(3) Die Reife der Bildhauerkunst des tibetischen Buddhismus (13. Jahrhundert bis zum Ende des 15. Jahrhunderts). In dieser Zeit war die feudale Wirtschaft und Kultur Tibets in ihrem Aufstiegsstadium. Die lokalen Feudalherren unterstützten nach Kräften die von ihnen favorisierten Sekten des tibetischen Buddhismus und ließen Tempel und Klöster bauen. Viele bekannte Klöster wurden in jener Zeit errichtet, darunter die Klöster Qangdin (1347), Gandain (1409), Drepung (1416), Sera (1418), Palkor (1418-1436) in Gyanze und Tashilhunpo (1447) in Xigaze. Tibetische Künstler hatten sich in langjährigen Studien die Stile der buddhistischen Bildhauerkunst Indiens, Nepals und des Landesinnern Chinas angeeignet und entwickelten nun ihre eigene Kunst des tibetischen Buddhismus. Sie schufen zahlreiche Meisterwerke, die von klassischer Schlichtheit sind und die Dargestellten nachdenklich, frei und unbefangen zeigen. Die meist realistischen Skulpturen wirken, im Unterschied zu den früheren, von indischen und nepalesischen Plastiken beeinflussten Werken, so diesseitig und lebensbejahend wie die zur gleichen Zeit entstandenen Skulpturen am Hof der Yuan-Dynastie. Es herrschte nicht mehr der Prototyp der indischen Kunst vor, dessen Figuren durch hohe Nasen, dünne Lippen und ovale Gesichter charakterisiert waren. Nun fertigte man Plastiken mit körperlichen Merkmalen, die den Tibetern vertrauter waren. Besonders bei der Gestaltung hochgebildeter Mönche trugen die Gesichter Züge von starkem Willen und Selbstbeherrschung. S-förmige Skulpturen waren nun nur noch selten zu sehen. In Mode waren würdevoll und zuverlässig wirkende Gestalten. Dabei betonte man das innere Wesen der Figur, schenkte dem Gefühlsausdruck hohe Aufmerksamkeit und legte auch mehr Wert auf die äußere Ähnlichkeit. All dies war kennzeichnend für die künstlerische Reife der tibetischen Bildhauerkunst.
(4) Allmählich Stagnation bei der Bildhauerei des tibetischen Buddhismus (nach dem 16. Jahrhundert). Nach dem 16. Jahrhundert waren Bildhauereien des tibetischen Buddhismus überwiegend durch Verweltlichung, Formalisierung und Mystifizierung sowie durch komplizierte, prachtvolle dekorative Elemente charakterisiert. An den Skulpturen wurden die typischen Linien immer feiner und verspielter; auf allerlei Zierrat wurde Wert gelegt. Die Plastiken, die der esoterischen Lehre gewidmet waren, zielten auf die Erzeugung mystischer Stimmungen ab. Althergebrachte Traditionen verhinderten einen Durchbruch in der realistischen Gestaltung. Die Dekorationen der Buddhastatuen zeigten zwar im Vergleich zu früheren Werken Fortschritte in der Feinbearbeitung und Prachtdarstellung, aber insgesamt betrachtet waren die mangelnde individuelle Charakterisierung und der fast gänzlich fehlende Gefühlsausdruck nicht zu übersehen. Die Bildhauerarbeiten, die zuvor, zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert entstanden waren, hatte eben dies ausgezeichnet, was nun offenbar verloren gegangen war. Obwohl man auch aus der Zeit nach dem 16.Jahrhundert zahlreiche Meisterwerke kennt, die äußere Ähnlichkeit mit dem Dargestellten aufweisen, halten sie keinem Vergleich mit den Meisterwerken der Blüte- und Reifezeit stand.
Die Plastiken des tibetischen Buddhismus sind aus sehr unterschiedlichen Materialien gefertigt. Es gibt zum Beispiel Skulpturen aus Metallen, wie aus Gold, Silber, Bronze und anderen Legierungen, aus Lehm, aus Holz, aus Stein oder, typisch für Tibet, aus Butter. Bei den Reliefs sind die vertieften von den erhaben herausgearbeiteten Darstellungen zu unterscheiden. Bei den Vollplastiken sind Arbeiten aus Lehm, Metall und Stein am häufigsten vertreten.