Juni 2003
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Gesellschaft

Freuden und Leiden der Menschen mittleren Alters
Dieses Jahr war das Frühlingsfest anders für mich

Dieses Jahr war das Frühlingsfest anders für mich

Von Li Bing

In China ist es üblich, zum Frühlingsfest in seinen Heimatort zurückzufahren, meistens mit dem Zug. Das Frühlingsfest ist das Neujahr nach dem Mondkalender und das wichtigste traditionelle Fest Chinas – man kann es etwa mit Weihnachten im Westen vergleichen. Dabei wird groß eingekauft und aufgekocht. Man kommt mit den Familienangehörigen zusammen und besucht Freunde und Verwandte.

Aber das Frühlingsfest war dieses Jahr für mich anders. Als die Winterferien begannen, fuhr ich zusammen mit meiner Freundin in meinen Heimatort aufs Land. Denn wie es die ländlichen Sitten in China wollen, sollte man seine Freundin vor die eigenen Eltern bringen, damit sie das Mädchen persönlich kennen lernen und sagen können, ob sie mit ihr zufrieden sind oder nicht. Ich war unruhig, weil ich befürchtete, dass meine Freundin meinen Eltern nicht gefallen würde. Meine Freundin studiert Musik an der Zentralen Universität der Nationalitäten in Beijing, sie ist schön, klein, aber sehr schlank, langhaarig und zierlich. Ich liebe sie und sie liebt mich auch. Schlimm ist, dass sie ebenfalls vom Land stammt. Ihre Familie ist so arm wie meine. Meine Eltern aber wollen, dass ich eine Freundin aus einer reichen Familie in der Stadt finde, damit ich dort ein glückliches Leben führen kann. Ich weiß, die Ansichten meiner Eltern sind schon anders als meine, man könnte sagen, ihre Ansichten sind viel zu rückständig. Aber ich weiß auch, daß meine Eltern für mich nur Erfolg und Glück wollen. Ich würde sie einfach davon überzeugen müssen, daß ich mit meiner Freundin in der Stadt bleiben, eine Stelle finden, sehr viel verdienen und ein glückliches Leben führen kann. Aber es würde schwierig werden.

Leider konnte ich sie nicht überzeugen. Sie setzten ihre Köpfe durch und wollten, daß ich meine Freundin nicht weiter liebe. Traditionell war es in China Sitte, daß die Eltern mit einer Ehevermittlerin über die Verheiratung der Kinder entschieden. „Wie die Eltern befehlen und wie die Ehestifterin spricht“, lautet eine Redensart. In den Städten ist es jetzt nicht mehr so, aber auf dem Land hat diese Sitte noch großen Einfluss. Wenn ich eine Freundin aus einer großen Stadt, aus Beijing oder Shanghai, nach Hause brächte, wären meine Eltern bestimmt stolz auf mich. Aber ich habe ihnen keinen Ruhm gebracht. Meine Verwandten waren mit meinen Eltern einer Meinung. Sie wollten auch nicht, daß ich mit meiner Freundin zusammen einen Ausflug mache. Es war das erste Mal, dass ich ein unglückliches Frühlingsfest verbrachte. Bis jetzt war zu Hause jedes Jahr alles gleich, in meinem Gedächtnis ist das Frühlingsfest feierlich, jeder lacht. Die Kinder sind am glücklichsten, sie können Feuerwerk und Knaller abbrennen, etwas Gutes essen und bekommen Frühlingsgeld. Als Kind war es interessant, aber auch für Ausländer. Doch jetzt muss ich mich um meine Zukunft kümmern. Ich hatte zum ersten mal die Sorgen und Schmerzen der Erwachsenen. Am ersten Tag des neuen Jahres nach dem chinesischen Mondkalender musste ich, wie es der Brauch will, die ältesten Verwandten im Dorf besuchen. Aber ich musste auch noch die Eltern meiner Freundin anrufen, doch ich wollte nicht von zu Hause aus telefonieren. Am zweiten Tag musste ich die Schwester meines Vaters besuchen. Am dritten Tag die Geschwister meiner Mutter. Und dann die Freunde. Das Frühlingsfest dauert bis zum Fünfzehnten des neuen Jahres. Aber ich wollte nicht lange zu Hause bleiben, weil ich einen Druck verspürte. Jetzt verstehe ich, warum so viele Leute in die Stadt gehen wollen. Dort haben sie nicht nur ein besseres Leben, sondern auch Freiheit. Es gibt diese rückständigen Sitten nicht, man kann lieben, wen man will. Ich wollte sofort nach Beijing fahren. Meine Eltern waren sehr traurig, sie konnten meine Unzufriedenheit fühlen.

Zwischen Land und Stadt, zwischen Bauern und Stadtbewohnern ist eine breite Kluft. Die Bauern sind zweitrangige Bürger, sie träumen davon, eines Tages nicht mehr Bauer sein zu müssen.

Seit diesem Frühlingsfest bin ich fest entschlossen, meine Freundin für immer zu lieben. Vielleicht wollten Sie, liebe Leser im Ausland, mehr über das Frühlingsfest in China wissen und sind nach dem Lesen etwas enttäuscht. Entschuldigung. Wenn Sie das Frühlingsfest erleben wollen, kommen Sie nach China, ich kann Sie zum Fest in meinen Heimatort einladen.

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