Träume anregen und Talente wecken

In Tibet leben rund 2,6 Millionen Menschen, rund 350 000 davon sind wie Tenberken von einer Sehbehinderung betroffen. Als Tenberken 1998 ihre Blindenschule eröffnete, war es die erste Schule für sehbehinderte Kinder in Lhasa und auch die erste derartige Bildungseinrichtung in Tibet überhaupt. Heute kommen die Schüler aus allen Teilen des autonomen Gebiets. Unterricht und Unterkunft sind kostenlos.

Die Schule wird hauptsächlich über die Organisation „Braille ohne Grenzen“, die Tenberken und ihr Mann eigens gegründet haben, geleitet. Die Finanzierung erfolgt über Spendengelder von Organisationen und Privatpersonen. Auch Fördergelder der Bundesregierung fließen in das Projekt. Einer der größten privaten Geldgeber ist Vorstandschef Wang Shi von Vanke, dem größten Immobilienunternehmen Chinas.

Sabriye Tenberken mit ihrem Ehemann Paul Kronenberg

Am Anfang hatte die Einrichtung nur sechs Schüler. Um die Kommunikation mit den Schülern zu erleichtern, mietete Tenberken kurzerhand ein Pferd und ritt damit in den 170 Kilometer entfernten Ort Zhikung, um auch die dortigen sehbehinderten Kinder zu unterrichten. „Dass sie mit dem Pferd zu den Kindern geritten ist, war eine unglaubliche Erfahrung“, erinnert sich Gyilha. „Sie sagte damals, sie selbst könne zwar nicht sehen, aber das Pferd könne das für sie übernehmen. Sie hatte unglaubliches Vertrauen in dieses Pferd und ist ihm einfach gefolgt.“ Heute ist die Schule berühmt, die Nachfrage übersteigt längst die Kapazität.

Die Klassen der Schule sind nicht nach Altersgruppen getrennt, sondern nach der Aufnahmefähigkeit der Kinder in eine „Mäuse-“, eine „Tiger-“ und eine „Hasenklasse“ aufgeteilt. Auf dem Stundenplan stehen Fächer wie Englisch, Tibetisch, Hochchinesisch, Informatik, Kunst und Musik.

Schwierig ist es vor allem, die psychischen Unsicherheiten und Selbstzweifel der Kinder zu überwinden. Hierfür haben sich Tenberken und ihr Mann etwas ganz Besonderes ausgedacht: Sie lassen die Kinder ihren großen Traum nachbilden oder beschreiben. Der achtjährige Norbu ließ sich eine Woche Zeit, um zu überlegen. Danach kam er zu Tenberken und erzählte, er wolle Taxifahrer werden.

„Das ist super!“, ermutigte Tenberken den Jungen. Als sie sich zwei Jahre später noch einmal bei Norbu erkundigte, was aus seinem Traum geworden sei, antworte der Junge: „Ich weiß jetzt, dass ich blind bin und nicht selbst wirklich Taxi fahren werde. Aber ich kann ein Taxiunternehmen gründen und andere Leute einstellen, die für mich fahren.“

Um die Talente der Kinder zu wecken, lud Tenberken den Bergsteiger Erik Weihemayer und sein Team in die Schule ein. Weihemayer ist der erste Blinde, der den Gipfel Qomolangma (Mount Everest) bezwungen hat. Unter seiner Anleitung sollten die Kinder einen Gipfel des Himalaja besteigen. Nach hartem Training und intensiven Vorbereitung kletterte eine Gruppe von sechs Kindern auf die Rekordhöhe von 6500 Meter über dem Meeresspiegel. Es war die erste blinde Bergsteigertruppe, die jemals so hoch geklettert war. Über dieses einzigartige Ereignis wurde der Dokumentarfilm „Blindsight“ gedreht, der mit vielen internationalen Preisen prämiert wurde.