Hauptformen der tibetische Malerei (1)
Die Malerei bildet eine weitere Hauptform der tibetischen Kunst und erfreut sich vor allem im tibetischen Buddhismus besonderer Beliebtheit, sie gilt doch als „Königin der Kunst“. Wie im Katholizismus und in anderen Religionen dient die Malkunst im tibetischen Buddhismus der Götterverehrung und ist eine der wichtigsten künstlerischen Möglichkeiten, um die religiöse Begeisterung der Gläubigen anzufachen. Seit der Buddhismus entdeckt hat, durch die Malerei das „unermessliche Dharma“ symbolisch darzustellen, wurde diese Kunst in das Götterverehrungssystem aufgenommen. Die Künstler haben sich den buddhistischen Lehren von den Proportionen, den Körperhaltungen, der Symbolik der Gegenstände untergeordnet. Die Religion legt die künstlerischen Inhalte fest. Pratibimbamana-laksanaI (Sutra über die Maße in der Malerei) drückt die Idee aus, die religiösen Gefühle der Gläubigen durch die Malerei anzuregen und zu steigern, wodurch sich das Dharma entfaltet. Im Garten der bildenden Kunst entwickelte sich die Malerei des tibetischen Buddhismus dank der allmählichen Verschmelzung mit der alten tibetischen Kunst zu einer prächtigen exotischen Blüte. Die tibetische Malerei umfasst als hauptsächliche Ausdrucksformen die Felsenmalerei, die Wandmalerei, Tangkas und Graphik.
Die Felsenmalerei entwickelte sich aus der vorgeschichtlichen Zeit bis in die Periode des Tubo-Reiches und zählt zu den ältesten Formen der tibetischen Malerei. Mit der Intensivierung der archäologischen Tätigkeit in den letzten Jahren in Tibet wurden nacheinander im Westen, Norden, Süden und Osten zahlreiche Felsengemälde entdeckt. Besonders viele wurden in Ngari, im Westen, und in verschiedenen Kreisen Nordtibets gefunden. Archäologen teilten diese Felsenmalerei zeitlich in drei Abschnitte ein: Der frühe reicht von 2000 v. d. Z. bis zum tibetischen Bronzezeitalter im 1. Jahrhundert, der mittlere wird zwischen dem 1. und dem 6. Jahrhundert angesiedelt, der späte beginnt mit dem Tubo-Reich im 7. Jahrhundert, als der Buddhismus in Tibet eingeführt wurde. Themen der Felsenmalerei waren Tiere, besonders die der Weidegebiete, Jagd, religiöse Symbole und Episoden, Wettkämpfe mit oder ohne Gerät, Kriege, Bevölkerungswanderungen und natürlich Darstellungen von Menschen. In den Malereien entdeckt man Menschen im Alltag und bei der Arbeit oder bei religiöser Betätigung. Es sind Bewohner des Qinghai-Tibet-Plateaus aus alten Zeiten. Häufig sind auf den Malereien Schafe, Jaks, Hirsche, Hunde, Pferde, Esel, Kamele, Leoparden und andere Tiere zu sehen. Unter den abgebildeten Vögeln dominiert der Adler. Bis auf die Kamele standen alle diese Tiere in enger Verbindung mit den Menschen, die auf dem Qinghai-Tibet-Plateau hauptsächlich von der Viehhaltung lebten. Bei Themen aus der Viehzucht ist die Führung von Herden zu sehen, die Viehwanderung, einzelne und Gruppen von Hirten, die ihre Tiere treiben. Das Nomadenleben der Menschen der alten Zeit auf dem Qinghai-Tibet-Plateau wird sehr realistisch gezeigt. Die Jagdszenen auf den Felsengemälden spiegeln einen Bereich des Nomadenlebens wider; es sind hauptsächlich Hirten, die mit ihrem Jagdgerät und ihren Jagdobjekten dargestellt werden. Greifvögel und Hunde waren oft unentbehrlich für eine erfolgreiche Jagdszene, und anhand der dargestellten Bögen, Pfeile, Speere und Messer ist zu ersehen, wie weit fortgeschritten die Jagdtechnik jener Zeit bereits war. Gejagt wurden hauptsächlich wilde Jaks, Antilopen, Blauschafe, Wildziegen, Wildesel, Hirsche und andere große Säugetiere, die auch heute noch auf dem Qinghai-Tibet-Plateau leben. Religiös inspirierte Malereien zeigen magische Symbole, Kulthandlungen um Naturerscheinungen, Schamanen bei Opferzeremonien sowie andere religiöse Betätigungen. Wahrscheinlich handelt es sich um Darstellungen von Zeremonien der primitiven Bon-Religion, die in alten Zeiten in Tibet praktiziert wurde. Der später eingeführte Buddhismus beginnt erst gegen Ende des zweiten Zeitabschnittes eine geringe Rolle in den Malereien zu spielen. Yundrun, das Symbol der Bon-Religion, sowie Sonne und Mond, zwei weitere typische Zeichen dieser alten Religion, sind in zahlreichen Felsengemälden zu entdecken.
