Der Weg ist das Ziel

Von Wolfgang Schaub

Es ist Sonntagmorgen in Beijing. Kein Kirchenglockengeläute. Keine verwaisten Straßen, keine leeren öffentlichen Verkehrsmittel. Ganz im Gegenteil.

Eigentlich möchte ich heute ganz gemütlich zum „Kloster der weißen Wolken“, der größten daoistischen Anlage in Beijing. Draußen ist nicht zu erkennen, welchen Wochentag wir haben, schon gar nicht, ob heute Sonntag ist. Mit dem Bus fahre ich einige Stationen bis zur U-Bahn. Der Bus ist für chinesische Verhältnisse „leer“. Alle Sitzplätze sind zwar besetzt, aber es bleibt genügend Stehplatz. „Prima“, denke ich mir – und vergesse meine erste Busregel: Immer auch daran denken, wie ich wieder herauskomme. Und genau dies wird an den nächsten Stationen zum Problem.

Es steigen immer mehr Fahrgäste ein, kaum einer steigt aus und zwischen mir und dem Ausstieg bildet sich eine undurchdringliche „chinesische Mauer“. Was nun? Sich durchzwängen, Ellbogen einsetzten? Ich disponiere um und fahre weiter zur Xidan, der zweiten großen Einkaufsmeile in Beijing nach der Wangfujing. Genau dort steigen auch fast alle anderen Passagiere aus, denn heute heißt die Tageslosung „shopping“. Auch am Sonntag haben alle Geschäfte geöffnet und die Mehrzahl der Beijinger frei. Und ich mache mit.

Durch Zufall gerate ich nicht in einen der großzügig und luxoriös gestalteten Konsumtempel, wo sich die Menschenmassen besser verteilen, sondern in ein achtstöckiges Kaufhaus mit hunderten kleiner Stände. Schrecklich langsam fließe ich mit dem Kundenstrom von Stockwerk zu Stockwerk, Ausschau haltend nach der Elektroabteilung, die gar nicht so leicht zu finden ist, wenn man bedenkt, dass zwei Drittel der Verkaufsfläche in chinesischen Kaufhäusern Bekleidung, Schuhen und Accessoires vorbehalten ist. China ist nicht nur der weltgrößte Produzent von Textilien, sondern auch deren bester Konsument.

Ich brauche nur ein Kabel, um meine Videos auf dem Fernsehbildschirm ansehen zu können. Durch Zufall stoße ich auf einen ca. 6 qm kleinen Stand, der wie ein Elektro-Kramladen aussieht, und ohne große Hoffnung trage ich dem jungen Mann mit Gesten und in verbesserungswürdigem Englisch meinen Wunsch vor. Er verschwindet kommentarlos in seinen 2 qm Lager und erscheint mit dem richtigen Kabel in der Hand. Dazu gibt er mir mit geschickten und verständlichen Gesten noch einen wertvollen technischen Tipp. Ich war überrascht, erfreut und beschämt. Ich hatte ihn und sein winziges Geschäft unterschätzt.

Wem so viel Gutes widerfährt, das ist schon – einen Kaffee wert. Ich bekomme sogar sofort und problemlos einen Sitzplatz in einer amerikanischen Fast-Food-Kette. Das ist nicht immer so bei Kundenmassen, die deutsche Filialen sicherlich vor Neid erblassen lassen.