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15 Sekunden Ruhm - Douyin, Kuaishou & Co. entfachen in China das Mikrovideo-Fieber

2018-09-30 10:00:00 Source:China heute Author:
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Von Verena Menzel

 

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Kind meine Leidenschaft für Überraschungseier entdeckte. Die Schokoeier, die in etwa die Größe eines echten Hühnereis hatten und von außen sprichwörtlich wie ein Ei dem anderen glichen, bestanden aus zwei Hälften cremig-süßer Milchschokolade. Im Innern verbargen sie eine gelbe Plastikkapsel, in der sich eine kleine Spielzeugüberraschung befand.

Mit dieser perfekten Mischung aus Nascherei und Neugier trafen die Marketingstrategen des italienischen Süßwarenherstellers Ferrero bei mir wie Millionen anderen Kindern zielsicher ins Schwarze.


Eine Zeitlang verbriet ich fast mein gesamtes Taschengeld in der Süßwarenabteilung des nahegelegenen Supermarkts.


Dabei ging es gar nicht mal so sehr um die bunten Plastikspielzeuge und kleinen Sammlerfiguren selbst, denn die Begeisterung für diese war immer schon nach kurzer Zeit verflogen und sie landeten bei den anderen Spielsachen in der Ecke, sondern viel mehr um den Nervenkitzel, zu sehen, welche neue Überraschung sich diesmal im Kern des Schokoladeneies verbarg. Die zwei zuckersüßen Hälften aus Milchschokolade waren dabei ein gern verschlungener Nebenertrag.


Mittlerweile lebe und arbeite ich fern der Heimat in Chinas Hauptstadt Beijing. Und doch fühle ich mich dort seit kurzem durch eine digitale Neuentdeckung wie zurückversetzt in meine Kindertage in Deutschland und erinnert an meine kleine Obsession für die süßen Überraschungseier.


Der Grund: Ob im Freundeskreis der in China beliebten Social-Media-App WeChat (die man sich als eine Mischform aus WhatsApp- und Facebook-Funktionen vorstellen kann) oder auf den Handydisplays meiner Mitfahrer in Bus und Bahn in der Beijinger Rushhour – immer öfter stolpere ich in letzter Zeit über digitale Mini-Videohäppchen, die süß vor dem Auge dahinschmelzen. Die meisten von ihnen tragen das Logo der chinesischen Mikro-Video-App Douyin (抖音).

 

Willkommen im Mikrozeitalter!

Die kurzen Videosequenzen zeigen verblüffende Zaubertricks und nützliches Alltagswissen, Haustierstunts und furiose Tanzeinlagen, Sketche und Alltagsmissgeschicke. Soweit, so altbekannt.


Doch anders als auf den etablierten Videoplattformen unterliegen die Clips von Douyin und Co. einer zeitlichen Beschränkung: Sie dauern maximal 15 Sekunden. Auf diese Weise werden sie zu besonders leicht und schnell verdaulichen, visuellen Minibonbons, die erfolgreich in die Kerbe des Trends des „Mikrozeitalters“ (微时代) stoßen, der sich in China und andernorts auf der Welt immer größerer Beliebtheit erfreut.


Längst sind neben dem etablierten Mikroblogging auch neue Miniformate wie Mikrofilme, Mikroromane sowie Mikrointerviews und nun eben auch Mikrovideos auf dem Vormarsch.


Dabei ist das Phänomen von Mikroclips für Onlineverhältnisse eigentlich ein alter Hut. Schon 2011 bzw. 2012 drängten mit Kuaishou (快手) und Miaopai (秒拍) erste derartige Dienste auf den chinesischen Markt. Erstere Plattform wird heute vom chinesischen IT-Riesen Tencent unterstützt, die letztere ist ein Ableger der erfolgreichsten chinesischen Mikroblogging Plattform Sina Weibo.

Dennoch schlug Douyin, was übersetzt etwa “shaky sound” bedeutet, auf Chinas Internetmarkt ein wie eine Bombe.


Gelauncht wurde der Dienst im September 2016 von der Firma Beijing Microlive Vision Technology Co., Ltd, anfangs noch unter dem Namen a.me, im Dezember 2016 tauften die Macher ihr Tech-Baby dann in das griffigere Douyin um.


Nach vielversprechenden ersten Monaten erhielt das junge Start-up bereits im Januar 2017 eine üppige Startinvestition in Millionen-Yuan-Höhe von Jinri Toutiao, einer der erfolgreichsten chinesischen Nachrichten-Apps, hinter der Mutterkonzern Beijing ByteDance Technology Ltd. steht.


