Hangzhou
setzt weiter
auf
sein bewährtes Zugpferd
Tourismus
treibt die Wirtschaft an
Von Atze Schmidt
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Am
Westsee in Hangzhou und auf dem Fluss Fuchun (rechts
unten)
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Eine der ersten internationalen Messen,
die je in China veranstaltet wurden, fand 1929 in der Hauptstadt
Hangzhou der Ostküstenprovinz Zhejiang statt. Die 100 Kilometer
südlich von Shanghai und am Ende des Großen Kanals gelegene
Metropole profitierte da schon lange von den Lobeshymnen,
die Poeten vieler Dynastien auf sie gesungen hatten. Als „Paradies
auf Erden“ hatten sie Hangzhou gerühmt, als „Perle des Ostens“
seinen Westsee in Gedichten schwärmerisch beschrieben.
„36 Westseen gibt es unter dem Himmel, aber der in Hangzhou
ist der schönste“, fand einer der Dichter. Und dann kam
auch noch Marco Polo, der Hangzhou als die bezauberndste Stadt
der Welt bezeichnet haben soll, was von den heutigen Stadtoberen
gern und bei jeder Gelegenheit erwähnt wird. Dass sich
auch die Beijinger auf den Venezianer berufen, der ihrer Stadt
(damals Dadu geheißen) angeblich das nämliche Kompliment
gemacht hatte, und dass von dem mittelalterlichen Hangzhou
so gut wie nichts mehr übrig ist, spielt keine Rolle. Am Westsee
in Hangzhou steht nun jedenfalls eine neu errichtete Statue
von Marco Polo, um die sich täglich Menschen scharen,
denen städtische Touristenführer von dem Reisenden aus
dem fernen Westen erzählen und wie schön er Hangzhou
gefunden habe. (Marco Polo starb vor 680 Jahren).
Der ersten Internationalen Hangzhouer Messe
folgte lange keine zweite. 71 Jahre vergingen bis zur 1. „Westsee-Expo“
im Jahr 2000. Jetzt ist dieses Ereignis eine jährliche
Einrichtung, die jeweils im Oktober stattfindet und bis zu
drei Wochen dauert. Ihr Ziel ist es, neben dem Anknüpfen von
Kontakten zu potentiellen Geschäftspartnern aus anderen
Teilen Chinas und dem Ausland vor allem dem Tourismus weiteren
Auftrieb zu geben. „Die Tourismus-Industrie soll für die Entwicklung
der Wirtschaft der ganzen Region als Lokomotive dienen“, betont
die Stadtregierung.
Wieviel Tourismus verträgt das Paradies?
Wer heute nach Hangzhou reist, wird sich
angesichts der Menschenmassen rund um den Westsee allerdings
die Frage stellen, wieviel Tourismus das Paradies eigentlich
verträgt. Laut amtlicher Statistik besuchten die Stadt
im Jahr 2002 nicht weniger als 27,6 Millionen Reisende. Bei
einer Einwohnerzahl von 3,87 Millionen waren das sieben Touristen
auf einen Hangzhouer. Die Rechnung der Stadtregierung ist
bisher glänzend aufgegangen: Mit einem Anteil von 16,5
Prozent (ca. 30 Milliarden Yuan) am Bruttosozialprodukt der
Stadt ist der Tourismussektor schon jetzt der führende Wirtschaftszweig
der Hangzhouer Ökonomie. Die Kehrseite der Medaille:
Das „Paradies auf Erden“ ist ein touristischer Rummelplatz
geworden.
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Das größte Schloss der Welt auf der „Schloss-Insel“ |
Nun hat die Stadtregierung von Hangzhou
ein ernstes Problem: Einerseits will sie verstärkt ausländische
Touristen anlocken (1,05 Millionen kamen im Jahr 2002), denn
die lassen gewöhnlich mehr Geld in den Kassen als reisende
Chinesen; andererseits werden die Verantwortlichen zunehmend
mit Klagen konfrontiert, dass die Ausländer sich das
„Paradies“ doch anders vorgestellt hatten: idyllischer, eben
etwas paradiesischer. Während chinesische Touristen sich
nach der Einschätzung von Sozialwissenschaftlern inmitten
von Menschenmassen und den Fähnchen von Reiseleitern
hinterherlaufend in der Regel durchaus wohl fühlen, scheint
den meisten Westlern diese Art von Zusammengehörigkeitsgefühl
abzugehen. Und je mehr Chinesen über ausreichende Geldmittel
und Freizeit verfügen, desto größer wird nun das
Problem mit den Ausländern. Doch die Stadtregierung von
Hangzhou glaubt einen Ausweg aus diesem Dilemma zu wissen.
