Eine der auffallenden Besonderheiten der Buddhastatuen im Yewang-Kloster sind ihre breiten, dicken Kutten. Sie hängen nach unten, manchmal bis zu den Füßen, und haben viele feine Falten und fließende Linien. Die meisten haben kreisförmige Blumenmotive im so genannten persischen Stil, was an die Kuttengestaltung bei den Skulpturen im Landesinnern erinnert. Die Eigenschaft, von allen Seiten das Beste zu übernehmen, war von jeher eine der großen Besonderheiten nicht nur für die Lehmskulpturen im Yewang-Kloster, sondern auch für die gesamte Plastik des tibetischen Buddhismus, ja sogar für die gesamte Kunst des tibetischen Buddhismus. Durch Aufnahme und Verarbeitung verschiedener Stile wurde schließlich so ein eigener Stil entwickelt. Typisch dafür sind die Lehmskulpturen im Palkor-Kloster von Gyaze.
Das Palkor-Kloster wurde zwischen 1427 und 1436 errichtet. Es besteht aus einer Pagode und der eigentlichen Klosteranlage. Bekannt wurde es nicht nur durch die einzigartige Pagode und seine schönen Wandgemälde, sondern auch durch die mit höchster Kunstfertigkeit geschaffenen Lehmskulpturen. Diese sind alle farbig und in allen 76 Gebetshallen der Pagode und in allen Gebetshallen der dreistöckigen Großen Halle zu finden. Die Lehmskulpturen in der Pagode wurden nach den vier Tantras geschaffen, also nach den im Kriya-, Carya-, Yoga- und Atiyoga-Tantra beschriebenen Buddhas und Bodhisattwas. Sie zeigen alle wichtigen Buddhas und Bodhisattwas der esoterischen wie der exoterischen Lehre und zudem hochgebildete Mönche und prominente Persönlichkeiten der Geschichte des tibetischen Buddhismus. Deshalb bezeichnet man diese Pagode auch als Pantheon des tibetischen Buddhismus. Diese farbigen Skulpturen, bei denen deutliche Spuren des Einflusses fremder Kunststile wie bei den früheren Plastiken nicht mehr zu sehen sind und Elemente fremder Kunst längst in sich integriert wurden, zeugen mit ihrem gewandelten Stil von den neuen ästhetischen Maßstäben und Wertvorstellungen der Tibeter. Die Skulpturen hochgebildeter Mönche und prominenter Personen in der Halle der Lambro im zweiten Stock der Großen Halle und die 16 Achat-Statuen in der Achat-Halle zählen zu den Meisterwerken tibetischer Plastik. Sie sind wohlgestaltet und zeigen einen kräftigen, gesunden Körperbau. Die Gesichter tragen individuelle Züge und gelten als Meisterwerke naturalistischer Porträts. Die Falten der Kutten wirken fließend und sind realistisch ausgeführt. Im Unterschied zu früheren Werken beschränkt man sich nicht mehr einseitig auf die äußere Gestaltung, sondern bringt die innere Welt des Dargestellten zum Ausdruck. Diese lebendig wirkenden Skulpturen machen die großen Erfolge der tibetischen Bildhauer in der Kunst des Porträts deutlich.
Man weiß, dass alle Skulpturen und Wandgemälde im Palkor-Kloster von tibetischen Künstlern stammten, die überwiegend aus Dana, Jonang, Gyaze und Nening in Westtibet sowie aus Nyimo in Lhasa kamen. Anfang des 15. Jahrhunderts trafen sich große Bildhauer aus verschiedenen Gegenden Tibets am Palkor -Kloster. Sie demonstrierten die lokalen Stilrichtungen, verglichen ihre Arbeiten und tauschten Erfahrungen aus. So bildete sich schließlich der einheitliche „Gyaze-Stil“ heraus, der in der Geschichte der tibetischen bildenden Kunst eine wichtige Position einnimmt. Mit ihm erreichte die Kunst des tibetischen Buddhismus, die über Jahrhunderte nach nationalem Ausdruck gestrebt hatte, einen echten Höhepunkt. Dieser Stil beeinflusste nachhaltig das künstlerische Schaffen im tibetischen Buddhismus auch nach dem 15. Jahrhundert.