September 2003
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Tourismus

Tourismus in China

Die Hunan-Küche

„Go to Beach after Lunch“

„Go to Beach after Lunch“

Von Olivier Roos

Montag

6:45 a.m.: Leave Friendship Hotel for Beijing Railway Station

Beim Aufstehen zu ungewohnt früher Stunde ein Zwicken im Kreuz: War die Klimaanlage zu kühl eingestellt, oder ist doch die Matratze Schuld? Ausgerechnet jetzt bahnt sich ein Hexenschuss an. Dabei stehen doch, wie jedes Jahr Ende Juli, für die „Foreign Experts“ im Dienste der chinesischen Regierung wie mich einige Urlaubstage am Meer an. Und ich würde den täglichen Programmpunkt „Go to Beach after Lunch“ wirklich lieber nicht mit einem steifen Rücken und schmerzverzerrtem Gesicht absolvieren. Um 6.52 stehen meine Frau und ich am Abfahrtsort – und sind die einzigen. Ein leerer Kleinbus wartet auf uns. Sind die anderen so pünktlich abgefahren, oder fährt etwa niemand außer uns? Ist der Expertenurlaub in Beidaihe vielleicht doch nicht so toll, wie uns Freunde vorgeschwärmt hatten? Der Beifahrer tut sein Bestes, um unsere Zweifel zu bestärken. „Jedes Jahr immer wieder Beidaihe. Schlechtes Hotel, schlechtes Essen, und den Strand kann man auch vergessen. Letztes Jahr musste ich gar drei Mal mitfahren. Das war vielleicht nervig!“, beklagt er sich beim Fahrer. Im Bahnhof angekommen, wird uns erst bewusst, welche Behandlung uns in den nächsten Tagen erwartet. Durch ein Seitentor fährt unser Bus direkt auf den Bahnsteig Nr. 1, wo der Schnellzug nach Qinhuangdao – ohne Halt bis Beidaihe – wartet. Und all das nur, weil wir um den Hals einen „Foreign Expert Recreation Pass“ hängen haben.

7:52 a.m.: Leave Beijing by Train No. Y 509

Wir fahren beileibe nicht allein nach Beidaihe. Ein ganzer Wagen ist für die „Foreign Experts“ und Familienanhang reserviert. Es ist nicht leicht, auf den unförmigen Bänken mit den senkrechten Rückenlehnen eine angenehme Schlafstellung zu finden, doch die Müdigkeit siegt. Danach – danach rufen sich die Kreuzschmerzen in Erinnerung.

10:48 a.m.: Arrive at Beidaihe and check in at Foreign Experts Sanatorium

Das Empfangsprozedere am Bahnhof von Beidaihe übertrifft das Abfahrtszeremoniell bei weitem. Auf dem Bahnsteig steht ein Buskonvoi, der uns ins „Sanatorium“ bringen wird. Für unsere Sicherheit ist ausgiebig gesorgt: Eine Eskorte aus einem Polizeiauto mit Blaulicht und zwei schwarzen Limousinen mit verdunkelten Scheiben fährt voran, und alle paar hundert Meter steht ein Polizist mitten in der Straße, der uns mit weißen Handschuhen durchwinkt und sicherstellt, dass wir nicht vom richtigen Weg abkommen. Hohen Funktionären gleich brausen wir mit eingebauter Vorfahrt in den Urlaub, an den ausgedehnten Villengärten der Parteispitze vorbei. Diskret zwischen den Bäumen postiert, halten strammstehende Männer in grüner Uniform Ausschau. Sie bewachen leere Gebäude, da die Führung dieses Jahr entgegen den Gepflogenheiten den Sommer in der feuchtheißen Hauptstadt verbringt.

Am Fenster huscht viel Grün vorbei: Kiefern, Rasen, Kiefern, Rasen. Das erfreuliche Ortsbild verbreitet Urlaubsatmosphäre und macht dem Kur- und Badeort alle Ehre. Sanatorien und Urlaubseinrichtungen säumen die Straße: Sanatorium der Provinz Heilongjiang, Ferienanlage der Volksbefreiungsarmee, Sanatorium der Arbeiterschaft der Stadt Tianjin. Beidaihe wurde 1897 vom Qing-Kaiser zum Urlaubsort erklärt und für Ausländer freigegeben. Bis 1949 entstanden hier über 700 Privatvillen, in die sich die vornehme Gesellschaft aus Beijing und Tianjin vor der Sommerhitze flüchtete. Später, nach der Gründung der Volksrepublik, wurde Beidaihe zum Kurort für Arbeiter und Angestellte, die besondere Verdienste erworben hatten. Heute kommt zum Baden her, wer es sich leisten kann.

Bald erreicht unser Konvoi das Einfahrtstor zum Friendship Hotel Beidaihe, einem Ableger des Mutterhauses in Beijing. Am Hoteleingang ist die gesamte Belegschaft zu unserer Begrüßung abgeordnet worden – sie tut dies händeklatschend. Die weitläufige, baumbestandene Anlage verbreitet Gemütlichkeit und lädt zur Entspannung ein. Wind streicht über das Gelände, es riecht nach Kiefernharz und erinnert ein wenig ans Mittelmeer. Herrlich. Und das Klima ist deutlich angenehmer als im Dampfkessel von Beijing.