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Über eine Hängebrücke geht
es auf dem See der Tausend Inseln von einem Eiland zum
nächsten |
Ein Drei-Stufen-Plan wurde entwickelt. Bis
zum Jahr 2005 will Hangzhou durch den Ausbau seiner touristischen
Infrastruktur in der Rangliste der berühmten Reiseziele Chinas
noch höher aufsteigen. Dass die Stadt und ihr Westsee
dadurch noch mehr überlaufen werden, müsse man zunächst
in Kauf nehmen, heißt es, denn schließlich müsse
die Stadt das nötige Geld einnehmen, um den entscheidenden
zweiten Schritt des großangelegten Plans verwirklichen
zu können: Bis zum Jahr 2010 will Hangzhou seine ländlichen
Gebiete touristisch erschließen. Dann, so die Überlegung,
entzerrt sich das Ganze. Während ein Teil der Touristen
sich in der Stadt und am Westsee vergnügt, schwärmt der
andere Teil zu den bis dahin zugänglich gemachten „Scenicspots“
in die Umgebung aus. Schritt drei des Plans hat dann zum Ziel,
Hangzhou bis zum Jahr 2015 endgültig als internationales Reiseziel
zu etablieren.
Gewaltige
Buddelei vor tausend Jahren
Anlässlich der 5. Westsee-Expo hatte
Hangzhou einen großen Werbefeldzug gestartet und auch
eine Gruppe ausländischer Journalisten eingeladen. Man
präsentierte den Gästen die jüngsten Errungenschaften,
darunter das soeben fertiggestellte und aufwendigste Projekt,
nämlich die Erweiterung des Westsees um fast einen Quadratkilometer
und die Ausstattung des hinzugewonnenen Areals und seiner
Ufer mit zahlreichen Bogenbrücken, Pavillons, Parks und Spazierwegen.
Nun ist der See wieder so groß wie schon mal vor 300
Jahren, als er erstmals in seiner Geschichte die Ausdehnung
von gut sechs Quadratkilometern erreicht hatte.
Was viele Hangzhou-Besucher nämlich
nicht wissen: Der Westsee ist keineswegs ein Geschenk der
Natur, sondern ein künstlich angelegtes Gewässer. Ursprünglich
war hier nur eine seichte Bucht am Fluss Qiantang. Dann ließen,
gut tausend Jahre sind seither vergangen, damalige Herrscher
in der auf drei Seiten von quellenreichen Bergen umstandenen
Bucht eine gewaltige Buddelei vornehmen. Das ausgehobene Erdreich
wurde für den Bau zweier Dämme verwendet, die das Gewässer
in drei Sektoren unterteilen. So entstand der Westsee, der
Stolz der Stadt.
Kein See in China und wahrscheinlich kein
See der Welt wurde in Gedichten so häufig gepriesen,
hochgelobt als „Juwel“, als Inbegriff landschaftlicher Reize,
die eine innige Verbindung mit Werken menschlichen Schöpfergeistes
eingegangen sind. Doch Besucher von Hangzhou sollten, wenn
sie in der Welt etwas herumgekommen sind, nicht allzuviel
erwarten. Die Dichter Su Dongpo und Bai Juyi aus der Song
bzw. der Tang-Dynastie beispielsweise, nach denen die beiden
Dämme des Westsees benannt sind, hatten keine Möglichkeit
des Vergleichs mit dem, wie es anderswo in der Welt aussieht,
und so stellte sich für sie, wie für alle die anderen Poeten,
Hangzhou mit seinem Westsee eben als ein „Paradies auf Erden“
dar. Die Autoren des China-Reiseführers der Buchreihe „Lonely
Planet“ bringen es auf den Punkt: „Es ist ganz nett hier,
doch wer eine lange Reise unternimmt, nur um den berühmten
Westsee zu sehen, wird möglicherweise enttäuscht.“
Wie der Aberglaube
eine Pagode zum Einsturz brachte
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Die neu errichtete Leifeng-Pagode |
Hangzhou scheut keine Kosten, um Touristen
das bieten zu können, wovon man glaubt, es sei das Beste.
