„Go 
                      to Beach after Lunch“
                    
                      Von Olivier 
                        Roos 
                      
                     
                    Montag
                    6:45 
                      a.m.: Leave Friendship Hotel for Beijing Railway Station
                    Beim 
                      Aufstehen zu ungewohnt früher Stunde ein Zwicken im Kreuz: 
                      War die Klimaanlage zu kühl eingestellt, oder ist doch die 
                      Matratze Schuld? Ausgerechnet jetzt bahnt sich ein Hexenschuss 
                      an. Dabei stehen doch, wie jedes Jahr Ende Juli, für die 
                      „Foreign Experts“ im Dienste der chinesischen Regierung 
                      wie mich einige Urlaubstage am Meer an. Und ich würde den 
                      täglichen Programmpunkt „Go to Beach after Lunch“ wirklich 
                      lieber nicht mit einem steifen Rücken und schmerzverzerrtem 
                      Gesicht absolvieren. Um 6.52 stehen meine Frau und ich am 
                      Abfahrtsort – und sind die einzigen. Ein leerer Kleinbus 
                      wartet auf uns. Sind die anderen so pünktlich abgefahren, 
                      oder fährt etwa niemand außer uns? Ist der Expertenurlaub 
                      in Beidaihe vielleicht doch nicht so toll, wie uns Freunde 
                      vorgeschwärmt hatten? Der Beifahrer tut sein Bestes, 
                      um unsere Zweifel zu bestärken. „Jedes Jahr immer wieder 
                      Beidaihe. Schlechtes Hotel, schlechtes Essen, und den Strand 
                      kann man auch vergessen. Letztes Jahr musste ich gar drei 
                      Mal mitfahren. Das war vielleicht nervig!“, beklagt er sich 
                      beim Fahrer. Im Bahnhof angekommen, wird uns erst bewusst, 
                      welche Behandlung uns in den nächsten Tagen erwartet. 
                      Durch ein Seitentor fährt unser Bus direkt auf den 
                      Bahnsteig Nr. 1, wo der Schnellzug nach Qinhuangdao – ohne 
                      Halt bis Beidaihe – wartet. Und all das nur, weil wir um 
                      den Hals einen „Foreign Expert Recreation Pass“ hängen 
                      haben. 
                    7:52 
                      a.m.: Leave Beijing by Train No. Y 509
                    Wir 
                      fahren beileibe nicht allein nach Beidaihe. Ein ganzer Wagen 
                      ist für die „Foreign Experts“ und Familienanhang reserviert. 
                      Es ist nicht leicht, auf den unförmigen Bänken 
                      mit den senkrechten Rückenlehnen eine angenehme Schlafstellung 
                      zu finden, doch die Müdigkeit siegt. Danach – danach rufen 
                      sich die Kreuzschmerzen in Erinnerung.
                    10:48 
                      a.m.: Arrive at Beidaihe and check in at Foreign Experts 
                      Sanatorium
                    Das 
                      Empfangsprozedere am Bahnhof von Beidaihe übertrifft das 
                      Abfahrtszeremoniell bei weitem. Auf dem Bahnsteig steht 
                      ein Buskonvoi, der uns ins „Sanatorium“ bringen wird. Für 
                      unsere Sicherheit ist ausgiebig gesorgt: Eine Eskorte aus 
                      einem Polizeiauto mit Blaulicht und zwei schwarzen Limousinen 
                      mit verdunkelten Scheiben fährt voran, und alle paar 
                      hundert Meter steht ein Polizist mitten in der Straße, 
                      der uns mit weißen Handschuhen durchwinkt und sicherstellt, 
                      dass wir nicht vom richtigen Weg abkommen. Hohen Funktionären 
                      gleich brausen wir mit eingebauter Vorfahrt in den Urlaub, 
                      an den ausgedehnten Villengärten der Parteispitze vorbei. 
                      Diskret zwischen den Bäumen postiert, halten strammstehende 
                      Männer in grüner Uniform Ausschau. Sie bewachen leere 
                      Gebäude, da die Führung dieses Jahr entgegen den Gepflogenheiten 
                      den Sommer in der feuchtheißen Hauptstadt verbringt.
