Früher riefen die Menschen andächtig den Gott des Wohlstandes an, um seinen Segen zu erbeten, heute erscheinen derartige Bräuche nur noch als amüsantes Freizeitvergnügen ohne tiefere Bedeutung. Im „Tempel der weißen Wolken" (chin. 白云观Báiyún Guàn) in Beijing kamen die Leute zum Frühlingsfest früher traditionell zum so genannten „Geldschlagen" (chin. dǎ jīnqián 打金钱) zusammen, einem Brauch, bei dem kleine Bronzemünzen auf bestimmte Ziele geworfen wurden, um so Glück und Wohlstand für die gesamte Familie zu erhalten. Heute gleicht der Brauch eher einem Darts-Wettbewerb, der nur noch der Unterhaltung dient. Der eigentliche Grundgedanke, die Geschicke für das neue Jahr zu lenken, scheint längst vergessen. Um das eigene Glück auf die Probe zu stellen, verlassen sich die Menschen heute lieber auf den Kauf eines Lotterieloses, von dem sie sich mehr Aussagekraft versprechen.
Das Zünden von Feuerwerkskörpern und Silvesterkrachern gilt seit der Antike als symbolische Handlung, um böse Geister zu vertreiben und gleichzeitig die Feststimmung zusätzlich anzufachen. Die ohrenbetäubende Geräuschkulisse und die Rauchsäulen, die sich hoch in den Himmel winden, sorgten seit jeher bei den Menschen für größte Verzückung, man fühlt sich wie in eine andere Welt versetzt. Heute ist das Geknalle wegen der hohen Umweltbelastung und immer wieder auftretenden Unfällen, bei denen nicht selten Menschen verletzt werden, in vielen Großstädten, vor allem in Gegenden mit einer hohen Bevölkerungsdichte, verboten.
Auch wenn man versucht hat, das Spektakel durch weniger gefährliche und umweltfreundlichere Formen wie elektrisches Feuerwerk oder das Zertreten kleiner Luftballons zu ersetzen, lieben die Chinesen noch immer ihr Feuerwerk heiß und innig. Alle erdenklichen Alternativen konnten das Gefühl eines echten Feuerwerkspektakels mit Krachen, Knistern und Funkensprühen einfach nicht ersetzen. Viele Chinesen, die in Bereichen wohnen, in denen das Zünden von Feuerwerkskörpern verboten ist, fahren oft eigens in umliegende Bezirke, um ihr traditionelles Silvesterfeuerwerk entfachen zu können.
Noch immer gibt es zum Frühlingsfest als traditionelle Festspeise gekochte Teigtäschchen, die so genannten Jiǎozi (chin. 饺子), eine Art chinesische Maultaschen mit unterschiedlichsten Füllungen. Und obwohl in den Supermärkten mittlerweile das ganze Jahr über eine reiche Palette an köstlichen hand- und maschinengefertigten Maultaschen tiefgekühlt erhältlich ist, bereiten fast alle Familien die Teigtaschen zum Frühlingsfest zuhause im Kreis der Familie gemeinsam in mühevoller Handarbeit selber zu. Das gemeinsame Formen der Teigtaschen gilt als Symbol des Zusammenkommens, der Harmonie und des Zusammenwirkens der Familie. Es ist ein gefühltes Vergnügen, eine Form des liebevollen und freundschaftlichen Verschmelzens und Austausches. Hier haben sich die alten Traditionen, anders als in vielen anderen Bereichen, eindeutig gegenüber den Herausforderungen der Moderne behaupten können.
Anders ist es etwa, wenn es um die Geschenke für die Kleinsten geht: Handgefertigte Spielzeuge wie einfache Tonfiguren, Masken und Holzschwerter können bei Kinder angesichts der Konkurrenz von modernen Computerspielen und aufwendigen Elektrospielzeugen längst nicht mehr punkten. Und auch die traditionellen Neujahrsumzüge und Theateraufführungen büßen gegenüber flimmernden und farbenfrohen Fernsehbildschirmen und Kinoleinwänden immer mehr an Attraktivität ein.
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Galavorstellung am „Silvesterabend" |
Die Menschen reagieren recht unterschiedlich auf den Wandel der Festbräuche. Vor allem junge Chinesen lassen Altes und Neues miteinander verschmelzen: Sie nehmen sowohl die althergebrachten Traditionen an, geben den Feiertagen aber auch ihre ganz persönliche Note. Die langen Ferien geben ihnen die Möglichkeit, im In- oder Ausland zu verreisen oder ihre Weltsicht durch ausgedehnte Erkundungstouren im World Wide Web zu erweitern. So finden sie ihre ganz eigene Freude und Bereicherung an den Festtagen.
Natürlich mögen die Veränderung für einige Chinesen, vor allem ältere Menschen, die an der Vergangenheit hängen, unvermeidlich ein Gefühl des alternativlosen Verlustes mit sich bringen. Das moderne Frühlingsfest mag sich für sie einfach anders, für viele nicht mehr so gut wie früher anfühlen. Aber nicht jede Neuerung muss einem Verlust gleichkommen. Zwar sind einerseits viele der Delikatessen, die früher nur zu Ehren des Frühlingsfests auf den Tisch kamen, heute zu normalen Alltagsspeisen geworden, und haben dadurch sicher einen Teil ihrer Besonderheit eingebüßt. Dafür müssen die Menschen anderseits heute aber auch nicht mehr dem neuen Jahr entgegenfiebern, um sich neu einkleiden zu können. Während man sich früher nur einmal im Jahr, nämlich anlässlich des Frühlingsfestes, ein neues Outfit gönnen konnte, wird der Inhalt des Kleiderschrankes heute immer wieder durch neue modische Stücke aufgefrischt, um mit dem Trend auf dem Laufenden zu bleiben.
Letztlich sind trotz aller Herausforderungen, die die Moderne mit sich bringt, viele traditionelle Aktivitäten, Bräuche und Kulturgegenstände des chinesischen Frühlingsfestes und mit ihnen ihr hoher kultureller Wert und ihre künstlerische Note in das kulturelle Erbe des Landes übergegangen und mit der modernen gesellschaftlichen Kultur verschmolzen. Sie sind erhalten geblieben, entwickeln sich stetig weiter und werden wohl auch in Zukunft kaum in Vergessenheit geraten. Performancekünste wie der Drachen- oder Löwentanz oder die traditionellen Neujahrsumzüge und das Blumenfest gehören zu solchen unvergessenen Traditionen, die sich trotz aller Konkurrenz noch immer großer Beliebtheit erfreuen. Und auch traditionelle Produkte wie die farbenprächtigen Neujahrsbilder oder Neujahrsspruchbänder sind noch immer in fast allen Wohnungen und Gebäuden als Schmuckelemente zu finden.