Zwei Beispiele gelungener Neuerungen sind das Tee-Museum und
das Seiden-Museum. Beide wurden in jüngster Zeit völlig
umgestaltet und sind jetzt überaus geschmackvoll eingerichtet.
Lohnenswert ist auf jeden Fall auch ein Abstecher in die Stadt
Fuyang südwestlich von Hangzhou, die der Verwaltung der Provinzhauptstadt
untersteht, und hier sollte man sich Zeit nehmen für einen
Besuch des Dorfs der Papiermacher und Drucker. Eine bessere
Präsentation der frühen Methoden der Papierherstellung
und der alten Drucktechniken dürfte in ganz China nicht zu
finden sein. Sehr zu empfehlen! Und man ist eingeladen, selbst
mitzumachen beim handwerklichen Tun nach mittelalterlichen
Methoden.
Zurück zum Westsee, an dessen südlichem
Ufer sich die Leifeng-Pagode erhebt. „Sie ist über tausend
Jahre alt, und ihre Renovierung wurde erst vor kurzer Zeit
abgeschlossen“, sagt die Touristen-Begleiterin mit dem Fähnchen
in der Hand, und sprudelt Zahlen bezüglich Alter, Grundfläche,
Höhe und die Kosten für die „Renovierung“ der Pagode
heraus. In Wirklichkeit stehen wir vor einem Neubau aus Beton
und Stahl. Von der einstigen Pagode sind heute im Inneren
des neuen Turms nur noch einige Reste des alten Fundaments
hinter Glas zu besichtigen.
Anno 977 als eine Konstruktion aus Holz
und Steinen erbaut, hatte diese buddhistische Pagode mit ihrem
achteckigen Grundriss fortan den Pagodenbau in China wesentlich
beeinflusst. Sie selbst jedoch fiel schließlich dem
Aberglauben zum Opfer. Denn weil in ihr angeblich ein Haarbüschel
von Shakjamuni aufbewahrt wurde, galt das Bauwerk den Hangzhouern
als heilig, und folglich waren jeder Stein und jedes Stück
Holz aus der Pagode Glücksbringer. So wurde, als der natürliche
Verfall des Bauwerks bereits fortgeschritten war, seine völlige
Zerstörung dadurch beschleunigt, dass die Hangzhouer
Steine und Holzteile aus dem Gemäuer herausbrachen und
mit nach Hause nahmen. Bis 1924 stand die Pagode noch halbwegs,
dann brach sie eines Tages in sich zusammen.
Nun steht an ihrer Stelle auf einer Anhöhe
der neue Bau. Eine Rolltreppe führt zu ihm hinauf, und drinnen
gibt es einen Lift, alles wunderbar bequem. Diese neue Pagode
wird möglicherweise länger überdauern als ihre Vorgängerin,
die es nicht einmal auf tausend Jahre gebracht hat. Marco
Polo müsste sie noch in ihrer ganzen Schönheit gesehen
haben, wenn er denn tatsächlich bis nach Hangzhou gekommen
ist. Es gibt ja Leute, die seine Reiseberichte aus China als
geschickte Produkte seiner Phantasie unter Verwendung bereits
damals kursierender Berichte über das exotische Reich im fernen
Osten bezeichnen und ganze Bücher damit vollgeschrieben haben,
um dies zu beweisen.
Wie geschaffen
für Wassersport und Erholung
Wir fahren von Hangzhou nach Südwesten.
Erst geht es eine Stunde auf einer Schnellstraße zügig
dahin, dann biegen wir nach rechts ab, tauchen in eine bergige
Gegend ein und folgen gewundenen Landstraßen. Kleine
Felder an den Hängen und in engen Tälern, Marktflecken
und Dörfer, das bunte ländliche Leben zieht an uns
vorbei. Wir erreichen Chun’an, der Tacho zeigt 160 Kilometer
ab Hangzhou, wir sind am „See der Tausend Inseln“ (Qiandaohu).
Der Name ist sogar eine kleine Untertreibung,
denn in der Tat hat der See, mit 573 Quadratkilometern größer
als der Bodensee, 1078 Inseln. Doch manchmal sind es auch
weniger, es hängt ganz vom Pegelstand des Sees ab.
Ebenso wie der Hangzhouer Westsee ist der
Qiandaohu ein von Menschenhand geschaffenes Gewässer.