Mitte August 2017, weniger als ein Jahr nach seiner Gründung also, knackte die aufstrebende Applikation für iOS und Androide erstmals die Marke von einer Milliarde Views pro Tag. Zum Vergleich: YouTube kommt derzeit weltweit auf rund fünf Milliarden gesehene Videos täglich, im ersten Jahr nach seiner Gründung musste sich das US-Unternehmen noch mit rund acht Millionen Views pro Tag zufrieden geben. Auch Douyins Nutzerzahl verzehnfachte sich von März bis Dezember 2017 und kletterte auf heute mehr als 100 Millionen aktive Nutzer pro Tag.


Heute ist Douyin die meist heruntergeladene Streaming-App für Kurzvideos der Volksrepublik. Und im Eiltempo schickt sich ihr Betreiber Microlive Vision an, auch die Herzen ausländischer User zu erobern. Unter dem Namen „Tik tok“ konnte die Applikation im laufenden Jahr bereits zeitweise die Spitzenposition der iOS-Charts in Thailand und Japan erobern.

 

Was steckt hinter Douyins Erfolgsstory?

Wie ist es dem anfangs gerade einmal achtköpfigen Team rund um den Gründer Liang Rubo innerhalb von nur wenigen Monaten gelungen, Millionen chinesische Nutzer für sich zu begeistern, und in einem beispiellosen Durchmarsch seinen größten Konkurrenten Kuaishou, der immerhin bereits seit sieben Jahren im Geschäft mitmischt, vom Thron zu stoßen und auch an allen anderen neuen Konkurrenten vorbeizuziehen? Und: Was hat dieser Erfolg eigentlich mit Schoko-Überraschungseiern zu tun? Alles der Reihe nach!


Um diese Fragen weiter zu beleuchten, lade ich mir erst einmal die Douyin-App auf mein eigenes Smartphone.


Das erste, was bei der Benutzung sofort ins Auge sticht, ist Douyins intuitive, schlichte Navigation. Bereits beim Öffnen der App erscheint das erste Video im Vollbild-Hochformat auf dem Bildschirm. Auch ohne Anklicken wird der Clip direkt abgespielt.


Ist er nicht nach eigenem Gusto, kann man durch ein Wischen mit dem Zeigefinger blitzschnell zum nächsten Clip wechseln. Diese praktische Swipe-Bedienung dürfte westlichen Nutzern unter anderem von der beliebten Dating-App Tinder vertraut sein.


Das Interface von Konkurrenten wie Kuaishou oder Miaopai kommt dagegen im traditionelleren, meines Erachtens wesentlich weniger ansprechenden Design daher.


Und auch was die Inhalte angeht, trifft Douyin eindeutig den Nerv der Zeit: Anfangs war die Applikation eigentlich nur für das Produzieren und Teilen selbstgedrehter Musikclips und Playbackvideos gedacht. Die Macher wollten damit eine Art chinesisches Pendant zur im Westen bereits erfolgreichen Musik-App musical.ly kreieren.


Doch schnell erweiterte Douyin seine Palette an Videosparten. Heute laden Douyin-User längst nicht mehr nur selbst gemachte Musik- und Tanzvideos hoch, sondern auch Haustierclips und Comedy, kurze Lern- und Do-it-yourself- Sequenzen, Clips mit Zaubertricks und Kunststücken sowie Schmink- und Beauty-Tipps aller Art.


Schon in den ersten Minuten nach dem Download der App lerne ich unter anderem wie man aus der geschriebenen Rechenaufgabe 7 + 2 im Handumdrehen eine Maus zeichnet, fachmännisch Jiaozi-Teigtaschen knetet und dass es sich schnell rächen kann, seinen Golden Retriever zu einem Nudelwettschlürfen herauszufordern, weil man am Ende nicht nur als Verlierer, sondern auch noch mit leerem Magen dasteht.


Schon nach kurzer Zeit wird klar: Douyin ist unterhaltsames Video-Swipen mit Suchtpotenzial!


Musical.ly, das ehemalige Vorbild und seither potentieller Konkurrent bei der Erschließung ausländischer Märkte, hat sich Douyin dank der finanzkräftigen Rückendeckung seines Investors vorsichtshalber schon einmal einverleibt. Im November 2017 erwarb Douyins Mutterfirma Beijing Byte Dance Technology das junge Tech-Start-up, das übrigens 2014 von zwei findigen Jungunternehmern aus Shanghai gegründet wurde. Dass Byte Dance bereit war, für den Tech-Neuling rund eine Milliarde US-Dollar hinzublättern, spricht für das große Entwicklungspotenzial, das Kenner der Mikrovideo-Branche zuschreiben.


