Die Sakya-Sekte (4)
Der fünfte Patriarch der Sakya-Sekte war Pagpa (1235–1280). Pagpa, eigentlich Lotse Gyaltsan genannt, war ein Sohn Sonam Gyaltsans, des jüngeren Bruders von Sakya Pandita. Pagpa war klug und wissbegierig. Mit acht Jahren konnte er Sutras erläutern. Gut erzogen durch seinen Onkel Sakya Pandita, wurde er später zu einem einflussreichen Politiker und gleichzeitig auch einem hoch gebildeten Mönch. In der Geschichte der tibetischen Könige und -Minister steht: „Als Kind war er begabt, verstand es, viel zu lesen, zuzuhören und zu denken. Er beherrschte fünf Fächer und war im Tripitaka bewandert.“ Mit zehn Jahren war er dabei, als sein Onkel in Liangzhou mit dem mongolischen Khan verhandelte, was die Grundlage für seine politische Karriere schaffte. Als er 17 Jahre alt war, wurde er vom im Sterben liegenden Sakya Pandita zu dessen Nachfolger ernannt. Nach Panditas Tod war Pagpa als Abt des Sakya-Klosters und Leiter der Sakya-Sekte tätig und wurde damit zum fünften Patriarchen der Sakya-Sekte. Später wurde er zu einer einflussreichen Person und war als Vertreter der lokalen Kräfte Tibets anerkannt. Sein Einfluss beschränkte sich nicht nur auf Tibet, sondern reichte bis in die Zentralregierung der Yuan-Dynastie. 1253 wurde er von Kublai Khan als Lehrmeisterer empfangen, wobei Kublai und seine Frau als Laien auftraten. Kublai und seine Frau sowie ihre Kinder, insgesamt 25 Leute, wurden von Pagpa in der Abhiseka-Zeremonie geweiht. Außerdem überreichte Kublai Pagpa eine Menge wertvoller Schätze als Opfer für die Weihe. 1255 kehrte Pagpa nach Tibet zurück, lud Kanchendrapasengge von Narthang ein und empfang bei diesem die Mönchsweihe. Kurz danach kam er wieder nach Shangdu, wo er an einer Debatte teilnehmen sollte. Damals behandelte der mongolische Khan die verschiedenen Religionen gleichberechtigt. Deshalb wurden oft Debatten zwischen dem Buddhismus und dem Taoismus veranstaltet. 1258 fand eine solche Debatte im Palast Shangdus statt, bei der Kublai im Auftrag des höchsten mongolischen Khans den Vorsitz hatte. Beide Seiten entsandten jeweils 17 Teilnehmer, wobei der 23-jährige Pagpa die buddhistischen Teilnehmer anführte. Die Debatte endete damit, dass die 17 taoistischen Teilnehmer ihre Niederlage zugaben, sich kahl scheren ließen und in ein buddhistisches Kloster eintraten. Manche taoistischen Tempel wurden in buddhistische verwandelt. Als Kublai 1260 den Thron bestieg, setzte er Pagpa sofort als Staatslehrmeister ein und übergab ihm das ent-sprechende Jadesiegel.
