Bereits nach wenigen Metern wird der Pfad enger, die Abschnitte steiler. Immer entlang des Flusses folgen wir den hoch aufragenden Felsen und bewundern die reiche Vegetation. Die erste Station ist das Tal der Skorpione, dessen Einwohner heute glücklicherweise nicht zu Hause sind. Die Bäume und Büsche krallen sich an steil abfallendes Geröll und geben nur teilweise den Blick auf kargen Fels frei. An manchen Stellen bricht sich das Sonnenlicht auf so merkwürdige Weise, dass subtile Muster entstehen. So wie in einem Teilabschnitt, dessen Eingang mit dem viel versprechenden Namen „Wunderland" überschrieben ist. Und tatsächlich: Die Besucher erwartet ein imposantes Spiel aus Sonne und Schatten, dazu Wasser in Farbstufen von dunkelblau bis grasgrün. Wer durch das Wunderland wandern möchte, muss vorsichtig über die kleinen Steinstufen im Wasser balancieren. Es fällt schwer, den Blick auf die Steine zu richten und sich angesichts der anziehenden Kulisse auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Glücklicherweise gibt es genügend kleine Zwischenstationen, von denen man mit sicherem Boden unter den Füßen das Naturschauspiel bewundern kann. Nach dem „Wunderland" geht es über steile Treppen weiter, immer entlang des Flusses. An einigen Stellen plätschern natürliche Quellen, an anderen kann man seltene Pflanzen bestaunen. Wem die Treppen zu steil sind und der Weg zu lang und steinig, der kann sich auch durch die Schlucht tragen lassen. Heute scheinen die meisten der Tagestouristen aber beschlossen zu haben, lieber selbst zu laufen und so funktionieren die Träger ihre Arbeitsgeräte eben zu Liegestühlen um.
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Bailixia bietet ein Medley aus steil aufragenden Felswänden und üppiger Vegetation |
Obwohl Bailixia mit seinen Wildblumen, kleinen Flüsschen und abschüssigen Pfaden ein beliebtes Ausflugsziel ist – nicht umsonst wirbt sie mit dem Titel „die erste Schlucht unter dem Himmel" – und obwohl die Elektroautos ohne Pause immer mehr Wandervögel zum Schluchteingang befördern, ist es innerhalb der Schlucht überraschend ruhig und wir freuen uns über „viel Platz und wenig Menschen", ganz im Gegensatz zur Hauptstadt. Wir erreichen die „Zickzack-Schlucht". Hier können sie den Himmel nicht sehen, warnt das Schild am Eingang und es sieht wirklich so aus, als führe der immer schmaler werdende Pfad ins Nichts. Die Felsen ragen beinahe senkrecht hinauf und sind so übereinander gestapelt, dass man vom Himmel wirklich nur einen sehr weit entfernten blassblauen Streifen erhaschen kann. Schon bald wird es aber wieder Tag und wir erreichen das nächste Tal, in dem sich der Weg gabelt. Möglichkeit eins sind die lang gewundenen Treppenstufen in Richtung Gipfel. Angesichts der Mittagshitze scheint Möglichkeit zwei da gleich viel verlockender: Wir nehmen die wenigen Alibi-Stufen hinauf zur kleinen Seilbahnstation. Am Tickethäuschen hängt eine liebevoll selbst gemalte Skizze, die den genauen Verlauf der Seilbahn anzeigt. Es ist leer. Außer uns scheint niemand Seilbahn fahren zu wollen, trotz der Hitze votieren viele für den Aufstieg per pedes. Wir denken uns nichts dabei und ein letzter Blick auf die steilen, nicht enden wollenden Treppenstufen löscht auch den letzten Zweifel aus. Was man von unten aber nicht erahnt, die Seilbahnfahrt hat es in sich. In halb-offenen Gondeln geht es Angst einflößend langsam mit viel Geschaukel und beinahe senkrecht nach oben. Es braucht nur ein paar Meter, bis wir begreifen, warum die meisten die Stufen bevorzugen. Die Stille, die hier herrscht, wird nur ab und zu von den Schreckensrufen der Fahrgäste in uns entgegenkommenden Gondeln durchdrungen. „Habt ihr auch so viel Angst wie wir?" „Nein!...Mehr!" .Und dabei sehen die kleinen 2-Mann-Gondeln in blau, gelb und orange so niedlich aus. Nur gut, dass unten genug Bäume stehen, um die Felsvorsprünge zu kaschieren, andernfalls wäre es wirklich gruselig. Die Minuten nach der Ankunft verbringe ich damit, meiner Begleiterin – die sich ihre erste Seilbahnfahrt etwas romantischer vorgestellt hatte - zu versichern, dass wir ja nur das Hinfahrtticket genommen haben und nicht noch einmal einsteigen müssen.