Dass Douyin-Gründer Liang Rubo, der zuvor als technischer Direktor für Jinri Toutiao gearbeitet hatte, und sein Team die Bedürfnisse junger chinesischer Internetuser bestens verstehen, bewiesen sie auch dadurch, dass sie schon früh eine Funktion in ihre App integrierten, die es Nutzern ermöglicht, die Mini-Clips auch über andere beliebte Social-Media-Portale wie WeChat, QQ oder Weibo zu teilen.


Außerdem erweiterten die Macher die Palette der verfügbaren Tools und kreativen Spielereien zum Erstellen der Videos stetig. Heute können Douyin-User aus einer Vielzahl von optischen Filtern, Spezialeffekten und Stickern wählen, um ihre Kreationen aufzupeppen.

 

Stets die Zielgruppe im Blick

Doch nicht nur das! Douyin bewies auch schon früh einen Riecher für neue Trends und sprang zum Beispiel rechtzeitig auf den jüngsten Livestreaming-Hype im Reich der Mitte auf und reagierte mit eigenen Kanälen und Funktionen auch auf die neue Begeisterung chinesischer Netizens für Quizformate.


Dieses gute Händchen und das daraus entstandene trendige Gesamtpaket sind für Douyin und die Macher dahinter letztlich zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil gereift, insbesondere gegenüber Hauptkonkurrent Kuaishou.


Zwar weiß Kuaishou, wie bereits eingangs erwähnt, den Tech-Giganten Tencent hinter sich, der unter anderem die Social-Media-App WeChat und Chinas beliebtesten Messangerdienst QQ betreibt. Im März 2017 unterfütterte der IT-Gigant Kuaishous Entwicklung mit einer Großinvestition in Höhe von 350 Millionen US-Dollar.


Doch auch wenn sich Douyins schärfster Wettbewerber auf dem chinesischen Markt ebenfalls gut behauptet und wie Douyin über eine breite Userbase verfügt, bleibt gegenüber Douyin doch ein entscheidender Nachteil: nämlich die angesprochene Zielgruppe.


Während Kuaishou vor allem Nutzer in chinesischen Tier-3- und Tier-4-Städten anspricht, ist Douyin die erste Wahl junger, gebildeter User in den großen Metropolen der ersten und zweiten Kategorie des Landes, insbesondere vieler Studenten.


Zu diesen Orten zählen zum Beispiel hippe und boomende Millionenstädte wie Beijing oder Shanghai, Guangzhou, Shenzhen oder Chengdu. 85 Prozent der Douyin-Nutzer sind unter 24 Jahre alt und verkörpern damit genau die kaufkräftige und vielversprechende Zielgruppe, die Werbemacher weltweit besonders umgarnen.


Kein Wunder also, dass Douyin auf der Suche nach einem passenden Finanzierungmodell – ein Flaschenhals und Prüfstein für jedes aufstrebende Tech-Unternehmen – schon bald fündig wurde. Im September 2017 experimentierte man erstmals mit gesponserten Videobeiträgen. Erste Werbepartner waren damals Airbnb, Harbin Beer und Chevrolet. Die Rechnung ging für alle Beteiligten voll auf. Damit gelang Douyin, womit viele junge Start-ups lange ringen, nämlich schon früh eine funktionierende Finanzierungsstrategie aufzutun.

 

Sponsoring und Challenges

Und auch sonst erweisen sich die Macher hinter Douyin als clevere Marketingstrategen. Um die Bekanntheit ihres Videodienstes zu steigern, traten sie 2017 selbst als Sponsorverschiedener TV-Formate auf und bewiesen auch hier ein gutes Gespür.


So gab man sich unter anderem als Werbepartner der Sendung „Hip-Hop in China“ (中国有嘻哈), die im Reich der Mitte 2017 zum Publikumsmagneten avancierte, sowie weiterer TV-Formate wie dem „Happy Camp“ (快乐大本营), „Everyday Upward“ (天天向上) und 2018 als jüngstes Beispiel der Sendung „Street Dance of China“ (这!就是街舞), die ebenfalls ein Millionenpublikum vor die Bildschirme lockte.


Um den Nachschub an neuem Video-Content anzukurbeln, inszeniert Douyin zudem regelmäßig neue Video-Contests unter bestimmten Themen-Hashtags, so genannte Challenges, die häufig auch in Kooperation mit bestimmten Werbeträgern ausgetragen werden.

Dabei werden die User animiert, eigene kreative Clips zum jeweiligen Motto zu gestalten, und möglichst viele Views abzusahnen. Den Machern der beliebtesten Clips winken dafür Preise und Prämien. Eine Strategie, die der App nicht nur einen Content-Boost, sondern auch stattliche Views beschert.


