Januar 2004
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Herr Shu, der Hutong-Zeichner

Von Ya Qi

 

Seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Herr Shu, ein gebürtiger Beijinger, trauriger Zeuge des Verschwindens der alten Stadtmauern und der Gassen in der Altstadt. Seiner Meinung nach ist die Altstadt ohne ihre engen Gassen einfach nicht mehr dasselbe.

Auf seinen nostalgischen Streifzügen durch die verbliebenen Gassen stieß er auf die Yongkang-Gasse an der Dongzhimen-Straße des Stadtbezirks Dongcheng und ihre interessante Struktur, die sich aus einer vorderen und einer hinteren Yongkang-Gasse sowie den parallelen Yongkang-Gassen Nr. 1–5 zusammensetzt. An diesem Abend machte er sich Gedanken über diese einzigartige Struktur, konnte aber nicht herausfinden, wie diese Gassen miteinander verbunden waren. So begann er, in historischen Aufzeichnungen nachzuschlagen, und stellte dabei fest, dass man keine Informationen dazu findet, wie sich seit Jahrhunderten die Namen und der Verlauf der Gassen verändert haben, weil die alten und neuen Stadtpläne nur den Zustand der Gassen zu einem  bestimmten Zeitpunkt dokumentieren. Er fasste den Entschluss, einen Stadtplan zu zeichnen, der die historische Entwicklung der Stadt zurückverfolgt. Dazu meinte er: „Selbst wenn die alten Gassen nicht mehr existieren, kann man sich anhand dieses Stadtplans ein Bild vom alten Beijing machen und die historische Entwicklung von Beijing nachvollziehen.“

So fand er eine neue Beschäftigung: das Messen und Zeichnen der Gassen.

Am Anfang verwendete er ein Messband, was aber mühselig war. Er hatte nämlich bei der Arbeit keinen Gehilfen und musste zum Messen das eine Ende des Messbandes an seinem Fahrrad befestigen. So aber störten die Fußgänger und Fahrzeuge seine Arbeit in den Gassen. Glücklicherweise fiel ihm eine praktischere Methode ein: die Gassen mit abgewogenen Schritten zu messen. Fünf Schritte entsprachen genau 3 m.

Diese Methode hat Geschichte: Beim Bau von Dadu (Große Hauptstadt, heute Beijing) während der Yuan-Dynastie (1206–1368) wurden ebenfalls Schritte als Maßstab verwendet. Nach dem damaligen Kriterium maß eine große Straße 24 Schritte in der Breite, eine kleine 12 Schritte und eine Gasse 6 Schritte. Aufgrund der gründlichen architektonischen Planung sieht der Grundriss der Großen Hauptstadt wie ein Schachbrett aus. Das Wort Hutong stammt aus dem Mongolischen. Mit diesem Ausdruck aus der Yuan-Dynastie, der heute in der Stadtplanung im Norden Chinas häufig vorkommt, bezeichnete man damals schmale Wege zwischen Reihen von Häusern. Unabsichtlich hatte Herr Shu eine alte, bewährte Methode wieder entdeckt.

Beim Messen der Gassen registriert Herr Shu nicht nur die Länge und Breite in „Schritten“, sondern er notiert auch die Details der Gassen. 

Durch Shus Zeichnungen kann man sich nicht nur einen umfassenden Überblick über die Länge, Breite, Richtung und Veränderung im Verlauf sowie die Verbindungen zwischen den Gassen verschaffen, sondern auch einen tiefen Einblick in die historische Entwicklung gewinnen. Die Erläuterung der Veränderungen der Namen klingen, als ob man ein Geschichtsbuch läse. Beispielsweise hatte die heutige Gasse Weiying (sinngemäß soviel wie: noch keine Elite) in der Qing-Dynastie (1644 – 1911) bei der gleichen Lautung zwei andere Schriftzeichen, die „Adler füttern“ bedeuten, in der Ming-Dynastie (1368 – 1644) wiederum zwei andere Schriftzeichen, die bei ebenfalls gleicher Lautung „militärische Einheit“ bedeuten. Dis lässt darauf schließen, dass sich in der Gasse in der Ming-Dynastie eine Garnison befand und in der Qing-Dynastie Angehörige der mandschurischen Acht Banner wohnten, die Adler als Hobby züchteten. Nach der Gründung des Neuen China 1949 wurde der Name literarisch stilisiert. Die onomasiologische Veränderung dokumentiert ein Stück der Stadtgeschichte. Bei der Zeichnung von Gassen achtet Herr Shu auch sehr darauf, dass Wohnstätten von ehemaligen Persönlichkeiten und die damit verbundenen Anekdoten aufgezeichnet werden. Beispielsweise ist das Kino Zhushikou das 1912 von chinesischen und japanischen Kaufleuten erbaute Theaterhaus Kaiming. Das Gebäude mit einer Säulenkonstruktion und einem Terrazzofußboden war in europäischem Baustil gehalten, und die Innengestaltung war damals überaus modern. Die Fertigstellung dieses Theaterhauses hatte damals in der Hauptstadt großes Aufsehen erregt. Bei der Eröffnung dieses Theaters führte der berühmte Peking-Oper-Schauspieler Mei Lanfang das bekannte Opernstück Der Herrscher Xiang Yu verabschiedet sich von seiner Favoritin auf. Herr Shu nimmt neben derartigen Ereignissen auch den Standort von alten Bäumen in seine Zeichnungen auf.

Durch sorgfältige Messungen und eingehende Untersuchungen vor Ort stellte Shu fest, dass die engste Gasse von Beijing nicht die Zhushikou-, sondern die Xiaolaba-Gasse ist.

Nachdem sie sich Shus Zeichnungen angesehen hatten, bemerkten die Experten vom Chinesischen Landkartenverlag anerkennend: „Es handelt sich dabei um eine Landkarte mit individuellen Charakterzügen. Wie Künstler eigene Werke schaffen, hat der Schöpfer seine eigene Arbeitsmethode, die primitivste Methode der Messung durch Schritte, und sein Lieblingsthema, nämlich die Geschichte und die Kultur der Hutongs, gewählt und dadurch besondere Landkarten von Beijinger Hutongs angefertigt. Obwohl die Landkarten mathematische Präzision vermissen lassen, weist die umfassende Eintragungsform eigene Besonderheiten auf und hält viele interessante Einzelheiten fest.“

Im Jahre 2002 war Shus großer Wunsch erfüllt. Er hatte alle Gassen, die auf einer Fläche von 90 km2 innerhalb der zweiten Ringstraße verteilt sind, begangen und dabei über 40 Bände von Hutong-Zeichnungen und über 10 000 Fotos gemacht. Ohne eine Verschnaufpause einzulegen, hat er ein noch größeres Projekt begonnen. Aufbauend auf diesen Bänden will er nun einen vollständigen kulturhistorischen Atlas von Beijings Hutongs anfertigen.

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