                    Am 
                      Fenster huscht viel Grün vorbei: Kiefern, Rasen, Kiefern, 
                      Rasen. Das erfreuliche Ortsbild verbreitet Urlaubsatmosphäre 
                      und macht dem Kur- und Badeort alle Ehre. Sanatorien und 
                      Urlaubseinrichtungen säumen die Straße: Sanatorium 
                      der Provinz Heilongjiang, Ferienanlage der Volksbefreiungsarmee, 
                      Sanatorium der Arbeiterschaft der Stadt Tianjin. Beidaihe 
                      wurde 1897 vom Qing-Kaiser zum Urlaubsort erklärt und 
                      für Ausländer freigegeben. Bis 1949 entstanden hier 
                      über 700 Privatvillen, in die sich die vornehme Gesellschaft 
                      aus Beijing und Tianjin vor der Sommerhitze flüchtete. Später, 
                      nach der Gründung der Volksrepublik, wurde Beidaihe zum 
                      Kurort für Arbeiter und Angestellte, die besondere Verdienste 
                      erworben hatten. Heute kommt zum Baden her, wer es sich 
                      leisten kann.
                    Bald 
                      erreicht unser Konvoi das Einfahrtstor zum Friendship Hotel 
                      Beidaihe, einem Ableger des Mutterhauses in Beijing. Am 
                      Hoteleingang ist die gesamte Belegschaft zu unserer Begrüßung 
                      abgeordnet worden – sie tut dies händeklatschend. Die 
                      weitläufige, baumbestandene Anlage verbreitet Gemütlichkeit 
                      und lädt zur Entspannung ein. Wind streicht über das 
                      Gelände, es riecht nach Kiefernharz und erinnert ein 
                      wenig ans Mittelmeer. Herrlich. Und das Klima ist deutlich 
                      angenehmer als im Dampfkessel von Beijing. 
                    Dann 
                      endlich, nach einem wahrlich nicht berauschenden Mittagessen, 
                      heißt es hinunter zum Strand. Alles ist da, was zu 
                      einem Urlaub am Meer gehört: Sand, Sonne, Sonnenschirme, 
                      Liegestühle. Nur das Wasser ist leider etwas trüb. Bojen 
                      markieren den Badebereich, und fast schwarz gebrannte Rettungsschwimmer 
                      rudern in ihren Boten auf und ab. Die kleine Bucht vor dem 
                      Hotelgelände ist ziemlich dicht bevölkert, doch 
                      uns steht ein eigens abgetrennter Strandabschnitt zur Verfügung 
                      – „For Foreign Experts Only“. Die zahlreichen russischen 
                      Touristen gehen hier auch als Foreign Experts durch, und 
                      so liegen und baden Ausländer und Chinesen mehrheitlich 
                      getrennt. Man weiß nicht, ob man für die Sonderbehandlung 
                      dankbar sein oder Peinlichkeit empfinden soll. 
                    Am 
                      Abend die nüchterne Erkenntnis: Weder Schwimmen noch Ignorieren 
                      brachte die Kreuzschmerzen zum Verschwinden. So entschließe 
                      ich mich für eine Massage im Hotel. Für stolze 80 Yuan verspricht 
                      eine robuste, bleich geschminkte Mittvierzigerin im weißen 
                      Kittel, aber mit hohen Stöckelschuhen, Linderung. Ich 
                      vertraue darauf, dass sie sich ausschließlich meinem 
                      Rücken zuwenden wird, ihr Lokal sieht jedenfalls seriös 
                      aus. Spätestens als sie ihren Daumen mit aller Kraft 
                      in meine Kniekehle stemmt – da liege ein Akupressurpunkt, 
                      erklärt sie – verschwinden meine Bedenken. 
                    Dienstag
                    8:30 
                      a.m.: Go sightseeing at Shanhaiguan Gate and Laolongtou
                    Nach 
                      dem Frühstück setzt sich unser Konvoi wieder in Bewegung 
                      und bringt uns zum „Ersten Pass auf Erden“, dem Beginn der 
                      Großen Mauer in Shanhaiguan. Die Ampeln stehen für 
                      uns auf Grün, während sich an jeder Kreuzung Dutzende 
                      Fahrzeuge stauen, die uns den Weg freigeben müssen. Am Straßenrand 
                      recken die Leute die Köpfe. Man könnte meinen, 
                      wir seien auf einer wichtigen Mission unterwegs, dabei machen 
                      wir nichts anderes als einen Ausflug. So spektakulär 
                      die Ankündigung klingt, den Anfang des größten 
                      Bauwerks der Erde zu besichtigen, so unscheinbar ist das, 
                      was wir vorfinden. Der Großteil der Anlagen wurde 
                      Mitte der 80er Jahre wieder aufgebaut und ist dementsprechend 
                      neu. Enttäuscht rauschen wir mit Blaulicht wieder nach 
                      Hause.