Hashtag-Challenges wie diesen habe ich es zum Beispiel zu verdanken, dass mir beim Video-Swipen mehrere Parodien und Remakes des mir zuvor unbekannten Katzensongs „Lass uns gemeinsam Miauen lernen“ (学猫叫) begegnen. Darunter brennt sich mir vor allem der unvergessliche Anblick eines singenden chinesischen Stewards ins Gedächtnis, der im Flugzeug mit Engelsblick und nachträglich digital aufgetragenen, rosa Katzenöhrchen sowie langem Schnurrbart „Miaue mit mir wie eine Katze, miau miau miau“ (我们一起学猫叫,一起喵喵喵…) in die Kamera flötet. Was wäre die Netzwelt ohne Internetblüten wie diese?

 

Und was hat das alles mit Schoko-Überraschungseiern zu tun?

Nun, es ist für mich nicht abzustreiten, dass Douyin einen gewissen Suchtfaktor hat, ganz wie die Schoko-Überraschungseier aus meinen Kindertagen.


Während ich mich von einem Video zum Nächsten swipe, merke ich gar nicht, wie die Zeit verfliegt. Und so habe ich im Nu schon eine knappe Stunde mit der Applikation verbracht, angetrieben von der stetigen Neugier zu sehen, welche Video-Überraschung wohl hinter dem nächsten Wischen auf mich wartet.


Hinzu kommt, dass es sich bei den unterhaltsamen Mikro-Clips eher um visuelle Süßigkeiten als wirklich nahrhafte Inhalte handelt. Tiefe Erkenntnisse wird man in den 15-Sekunden-Clips, man wird es ahnen, vergeblich suchen. 


Das macht die visuellen Mikro-Häppchen zwar zu einem leicht verdaulichen, süßen Zeitvertreib, aber gleichzeitig natürlich wie jede echte Süßigkeit auch zu einer Gefahr für die geistige Figur. Denn ganz wie zuckrige Milchschokolade sich langfristig sämig an den Hüften ansetzt, besteht auch für Douyin-Nutzer auf Dauer die Gefahr, an geistiger Hirnverfettung zu erkranken.


Spätestens seit der Lektüre von Nicholas Carrs bekanntem Essay, „Is Google making us stupid?“ (auf Deutsch etwa: „Macht (uns) Google blöd?“), der 2008 in der Zeitschrift The Atlantic erschien, sowie seinem Weltbestseller „The Shallows“ (deutscher Titel: „Surfen im Seichten. Was das Internet mit unserem Hirn anstellt.“) wissen wir, dass die ständige Informationsaufnahme im Internet in kleinen Happen bei Weitem nicht nur Gutes bewirkt.


Im Gegenteil: Schon nach kurzer Zeit droht sie, die Funktion unseres Langzeitgedächtnisses negativ zu beeinflussen und uns, überspitzt gesprochen, zu willigen Informationsjunkies zu machen, stetig auf der Suche nach dem nächsten Mikro-Content-Kick.


Die strukturellen Eigenheiten und die inhaltliche und optische Aufbereitung vieler Online-Informationen sorgen dafür, dass unser präfrontaler Cortex und das Arbeitsgedächtnis ständig aktiv sind, während die Fähigkeiten zu abstraktem und analytischem Denken schrumpfen.

Doch Dienste wie Douyin deshalb ganz zu verteufeln, wäre sicherlich ein Schnellschuss. Denn wie bei jedem potentiellen Suchtstoff, ob nun Zucker oder oberflächliche Unterhaltung, gilt: die Dosis macht das Gift und durch einen richtigen Umgang mit der Sache kann der Spagat gelingen.


Und genauso wie mich meine Überraschungseier-Obsession aus Kindertagen heute weder in den finanziellen Ruin noch in die Adipositas getrieben hat, wird auch der gelegentliche Konsum von Mikrovideos sicher nicht zwangsläufig im geistigen Ruin oder in intellektueller Herzverfettung münden.


Insbesondere dann nicht, wenn man das neue Medium als User richtig einzusetzen weiß. Vielleicht entdeckt ja der eine oder andere Nutzer in China oder andernorts auf der Welt dank Douyin seine Liebe zum Erstellen eigener Minivideos und findet damit ein neues kreatives Ventil.


Die nötigen Werkzeuge und Bausätze hierfür jedenfalls stellen chinesische Anbieter wie Douyin und Co. ohne Frage bereit, nicht nur für inländische, sondern sicher vermehrt auch für immer mehr ausländische Nutzer. Und Kreativität kennt schließlich keine Ländergrenzen. Wer weiß, vielleicht werden Mikrovideos in Zukunft ja zu einem neuen Mittel der Mikro-Völkerverständigung. Das wäre doch ein schöner Gedanke!

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