Dieses
Jahr war das Frühlingsfest anders für mich
Von Li Bing
In China ist es üblich, zum Frühlingsfest
in seinen Heimatort zurückzufahren, meistens mit dem Zug.
Das Frühlingsfest ist das Neujahr nach dem Mondkalender und
das wichtigste traditionelle Fest Chinas – man kann es etwa
mit Weihnachten im Westen vergleichen. Dabei wird groß
eingekauft und aufgekocht. Man kommt mit den Familienangehörigen
zusammen und besucht Freunde und Verwandte.
Aber
das Frühlingsfest war dieses Jahr für mich anders. Als die
Winterferien begannen, fuhr ich zusammen mit meiner Freundin
in meinen Heimatort aufs Land. Denn wie es die ländlichen
Sitten in China wollen, sollte man seine Freundin vor die
eigenen Eltern bringen, damit sie das Mädchen persönlich
kennen lernen und sagen können, ob sie mit ihr zufrieden
sind oder nicht. Ich war unruhig, weil ich befürchtete, dass
meine Freundin meinen Eltern nicht gefallen würde. Meine Freundin
studiert Musik an der Zentralen Universität der Nationalitäten
in Beijing, sie ist schön, klein, aber sehr schlank,
langhaarig und zierlich. Ich liebe sie und sie liebt mich
auch. Schlimm ist, dass sie ebenfalls vom Land stammt. Ihre
Familie ist so arm wie meine. Meine Eltern aber wollen, dass
ich eine Freundin aus einer reichen Familie in der Stadt finde,
damit ich dort ein glückliches Leben führen kann. Ich weiß,
die Ansichten meiner Eltern sind schon anders als meine, man
könnte sagen, ihre Ansichten sind viel zu rückständig.
Aber ich weiß auch, daß meine Eltern für mich
nur Erfolg und Glück wollen. Ich würde sie einfach davon überzeugen
müssen, daß ich mit meiner Freundin in der Stadt bleiben,
eine Stelle finden, sehr viel verdienen und ein glückliches
Leben führen kann. Aber es würde schwierig werden.
Leider
konnte ich sie nicht überzeugen. Sie setzten ihre Köpfe
durch und wollten, daß ich meine Freundin nicht weiter
liebe. Traditionell war es in China Sitte, daß die Eltern
mit einer Ehevermittlerin über die Verheiratung der Kinder
entschieden. „Wie die Eltern befehlen und wie die Ehestifterin
spricht“, lautet eine Redensart. In den Städten ist es
jetzt nicht mehr so, aber auf dem Land hat diese Sitte noch
großen Einfluss. Wenn ich eine Freundin aus einer großen
Stadt, aus Beijing oder Shanghai, nach Hause brächte,
wären meine Eltern bestimmt stolz auf mich. Aber ich
habe ihnen keinen Ruhm gebracht. Meine Verwandten waren mit
meinen Eltern einer Meinung. Sie wollten auch nicht, daß
ich mit meiner Freundin zusammen einen Ausflug mache. Es war
das erste Mal, dass ich ein unglückliches Frühlingsfest verbrachte.
Bis jetzt war zu Hause jedes Jahr alles gleich, in meinem
Gedächtnis ist das Frühlingsfest feierlich, jeder lacht.
Die Kinder sind am glücklichsten, sie können Feuerwerk
und Knaller abbrennen, etwas Gutes essen und bekommen Frühlingsgeld.
Als Kind war es interessant, aber auch für Ausländer.
Doch jetzt muss ich mich um meine Zukunft kümmern. Ich hatte
zum ersten mal die Sorgen und Schmerzen der Erwachsenen. Am
ersten Tag des neuen Jahres nach dem chinesischen Mondkalender
musste ich, wie es der Brauch will, die ältesten Verwandten
im Dorf besuchen. Aber ich musste auch noch die Eltern meiner
Freundin anrufen, doch ich wollte nicht von zu Hause aus telefonieren.
Am zweiten Tag musste ich die Schwester meines Vaters besuchen.
Am dritten Tag die Geschwister meiner Mutter. Und dann die
Freunde. Das Frühlingsfest dauert bis zum Fünfzehnten des
neuen Jahres. Aber ich wollte nicht lange zu Hause bleiben,
weil ich einen Druck verspürte. Jetzt verstehe ich, warum
so viele Leute in die Stadt gehen wollen. Dort haben sie nicht
nur ein besseres Leben, sondern auch Freiheit. Es gibt diese
rückständigen Sitten nicht, man kann lieben, wen man
will. Ich wollte sofort nach Beijing fahren. Meine Eltern
waren sehr traurig, sie konnten meine Unzufriedenheit fühlen.
Zwischen Land und Stadt, zwischen Bauern
und Stadtbewohnern ist eine breite Kluft. Die Bauern sind
zweitrangige Bürger, sie träumen davon, eines Tages nicht
mehr Bauer sein zu müssen.
Seit diesem Frühlingsfest bin ich fest entschlossen,
meine Freundin für immer zu lieben. Vielleicht wollten Sie,
liebe Leser im Ausland, mehr über das Frühlingsfest in China
wissen und sind nach dem Lesen etwas enttäuscht. Entschuldigung.
Wenn Sie das Frühlingsfest erleben wollen, kommen Sie nach
China, ich kann Sie zum Fest in meinen Heimatort einladen.