                    Die 
                      Massage vom Vorabend brachte nicht die erhoffte Linderung. 
                      So entschließe ich mich, den Programmpunkt „Go to 
                      Beach after Lunch“ durch die Suche nach professioneller 
                      Behandlung zu ersetzen, und mache mich hoffnungsvoll zum 
                      „Hebei Province Qigong Rehabilitation Hospital“ auf. Es 
                      trifft sich zwar besonders schlecht, dass meine Kreuzschmerzen 
                      ausgerechnet im Urlaub auftauchen, aber welcher Ort könnte 
                      für eine rasche Heilung geeigneter sein als der Kurort Beidaihe? 
                      Doch am Patientenempfang ist man überrascht über meine Anwesenheit, 
                      das Haus macht einen verschlafenen Eindruck. Kurgäste 
                      oder Patienten sind nicht auszumachen. Man schickt mich 
                      zum Abteilungsleiter, einem stämmigen Mittvierziger 
                      mit Fünftagebart in Freizeithose und rosarotem Polohemd, 
                      aber auch er scheint nicht mit Arbeit gerechnet zu haben. 
                      Nach leichtem Zögern führt er mich für ein Diagnosegespräch 
                      ins Nebenzimmer, danach füllt er einen kleinen Zettel aus, 
                      mit dem ich meine Behandlungskosten von 40 Yuan plus Medikamente 
                      an der Spitalkasse begleichen darf. Die Spitalapotheke liegt 
                      gleich daneben und gibt mir ein Fläschchen Massagesalbe 
                      aus.
                    Ich 
                      lege mich auf die muffige Pritsche im Massagezimmer. Die 
                      Klimaanlage tropft unentwegt und hat schon einen großen 
                      Fleck an der neu geweißten Wand hinterlassen – eine 
                      Folge der hohen Feuchtigkeit, die hier am Meer herrscht. 
                      Der Abteilungsleiter legt Hand an. Die Salbe brennt höllisch. 
                      Wer weiß, wieviel Qigong er über seine Hände 
                      auf meinen Rücken einwirken lässt. Dann knackst er 
                      meine Rückenwirbel, doch auf der Seite, wo es knacksen sollte, 
                      ist nichts zu hören. Zum Schluss bietet er mir noch 
                      an, mich zu schröpfen: Dies werde den kalten Wind aus 
                      meinem Rücken saugen, der wahrscheinlich für mein Leiden 
                      verantwortlich sei. Ich sehe keinen Grund abzulehnen: Nützt 
                      es nichts, so schadet’s nichts. Das Schröpfen, völlig 
                      schmerzlos, hinterlässt vier kreisrunde, schwarzviolette 
                      Blutergüsse. Bevor ich gehe, rät er mir zu einem mehrtägigen 
                      Behandlungsprogramm und steckt mir seine Visitenkarte zu. 
                      Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er als Arzt oder als Geschäftsmann 
                      spricht, und verschiebe die Entscheidung auf den nächsten 
                      Tag. 
                    „Go 
                      to Beach after Lunch“ lasse ich mir aber nicht nehmen und 
                      geselle mich am späten Nachmittag zu meinen Kolleginnen 
                      und Kollegen auf unserem Separatstrand. Für einen Wochentag 
                      ist der Strand ganz schön voll. Am Wochenende muss 
                      hier die Hölle los sein. 
                    Die 
                      Trinkfreudigeren unter den Experten haben bald das „Russohotel“ 
                      entdeckt, ein kleines Häuschen mit Terasse auf dem 
                      Gelände des Friendship Hotel, das russische Küche und 
                      Getränke bietet. Für jemanden wie mich, der noch nie 
                      in Russland war, sieht es sehr russisch aus. Es ist eine 
                      der wenigen Inseln im Land, wo Russisch noch die erste Fremdsprache 
                      ist – früher wegen der sowjetischen Experten, heute wegen 
                      der russischen Touristen. 
                    Am 
                      nächsten Tag muss ich meine Hoffnungen auf rasche Abhilfe 
                      für meinen Hexenschuss begraben. Mein Kreuz will einfach 
                      nicht besser werden. Also abermals ins Spital anstatt direkt 
                      an den Strand. Das Wetter hat sowieso umgeschlagen, es ist 
                      bedeckt und kühler. Mein Arzt – Dr. Xiao ist sein Name – 
                      hat sich diesmal in einen weißen Kittel geworfen und 
                      macht so einen professionelleren Eindruck als am Vortag. 