Dann endlich, nach einem wahrlich nicht berauschenden Mittagessen, heißt es hinunter zum Strand. Alles ist da, was zu einem Urlaub am Meer gehört: Sand, Sonne, Sonnenschirme, Liegestühle. Nur das Wasser ist leider etwas trüb. Bojen markieren den Badebereich, und fast schwarz gebrannte Rettungsschwimmer rudern in ihren Boten auf und ab. Die kleine Bucht vor dem Hotelgelände ist ziemlich dicht bevölkert, doch uns steht ein eigens abgetrennter Strandabschnitt zur Verfügung – „For Foreign Experts Only“. Die zahlreichen russischen Touristen gehen hier auch als Foreign Experts durch, und so liegen und baden Ausländer und Chinesen mehrheitlich getrennt. Man weiß nicht, ob man für die Sonderbehandlung dankbar sein oder Peinlichkeit empfinden soll.

Am Abend die nüchterne Erkenntnis: Weder Schwimmen noch Ignorieren brachte die Kreuzschmerzen zum Verschwinden. So entschließe ich mich für eine Massage im Hotel. Für stolze 80 Yuan verspricht eine robuste, bleich geschminkte Mittvierzigerin im weißen Kittel, aber mit hohen Stöckelschuhen, Linderung. Ich vertraue darauf, dass sie sich ausschließlich meinem Rücken zuwenden wird, ihr Lokal sieht jedenfalls seriös aus. Spätestens als sie ihren Daumen mit aller Kraft in meine Kniekehle stemmt – da liege ein Akupressurpunkt, erklärt sie – verschwinden meine Bedenken.

Dienstag

8:30 a.m.: Go sightseeing at Shanhaiguan Gate and Laolongtou

Nach dem Frühstück setzt sich unser Konvoi wieder in Bewegung und bringt uns zum „Ersten Pass auf Erden“, dem Beginn der Großen Mauer in Shanhaiguan. Die Ampeln stehen für uns auf Grün, während sich an jeder Kreuzung Dutzende Fahrzeuge stauen, die uns den Weg freigeben müssen. Am Straßenrand recken die Leute die Köpfe. Man könnte meinen, wir seien auf einer wichtigen Mission unterwegs, dabei machen wir nichts anderes als einen Ausflug. So spektakulär die Ankündigung klingt, den Anfang des größten Bauwerks der Erde zu besichtigen, so unscheinbar ist das, was wir vorfinden. Der Großteil der Anlagen wurde Mitte der 80er Jahre wieder aufgebaut und ist dementsprechend neu. Enttäuscht rauschen wir mit Blaulicht wieder nach Hause.

Die Massage vom Vorabend brachte nicht die erhoffte Linderung. So entschließe ich mich, den Programmpunkt „Go to Beach after Lunch“ durch die Suche nach professioneller Behandlung zu ersetzen, und mache mich hoffnungsvoll zum „Hebei Province Qigong Rehabilitation Hospital“ auf. Es trifft sich zwar besonders schlecht, dass meine Kreuzschmerzen ausgerechnet im Urlaub auftauchen, aber welcher Ort könnte für eine rasche Heilung geeigneter sein als der Kurort Beidaihe? Doch am Patientenempfang ist man überrascht über meine Anwesenheit, das Haus macht einen verschlafenen Eindruck. Kurgäste oder Patienten sind nicht auszumachen. Man schickt mich zum Abteilungsleiter, einem stämmigen Mittvierziger mit Fünftagebart in Freizeithose und rosarotem Polohemd, aber auch er scheint nicht mit Arbeit gerechnet zu haben. Nach leichtem Zögern führt er mich für ein Diagnosegespräch ins Nebenzimmer, danach füllt er einen kleinen Zettel aus, mit dem ich meine Behandlungskosten von 40 Yuan plus Medikamente an der Spitalkasse begleichen darf. Die Spitalapotheke liegt gleich daneben und gibt mir ein Fläschchen Massagesalbe aus.

Ich lege mich auf die muffige Pritsche im Massagezimmer. Die Klimaanlage tropft unentwegt und hat schon einen großen Fleck an der neu geweißten Wand hinterlassen – eine Folge der hohen Feuchtigkeit, die hier am Meer herrscht. Der Abteilungsleiter legt Hand an. Die Salbe brennt höllisch. Wer weiß, wieviel Qigong er über seine Hände auf meinen Rücken einwirken lässt. Dann knackst er meine Rückenwirbel, doch auf der Seite, wo es knacksen sollte, ist nichts zu hören. Zum Schluss bietet er mir noch an, mich zu schröpfen: Dies werde den kalten Wind aus meinem Rücken saugen, der wahrscheinlich für mein Leiden verantwortlich sei. Ich sehe keinen Grund abzulehnen: Nützt es nichts, so schadet’s nichts. Das Schröpfen, völlig schmerzlos, hinterlässt vier kreisrunde, schwarzviolette Blutergüsse. Bevor ich gehe, rät er mir zu einem mehrtägigen Behandlungsprogramm und steckt mir seine Visitenkarte zu. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er als Arzt oder als Geschäftsmann spricht, und verschiebe die Entscheidung auf den nächsten Tag.

