Dhagpolhaje (1079–1153) war der Begründer der Dhagpo Gagyu. Dhagpo ist eine Ortschaft in Südtibet, wo Dhagpolhaje große Erfolge für die Religion erzielte. „Lhaje“ ist ein Ehrentitel für einen Arzt. Schon in seiner Jugend machte sich Dhagpolhaje als Arzt einen kleinen Namen. Man nannte ihn Doktor Dhagpo oder Dhagpo Lhaje. Mit der Zeit wurde Dhagpolhaje zu seinem Ehrentitel. Dhagpolhaje hieß eigentlich Niwa Kunka, auch Zurnamrinchen. Da er später oft im Kampo-Kloster predigte, wurde er auch Meister Kampopa genannt.
Mit 26 Jahren empfing Dhagpolhaje die Mönchsweihe und ging offiziell ins Kloster. Zuerst studierte er bei Khanpo Lotan und anderen hoch gebildeten Mönchen aus Manyul die tantrische Lehre der Heruka- und Vinaja-Texte. Später ging er nach Pengyu, nahm den großen Meister Kyayuwa zum Lehrer und studierte bei ihm die Lehre des großen Meisters Atisa, nämlich die Lehre der Gedang-Sekte. Dadurch kam er zur Einsicht, dass die Meditation von großer Bedeutung war, und baute mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern in der Nähe des Sharka-Klosters einen Meditationsraum. Einmal vertiefte er sich 13 Tage lang in die Meditation, um seinen Kummer über Habgier und Hass zu überwältigen. Er schlief sehr wenig. Sogar im Schlaf hatte er das Gefühl, den im Hatakasutra erwähnten Strahl des Bodhisattvas zu empfangen. Während der Meditation verzichtete er sogar fünf Tage lang darauf, etwas zu sich zu nehmen. Nach solch harten Praktiken war er befähigt, die tiefgründige Lehre des Tantras zu verstehen und die tantrische Welt der großen Freude zu erreichen. Erst mit 32 Jahren brachte ihn der Ruf Milarepas dazu, sich sofort nach Westtibet zu begeben, um ihn aufzusuchen. Unterwegs traf er mit mehreren Meistern der Gedang-Sekte zusammen, die ihn überredeten, die Gedang-Lehre nicht aufzugeben. Als Milarepa Dhagpolhaje sah, hielt er ihn für besonders begabt und wollte ihm alle seine tantrischen Lehren weitergeben. Er lehrte ihn zuerst die Abhisecani-Zeremonie für Dorjephagmo Bangskur und unterwies ihn in der diesbezüglichen Lehre. Dann brachte er ihm noch Drod bei. Nach einer esoterischen Ausbildung von 13 Monaten hatte Dhagpolhaje ein tiefes Verständnis aller Lehren Milarepas des Tummo, der sechs Prinzipien des Naro und der Mahamudra erreicht.
Dann kehrte Dhagpolhaje nach Osttibet zurück, wo er sich, die Belehrung Milarepas befolgend, in Meditation vertiefte. Drei Jahre später war er in den hohen Bergen und den tiefen Schluchten Tibets gewesen und hatte dort konzentriert die tantrischen Lehren praktiziert, ohne Umgang mit den Menschen zu haben, wie sein Lehrmeister gewünscht hatte. Auf diese Weise entstand in ihm das Vertrauen zu den Lehren Milarepas, das ihn dazu brachte, die Dhagpo Gagyu zu gründen. 1121 baute Dhagpolhaje in Kampo (heute am Nordufer des Yarlung Zangbo in der Region Dhagpo) ein Kloster. Mit dem Kampo-Kloster als Stützpunkt verbreitete er seine Lehre und bildete zahlreiche Schüler aus. Auf der Grundlage der Gedang-Lehre über den stufenweisen Weg zur Vollkommenheit und der Theorie des Großen Siegels von Milarepa verfasste Dhagpolhaje das Werk Über den stufenweisen Weg zum Vimoksa (Erlösung), das zur Pflichtlektüre für jeden Anhänger der Dhagpo Gagyu wurde.