                      Er hatte aufgehorcht, als ich ihm erzählte, dass ich 
                      im Medienbereich tätig bin. Doch seine gestiegene Glaubwürdigkeit 
                      kostet mich an der Spitalkasse fünf Yuan Anmeldegebühr statt 
                      einen am Tag davor. Während er mich massiert, liefert 
                      er einen Abriss über die Geschichte des Spitals. Es wurde 
                      Ende der fünfziger Jahre als erstes staatliches Krankenhaus 
                      gegründet, das Qigong zur Krankheitsbehandlung einsetzt. 
                      In den Gründungsjahren der Volksrepublik wurde Qigong, eine 
                      traditionelle Stärkungs- und Selbstheilungsmethode, 
                      die vielfältige Atmungs- und Bewegungsübungen und Entspannungsmethoden 
                      beinhaltet, als fester Bestandteil der Gesundheitspolitik 
                      unter Mao von offizieller Seite gefördert und in medizinische 
                      Forschungseinrichtungen integriert. Die Salbe brennt wieder. 
                      In der Kulturrevolution (1966–1976) jedoch wurde es als 
                      Aberglaube gebrandmarkt und verboten. Dr. Xiao drückt mir 
                      seinen Daumennagel in die linke Kniekehle, dass ich am liebsten 
                      laut aufjaulen würde. Erst nach der Einführung der Reform- 
                      und Öffnungspolitik im Jahr 1978 erhielten traditionelle 
                      Heilpraktiken wieder Aufwind. Dennoch gebe es im ganzen 
                      Land nur sehr wenige Institutionen wie sein Krankenhaus, 
                      betont Dr. Xiao. „Wir haben immer auf Rückendeckung von 
                      den obersten Provinzbehörden von Hebei zählen 
                      können.“ Sagt es und reißt an meinen Kreuzwirbeln. 
                      Diesmal knackst es an der richtigen Stelle. 
                    Nach 
                      der Behandlung führt er mich durch das Gelände und 
                      fordert mich unverhohlen auf, etwas Werbung zu machen für 
                      die Qigong- und Taijiquan- (Schattenbox-) Kurse, die sie 
                      im Sommer anbieten. Regelmäßig kämen Gruppen 
                      aus dem Ausland für mehrwöchige Unterrichtsaufenthalte 
                      her. Wir treffen den Leiter des Kurszentrums, der jedoch 
                      von der plötzlichen Notwendigkeit, ein PR-Programm 
                      abzuspulen, etwas überrumpelt scheint. Die beiden Männer 
                      tauschen fragende Blicke aus, dann zeigt man mir ein Doppelzimmer 
                      im Erdgeschoss: hell, neu eingerichtet, mit Fliesenboden, 
                      das sei bei dem Klima hygienischer als ein Teppich. Erneut 
                      ein kurzer Moment der Ratlosigkeit, dann ein Doppelzimmer 
                      im ersten Stock – das gleiche Bild. Und ein kleineres Zimmer, 
                      „falls jemand alleine kommt“. Die Unterrichtsräume 
                      sehen gut eingerichtet aus, und im hinteren Teil des Gebäudes 
                      wird noch umgebaut. Ich kann mir gut vorstellen, wie idyllisch 
                      es ist, frühmorgens unter den Kiefern vor dem Haus Taijiquan 
                      zu üben. Als eines der ältesten Sanatorien in Beidaihe 
                      verfügt das Qigong-Rehabilitationszentrum über ein ansehnliches 
                      Grundstück, das „zu 70% mit Grün bedeckt ist“, wie die Broschüre 
                      informiert, die man mir stapelweise in die Hand gedrückt 
                      hat. So genau kann ich das nicht abschätzen, aber es 
                      sind viele Bäume zu sehen.
                    Ich 
                      bedanke mich bei den beiden Ärzten und beschließe, 
                      den Programmpunkt „Go to Beach after Lunch“ an den Sanatoriumsstrand 
                      zu verlegen. Und siehe da: weniger Leute, mehr Strand. Er 
                      erstreckt sich weit nach Westen bis zu den Villen der Parteiführung. 
                      Wäre ich nur früher hergekommen.