Bei den heute bekannten tibetischen Felsenmalereien überwiegen die Zeichnungen auf Felswänden und auf riesigen Steinen. Man unterscheidet Einritzungen und Bemalungen. In den frühen Felsenmalereien sind die Bildkompositionen nicht einheitlich und ausgewogen, die Bildflächen wirkten manchmal etwas chaotisch und zerstreut. Zeichnungen durch Einritzen auf den Fels zu bannen war die am häufigsten angewandte Technik. Die durch Hämmern und Einritzen entstandenen Bilder wirken mitunter wie Scherenschnitte. Menschen- und Tierfiguren wurden oft idealisiert gestaltet, doch blieben die Darstellungen immer einfach, anschaulich und in ihrem schlichten Stil verallgemeinernd. Menschen werden meist nur im Umriss gezeigt, die Gliedmaßen sind einfache Linien; detaillierte Darstellung der Sinnesorgane gibt es nicht. Die Tierabbildungen tragen oft Hörner. Man erkennt deutlich getrennte Ober- und Unterkiefer an den Schädeln, jedoch sind die Augen wie die Klauen meist nur angedeutet, und Gelenke sind gar nicht zu sehen. In den Felsenmalereien der mittleren Periode werden menschliche Figuren stärker idealisiert als im früheren Zeitabschnitt, jedoch wurden die Gliedmaßen mit doppelten Linien so umrissen, dass sie beweglicher wirken. An den Tieren wurden nun Gelenke dargestellt, die Rümpfe von Rindern, Ziegen, Schafen und Hirschen wurden oft mit S-förmigen Mustern verziert, die Rümpfen von Tigern, Leoparden und Wölfen dagegen mit geraden Linien. Was die künstlerische Technik betrifft, so wurden die Umrisse überwiegend ausgemeißelt oder eingeritzt, danach wurde das Werk bemalt. Man begann dann der Komposition größere Aufmerksamkeit zu schenken. Es entstanden umfangreiche Felsenmalereien, in denen größere Szenen dargestellt wurden. Bei den Felsenmalereien der späten Periode treten alle bisher angewandten Techniken häufig auch zusammen auf, es wurde mit Einmeißeln und Einritzen, Bestreichen und Bemalen gearbeitet, wobei das Bestreichen und Bemalen bevorzugt wurde. Menschen- wie Tierfiguren haben nun detailliert dargestellte Sinnesorgane, Beine und Füße sind realistisch gezeichnet und die Bilder wirken dynamisch. Jagdszenen wie beispielsweise eine Hirschjagd wurden exakt gezeigt. Dabei achteten die Künstler bereits genau auf die Wirkung ihrer Werke. Noch heute haben diese eine Anziehungskraft, der sich kaum ein Betrachter entziehen kann. Die Muster auf den Rümpfen der Tiere wurden komplizierter. Oft wurden die Linien gedoppelt und die Tendenz zu einer umständlichen Stilisierung trat hervor. Die verwirrenden Muster auf den Rümpfen der Hirsche sowie die Form ihrer Geweihe wirken in ihrer Übertreibung mehr als formale, schmückende Elemente, denn als charakteristische Merkmale der Tiere. Den Techniken, den Themen und dem Stil ist zu entnehmen, dass die Felsenmalerei in Tibet mit der in Xinjiang, Gansu, Qinghai und der Inneren Mongolei entdeckten nordchinesischen Felsenmalerei sowie mit einigen Felsengemälden in der zentralasiatischen Steppe nahe verwandt war.