maßstab verwendet. Nach dem damaligen Kriterium maß
eine große Straße 24 Schritte in der Breite, eine
kleine 12 Schritte und eine Gasse 6 Schritte. Aufgrund der gründlichen
architektonischen Planung sieht der Grundriss der Großen
Hauptstadt wie ein Schachbrett aus. Das Wort Hutong stammt aus
dem Mongolischen. Mit diesem Ausdruck aus der Yuan-Dynastie,
der heute in der Stadtplanung im Norden Chinas häufig vorkommt,
bezeichnete man damals schmale Wege zwischen Reihen von Häusern.
Unabsichtlich hatte Herr Shu eine alte, bewährte Methode
wieder entdeckt.
Beim Messen der Gassen registriert Herr Shu
nicht nur die Länge und Breite in „Schritten“, sondern
er notiert auch die Details der Gassen.
Durch Shus Zeichnungen kann man
sich nicht nur einen umfassenden Überblick über die Länge,
Breite, Richtung und Veränderung im Verlauf sowie die Verbindungen
zwischen den Gassen verschaffen, sondern auch einen tiefen Einblick
in die historische Entwicklung gewinnen. Die Erläuterung
der Veränderungen der Namen klingen, als ob man ein Geschichtsbuch
läse. Beispielsweise hatte die heutige Gasse Weiying (sinngemäß
soviel wie: noch keine Elite) in der Qing-Dynastie (1644 – 1911)
bei der gleichen Lautung zwei andere Schriftzeichen, die „Adler
füttern“ bedeuten, in der Ming-Dynastie (1368 – 1644) wiederum
zwei andere Schriftzeichen, die bei ebenfalls gleicher Lautung
„militärische Einheit“ bedeuten. Dis lässt darauf
schließen, dass sich in der Gasse in der Ming-Dynastie
eine Garnison befand und in der Qing-Dynastie Angehörige
der mandschurischen Acht Banner wohnten, die Adler als Hobby
züchteten. Nach der Gründung des Neuen China 1949 wurde der
Name literarisch stilisiert. Die onomasiologische Veränderung
dokumentiert ein Stück der Stadtgeschichte. Bei der Zeichnung
von Gassen achtet Herr Shu auch sehr darauf, dass Wohnstätten
von ehemaligen Persönlichkeiten und die damit verbundenen
Anekdoten aufgezeichnet werden. Beispielsweise ist das Kino
Zhushikou das 1912 von chinesischen und japanischen Kaufleuten
erbaute Theaterhaus Kaiming. Das Gebäude mit einer Säulenkonstruktion
und einem Terrazzofußboden war in europäischem Baustil
gehalten, und die Innengestaltung war damals überaus modern.
Die Fertigstellung dieses Theaterhauses hatte damals in der
Hauptstadt großes Aufsehen erregt. Bei der Eröffnung
dieses Theaters führte der berühmte Peking-Oper-Schauspieler
Mei Lanfang das bekannte Opernstück Der Herrscher Xiang Yu
verabschiedet sich von seiner Favoritin auf. Herr Shu nimmt
neben derartigen Ereignissen auch den Standort von alten Bäumen
in seine Zeichnungen auf.
Durch sorgfältige Messungen
und eingehende Untersuchungen vor Ort stellte Shu fest, dass
die engste Gasse von Beijing nicht die Zhushikou-, sondern die
Xiaolaba-Gasse ist.
Nachdem sie sich Shus Zeichnungen
angesehen hatten, bemerkten die Experten vom Chinesischen Landkartenverlag
anerkennend: „Es handelt sich dabei um eine Landkarte mit individuellen
Charakterzügen. Wie Künstler eigene Werke schaffen, hat der
Schöpfer seine eigene Arbeitsmethode, die primitivste Methode
der Messung durch Schritte, und sein Lieblingsthema, nämlich
die Geschichte und die Kultur der Hutongs, gewählt und
dadurch besondere Landkarten von Beijinger Hutongs angefertigt.
Obwohl die Landkarten mathematische Präzision vermissen
lassen, weist die umfassende Eintragungsform eigene Besonderheiten
auf und hält viele interessante Einzelheiten fest.“
Im Jahre 2002 war Shus großer
Wunsch erfüllt. Er hatte alle Gassen, die auf einer Fläche
von 90 km2 innerhalb der zweiten Ringstraße
verteilt sind, begangen und dabei über 40 Bände von Hutong-Zeichnungen
und über 10 000 Fotos gemacht. Ohne eine Verschnaufpause einzulegen,
hat er ein noch größeres Projekt begonnen. Aufbauend
auf diesen Bänden will er nun einen vollständigen
kulturhistorischen Atlas von Beijings Hutongs anfertigen.