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Von außen sehen sie ganz harmlos aus, aber eine Fahrt in den Seilbahngondeln hinauf zum Wangjingtuo-Fels hat es in sich. |
Glücklicherweise kommt uns Mutter Natur zu Hilfe und lenkt uns mit atemberaubender Aussicht und einer frischen Brise ab. Ein Rundblick vom Wangjingtuo-Fels, den wir soeben erklommen haben, macht die Fehlentscheidung Seilbahnfahrt wieder wett. Damit ist das Abenteuer Wangjingtuo-Fels aber noch nicht beendet. Schließlich müssen wir ja auch wieder nach unten. Schmal und steil winden sich die Holzstufen herab. Wir beginnen bei Stufe 536 und bezweifeln, dass man vom Gipfel aus in nur 536 Holzstufen das Tal erreichen kann. Auf der Hälfte, bei Ziffer „0" dann die Erkenntnis: Ein Blick zurück zeigt, auf den Stufen sind in verblassender roter Farbe die Daten chinesischer Geschichte gemalt. Wir sind also nicht bei Stufe 0, sondern im Jahr Null angekommen. Beim Gedanken an die lange Historie Chinas machen wir uns auf einen sehr langen Abstieg gefasst und hoffen insgeheim bald im 21. Jahrhundert anzukommen. Die „Geschichtsstufen" am Wangjingtuo-Felsen sind übrigens am besten beim Aufstieg zu bewundern.
Nachdem wir ein weiteres Stück geschafft haben, hören wir von unten einen erfreuten Ausruf: „Schau mal, wo wir sind. Nur noch 200 Jahre", ruft die Dame mit sehr großer Sonnenbrille entzückt, schnauft kurz durch und zieht sich am Geländer um die Ecke und hinauf zur nächsten Stufe. Wir beschließen, ihr besser nicht zu sagen, dass es „vor Christi Geburt" noch weiter geht und sie noch mehr als das Doppelte vor sich hat. Wer die Geschichtsstufen nehmen möchte, sei gewarnt, man sollte die eigenen Kräfte nicht überschätzen, vor allem nicht in sommerlicher Mittagshitze. Unten angekommen zittern immer noch die Knie von der Seilbahnfahrt; die Beine sind immer noch am Treppensteigen. Die Stufen enden im Jahr 481, „Beginn der Chinesischen Geschichtsaufzeichnungen" steht da. Nachdem wir noch die Akustik der „Echo-Höhle" ausprobiert haben, geht es mit immer noch wackeligen Beinen in Richtung Ausgang, wo eine ganze Armee Eselkutschen wartet. Diesmal nehmen wir Frau Chens Angebot dankend an. Unter viel Geruckel und Geschaukel geht es den Schotterweg entlang zurück in Richtung Bahnhof. Die Zugladung Wochenendausflügler, die wieder zurück in Richtung Beijing rollt, ist erschöpft aber sehr beeindruckt. Auch wir beschließen, dass es sich gelohnt hat. Nur die Seilbahnfahrt lassen wir nächstes Mal besser aus.