In chinesischen Historikerkreisen heißt es, dass die Residenz des Prinzen Gong wegen ihrer einst prominenten Bewohner „die halbe Geschichte der Qing-Dynastie" verkörpere. Unter ihren Besitzern befand sich zum Beispiel der berühmt-berüchtigte Hofbeamte He Shen, ein Günstling des Qing-Kaisers Qianlong, der sogar eine der Töchter des Kaisers heiratete. In die Geschichte ging er vor allem als ein „Star" der Korruption und Bestechlichkeit ein. In seinen Privatgemächern in der Residenz soll er eine Milliarde Silber-Tael angehäuft haben, was damals den Einnahmen der Qing-Regierung von fünfzehn Jahren entsprach. He fand ein unrühmliches Ende, als unter dem folgenden Kaiser Jiaqing sein Betrug aufgedeckt wurde und er der Aufforderung zum Selbstmord Folge leisten musste.
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Völlig vertieft: Die Veranstaltung fand großen Anklang bei den Besuchern. |
Die Residenz erhielt ihren Namen nach Gong Yixin, dem Prinzen Gong, der im Jahr 1852 die Anlage bezog. Er war ein jüngerer Bruder des Kaisers Xianfeng und gilt als eine der wichtigsten politischen Persönlichkeiten der neueren Geschichte Chinas. Diesen Ruf erhielt er nicht nur aufgrund seiner Stellung als enger Vertrauter der Kaiserin-Witwe Cixi, sondern vor allem wegen seiner – unter den hohen Würdenträgern des Kaiserhofes ungewohnten - Offenheit gegenüber dem Westen. Er übte zum Teil erheblichen Einfluss auf die Politik des Kaiserhofes aus und gilt als der Initiator der ersten Reformbewegung in der späteren Qing-Zeit, der „Selbststärkungsbewegung". Er war es auch, der als erster hoher Würdenträger mit einem westlichen Fotografen in Verbindung trat und sich fotografisch abbilden ließ.
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Direktor Sun im Gespräch mit Besuchern |
Viele weitere berühmte Persönlichkeiten Chinas gehörten zeitweise zu den Bewohnern des Prinzenpalastes, insbesondere solche, die als Gelehrte oder Künstler die Kulturgeschichte Chinas im 20. Jahrhundert mitgeprägt haben. Sie waren Studenten der katholischen Furen-Universität, der Forschungsakademie für die Traditionelle Oper oder der Kunstakademie, die alle im Verlauf der Jahrzehnte nach dem Sturz der Qing-Dynastie im Jahre 1911 in der Residenz ihren Sitz hatten. Auch bekannte Persönlichkeiten wie Hu Shi, Lu Xun und Wang Guowei lehrten einst an dieser Universität.Ein Enkel des berühmten Prinzen Gong, der ebenfalls berühmte Maler Pu Xinyu, ein Meister der traditionellen Landschafts- und Vogelmalerei, lebte als Heranwachsender gleichfalls in der Residenz. Damit hat sich die Faszination der Residenz des Prinzen Gong aber noch nicht erschöpft.
Durch die Ausstellung im Chinesischen Kulturzentrum und einen ergänzenden hochinteressanten Fachvortrag von Dr. Feng Linggang erfuhren wir deutschen Besucher zu unserem Erstaunen, dass etliche Gebäude und der große Garten (Daguanyuan) der prinzlichen Residenz das Vorbild für die in dem berühmten Roman „Traum der roten Kammer" von Cao Xueqin geschilderte Wohnanlage geliefert hat. Bestimmte Hofhäuser seien von dem Schriftsteller detailgetreu geschildert und in die Romanhandlung aufgenommen worden. Die chinesischen Besucher wussten das offensichtlich schon.
Insgesamt traf die Ausstellung im Chinesischen Kulturzentrum Berlin auf großes Interesse, Wissensdurst und Zustimmung. Sie bot den Besuchern auf vielfältige Weise die Möglichkeit, sich ausführlicher mit einer wichtigen Seite der Kultur und Geschichte Chinas in den letzten Jahrhunderten vertraut zu machen und ihr Wissen über das Leben der einstigen herrschenden Schicht zu erweitern. Zahlreiche Besucher empfanden dies als eine neue Qualität in dem vom Kulturzentrum angebotenen Programm, vor allem deshalb, weil es hier nicht nur um reine Information ging, sondern die Neugier der Besucher geweckt wurde und damit der Wunsch entstand, noch viel mehr zu erfahren.
Das eingangs erwähnte Ehepaar will nun unbedingt erneut nach Beijing fliegen, um die Residenz des Prinzen Gong selbst in Augenschein zu nehmen. „Möglichst dann", meinten sie, „wenn dort eine der großen Kunstausstellungen oder Theateraufführungen stattfindet!"
Und ich spüre, dass es auch mich gepackt hat – nun werde ich bestimmt wieder einmal zum „Traum der roten Kammer" greifen und mich auf so spannende Weise in jene Zeit zurückversetzen lassen …