Einst waren die Inseln Kuppen von Hügeln und Bergen. Es war
Ende der 50-er Jahre, als man den Fluss Xin’an aufstaute und
eines der ersten großen Wasserkraftwerke des Landes
baute. Straßen und Dörfer, Felder und Wälder
verschwanden in dem riesigen See. Der weitverzweigte Qiandaohu
mit seinen zahlreichen Armen, Buchten und Inseln schien von
Anfang an wie eigens geschaffen für Urlauber, für Wassersport
und Erhohlung. Doch lange konnte sich hier ungestört
eine neue Flora und Fauna ansiedeln und entwickeln. Fische
vermehrten sich, Wasservögel kamen von weißwoher.
China hatte noch andere Sorgen, als sich um Dinge wie Freizeitgestaltung
und Tourismus kümmern zu können. Das hat sich inzwischen
geändert, und in Hangzhou sind die Planer dabei, nun
auch den See der Tausend Inseln touristisch zu erschließen.
Man kann ihnen dazu nur eine glückliche Hand wünschen, denn
hier kann eine einmalige Chance genutzt oder unwiderruflich
vertan werden. Positive Ansätze sind zu sehen, auch ausländische
Investoren interessieren sich für das Projekt. Es scheint,
als verwirkliche man hier Schritt für Schritt einen gut durchdachten
Plan.
Die Namen einiger der größeren
Inseln verraten bereits, was den Besucher dort erwartet. „Affeninsel“
heisst eines der Eilande, und hier hat man verschiedene Spezies
unserer nächsten Verwandten angesiedelt. Es gibt eine
„Vogelinsel“ mit zahlreichen Arten von Vögeln, eine „Straussen-Insel“,
auf der den großen Laufvögeln ein Freigehege zur
Verfügung steht, und eine „Schlangeninsel“ mit Tausenden von
Nattern, Ottern, Vipern und anderen Arten der Schuppenkriechtiere.
Eine Insel bekam den Namen „Schloss-Insel“. Alles dreht sich
hier um das Schloss, die Verschlussvorrichtung für Türen,
Schränke, Tresore usw. In Stein gehauen und aus Metall
gefertigt sind hier Schlösser und Schlüssel in vielerlei
Formen zu besichtigen bis hin zu riesigen Schloss-Monumenten.
Auch das größte Schloss der Welt, im Guinness-Buch
der Rekorde vermerkt, steht hier. Und wer will, kann sich
auf der Insel mit einem eigenen Schloss mit Inschrift verewigen.
Zehntausende von Besuchern haben es bereits getan, ihre Schlösser
hängen als zentnerschwere Girlanden an eigens dafür aufgestellten
Gerüsten.
Der See der Tausend Inseln, im Ausland noch
reichlich unbekannt, könnte für China-Reisende zu einem
interessanten Ziel werden.
Die archäologische
Sensation
Bald wird Hangzhou auch eine archäologische
Sensation der Öffentlichkeit präsentieren. Unweit
der Provinzhauptstadt hat man auf dem Gelände einer Ziegelei
und noch an einer weiteren Stelle Hinterlassenschaften von
Siedlungen der Jungsteinzeit ausgegraben. Zunächst kamen
zahlreiche Tongefäße ans Tageslicht, darunter so
edel geformte und fein verzierte, dass man sich fragt, wieso
sich der gute Geschmack in der langen Zeit nicht allgemein
durchgesetzt hat, so dass heute so viele unsäglich scheußliche
Dinge produziert werden.
Der Star der Funde aber ist ein Boot. Sein
Alter haben aus dem ganzen Land zusammengerufene Experten
auf 7000 bis 8000 Jahre festgelegt. Damit wäre es das
älteste bisher gefundene Wasserfahrzeug der Welt. Es
wurde aus einem einzigen Baumstamm gefertigt, 5,6 Meter lang
ist das größte erhaltene Teil, und zusammen mit
diversen abgebrochenen Stücken stellt sich ein Boot von etwa
zehn Metern Länge dar.
Noch sind die Funde nicht allgemein zugänglich.
Wir wenigen Journalisten zählten zu den ersten, die sie
nach den Fachleuten zu sehen bekamen, ein Privileg, für das
wir allerdings strenge Gerüche in dieser Halle ertragen mussten.
Denn das Boot liegt nun eingebettet in schützenden Chemikalien.
Jahrtausende lag es metertief im Boden. Demnächst werden
sich fachkundige Hände seiner annehmen und es dauerhaft
präparieren, und dann wird es zusammen mit den anderen
Fundsachen in einem noch zu bauenden Museum zu bestaunen sein.