1264 verlegte Kublai die Hauptstadt von Shangdu nach Dadu (heute Beijing) und richtete in der Zentralregierung eine Institution namens Zongzhiyuan ein, die landesweit für den Buddhismus und für die Angelegenheiten in Tibet zuständig war. Pagpa war gleichzeitig auch als Leiter dieser Institution tätig. 1265 kehrte Pagpa nach Tibet zurück und ließ das Sakya-Kloster renovieren, Buddhastatuen errichten und Stupas neu anlegen, auf die mit Goldtinte die Gangyur geschrieben wurden. Außerdem nahm er über 20 große Meister wie Pandit Shesdatakatapadra aus Kashmir und den Übersetzer Shesrab Rinchen aus Lowo zum Lehrmeister. Bei ihnen studierte er die Hetuvidya, exoterische Theorie und esoterische Lehre sowie die fünf Fächer der traditionellen tibetischen Kultur. Während seines dreijährigen Aufenthalts in Tibet schuf er auf Befehl Kublais hin die „neue mongolische Schrift“, wobei er die tibetische Schrift als Vorbild nahm. Die neue mongolische Schrift besteht aus 41 Grundelementen und richtet sich in der Schreibweise ganz nach der mongolischen Aussprache. Sie wurde später auch Pagpa-Schrift genannt. 1268 erließ Kublai ein Edikt, nach dem alle amtlichen Dokumente der lokalen Regierungen in der neuen mongolischen Schrift verfasst werden mussten. Er versuchte, diese Schrift in ganz China einzuführen. 1270 weihte Pagpa Kublai zum zweiten Mal mit der Abhiseka-Zeremonie für die esoterische Lehre. Kublai beförderte Pagpa zum Kaiserlichen Lehrmeister und verlieh ihm ein neues kaiserliches Amtssiegel mit dem Titel „Der Kaiserliche Lehrmeister Pagpa, ein Pandita mit reichen Erkenntnissen in den fünf Fächern, der unter dem Himmel und auf der Erde als Buddhas Jünger am westlichen Himmel und als Inkarnation des Buddhas eine neue Schrift schaffte und den Staat behütet“. Er wurde auch der Große Dharmakönig und Kaiserliche Lehrmeister oder einfach Kaiserlicher Lehrmeister genannt. 1276 kehrte Pagpa von Dadu nach Tibet zurück. Bei der Rückkehr schrieb er für seinen Begleiter, den Prinzen Zhenjin, eigens die Schrift Doktrinen aus meiner Sicht, ein Werk über die buddhistischen Vorstellungen über die Erde sowie die drei Welten und die Lebewesen darauf, und unterwies ihn in dieser Schrift. Die chinesische Übersetzung dieses Werkes wurde ins Tripitaka aufgenommen. 1277 veranstaltete Pagpa in Chumirinmo in Westtibet (in der Nähe von Narthang) ein großes Gebetsfest, an dem 70 000 Mönche teilnahmen und das später als „Chumi-Gebetsfest“ bekannt wurde. 1280 starb Pagpa im Sakya-Kloster Lhakhang Labrang im Alter von 46 Jahren. Nachdem Pagpa ins Nirwana eingegangen war, verlieh Kublai ihm posthum den Titel „Kaiserlicher Lehrmeister der großen Yuan-Dynastie, der Große Dharmakönig und Buddhas Jünger am westlichen Himmel, der dem Kaiser beratend zur Seite stand.“ 1320 erließ der Yuan-Kaiser Renzhong ein Edikt, das in verschiedenen Landesteilen den Bau von Pagpa-Hallen zum Andenken an diese verdienstvolle Person verlangte.
Als Staats- und Kaiserlicher Lehrmeister leistete Pagpa große Beiträge nicht nur zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung in den tibetischen Regionen, sondern auch zur Stabilisierung und Entwicklung der Yuan-Dynastie, zum Zusammenschluss der ethnischen Gemeinschaften in China und zum Kulturaustausch unter ihnen. In den Worten Wang Sens: „Pagpa setzte zuerst die Innenpolitik seines Onkels Kunka Gyaltsan fort, verstärkte die Beziehungen zwischen der Lokalmacht Tibet und der Zentralregierung und beschleunigte auch den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen den Tibetern einerseits und den Han-Chinesen und Mongolen andererseits. Über Pagpa wurden zwar nur Verbindungen zwischen mongolischen und tibetischen Herrschern hergestellt, in Wirklichkeit haben sie aber die engen Beziehungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen Chinas intensiviert.“ Nach dem Tod Pagpas blieb das System des Kaiserlichen Lehrmeisters der Yuan-Dynastie unverändert. Der Posten des Kaiserlichen Lehrmeisters blieb den hochgebildeten Mönchen der Sakya-Sekte vorbehalten: Nach dem Tod Pagpas war sein jüngerer Bruder Rinchen Gyaltsan als Kaiserlicher Lehrmeister tätig. Ihm folgte Darma Pallarakasta, ein Neffe Pagpas. Dessen Nachfolger wiederum war Yeshesrinchen. Dieses Nachfolgesystem des Kaiserlichen Lehrmeisters nahm mit dem Untergang der Yuan-Dynastie ein Ende.