„Go to Beach after Lunch“ lasse ich mir aber nicht nehmen und geselle mich am späten Nachmittag zu meinen Kolleginnen und Kollegen auf unserem Separatstrand. Für einen Wochentag ist der Strand ganz schön voll. Am Wochenende muss hier die Hölle los sein.

Die Trinkfreudigeren unter den Experten haben bald das „Russohotel“ entdeckt, ein kleines Häuschen mit Terasse auf dem Gelände des Friendship Hotel, das russische Küche und Getränke bietet. Für jemanden wie mich, der noch nie in Russland war, sieht es sehr russisch aus. Es ist eine der wenigen Inseln im Land, wo Russisch noch die erste Fremdsprache ist – früher wegen der sowjetischen Experten, heute wegen der russischen Touristen.

Am nächsten Tag muss ich meine Hoffnungen auf rasche Abhilfe für meinen Hexenschuss begraben. Mein Kreuz will einfach nicht besser werden. Also abermals ins Spital anstatt direkt an den Strand. Das Wetter hat sowieso umgeschlagen, es ist bedeckt und kühler. Mein Arzt – Dr. Xiao ist sein Name – hat sich diesmal in einen weißen Kittel geworfen und macht so einen professionelleren Eindruck als am Vortag. Er hatte aufgehorcht, als ich ihm erzählte, dass ich im Medienbereich tätig bin. Doch seine gestiegene Glaubwürdigkeit kostet mich an der Spitalkasse fünf Yuan Anmeldegebühr statt einen am Tag davor. Während er mich massiert, liefert er einen Abriss über die Geschichte des Spitals. Es wurde Ende der fünfziger Jahre als erstes staatliches Krankenhaus gegründet, das Qigong zur Krankheitsbehandlung einsetzt. In den Gründungsjahren der Volksrepublik wurde Qigong, eine traditionelle Stärkungs- und Selbstheilungsmethode, die vielfältige Atmungs- und Bewegungsübungen und Entspannungsmethoden beinhaltet, als fester Bestandteil der Gesundheitspolitik unter Mao von offizieller Seite gefördert und in medizinische Forschungseinrichtungen integriert. Die Salbe brennt wieder. In der Kulturrevolution (1966–1976) jedoch wurde es als Aberglaube gebrandmarkt und verboten. Dr. Xiao drückt mir seinen Daumennagel in die linke Kniekehle, dass ich am liebsten laut aufjaulen würde. Erst nach der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978 erhielten traditionelle Heilpraktiken wieder Aufwind. Dennoch gebe es im ganzen Land nur sehr wenige Institutionen wie sein Krankenhaus, betont Dr. Xiao. „Wir haben immer auf Rückendeckung von den obersten Provinzbehörden von Hebei zählen können.“ Sagt es und reißt an meinen Kreuzwirbeln. Diesmal knackst es an der richtigen Stelle.

Nach der Behandlung führt er mich durch das Gelände und fordert mich unverhohlen auf, etwas Werbung zu machen für die Qigong- und Taijiquan- (Schattenbox-) Kurse, die sie im Sommer anbieten. Regelmäßig kämen Gruppen aus dem Ausland für mehrwöchige Unterrichtsaufenthalte her. Wir treffen den Leiter des Kurszentrums, der jedoch von der plötzlichen Notwendigkeit, ein PR-Programm abzuspulen, etwas überrumpelt scheint. Die beiden Männer tauschen fragende Blicke aus, dann zeigt man mir ein Doppelzimmer im Erdgeschoss: hell, neu eingerichtet, mit Fliesenboden, das sei bei dem Klima hygienischer als ein Teppich. Erneut ein kurzer Moment der Ratlosigkeit, dann ein Doppelzimmer im ersten Stock – das gleiche Bild. Und ein kleineres Zimmer, „falls jemand alleine kommt“. Die Unterrichtsräume sehen gut eingerichtet aus, und im hinteren Teil des Gebäudes wird noch umgebaut. Ich kann mir gut vorstellen, wie idyllisch es ist, frühmorgens unter den Kiefern vor dem Haus Taijiquan zu üben. Als eines der ältesten Sanatorien in Beidaihe verfügt das Qigong-Rehabilitationszentrum über ein ansehnliches Grundstück, das „zu 70% mit Grün bedeckt ist“, wie die Broschüre informiert, die man mir stapelweise in die Hand gedrückt hat. So genau kann ich das nicht abschätzen, aber es sind viele Bäume zu sehen.

Ich bedanke mich bei den beiden Ärzten und beschließe, den Programmpunkt „Go to Beach after Lunch“ an den Sanatoriumsstrand zu verlegen. Und siehe da: weniger Leute, mehr Strand. Er erstreckt sich weit nach Westen bis zu den Villen der Parteiführung. Wäre ich nur früher hergekommen.

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