Eheschließung
und Hochzeitsbräuche (5)
Polygamie und Polyandrie
In Tibet herrscht die Monogamie vor. Aber mancherorts spielen
Polygamie und Polyandrie noch immer eine Rolle.
Die Polygamie und Polyandrie gehen auf die Gemeinschaftsehe zurück,
eine Eheform der frühen Urgesellschaft. Bis 1951 herrschte
in viele Adelsfamilien aus politischen und wirtschaftlichen Gründen
die Polygamie vor, weil dadurch die Einflusssphären der Familie
erweitert werden konnten und ihr wirtschaftlicher Status konsolidiert
werden konnte. Die Ehefrau des Familienoberhauptes stammte gewöhnlich
aus einem anderen Stamm. Auch unter Männern in relativ niederer
sozialer Stellung war die Polygamie verbreitet. Der Ehemann lebte
auch mit der Schwester der Ehefrau zusammen. Zwischen ihnen bestand
faktisch eine Ehegemeinschaft. Die beiden Geschwister nahmen in
der Familie die gleiche Stellung ein. Niemand war gegen dieses
uneheliche Zusammenleben, weil Polygamie allgemein
für normale Form der Ehe gehalten wurde.
Neben der Polygamie war auch die Polyandrie früher keine
Seltenheit. Die Ehefrau lebte zugleich mit ihrem Ehemann und dessen
jüngeren Brüdern oder sogar außerdem noch mit
den Freunden des Ehemannes zusammen. Dies wurde in Tibet allgemein
akzeptiert und niemand hatte daran etwas auszusetzen.
Ein entscheidender Grund dafür, dass sich die uralte Form
der Vielehe bis in die moderne Zeit gehalten hat, liegt darin,
dass bei solchen Ehen vor allem die eigenen wirtschaftlichen Interessen
bestimmend sind. In Qamdo zum Beispiel hat man früher die
Polygamie befürwortet, um die Pabtso-Sippenordnung
aufrechtzuerhalten. Pabtso bedeutet in der tibetischen
Sprache die Macht der Sippe väterlicherseits. Man legte großen
Wert auf möglichst viele Söhne. Dies trug zur Verstärkung
der Macht der jeweiligen Sippe bei und verhütete den Abfluss
des Eigentums. Der Ehemann hoffte, dass seine Ehefrau ihm sehr
viele Söhne gebären wird. Hatte aber jemand mit seiner
Frau keine Söhne, heiratete er eine weitere Frau. Auf diese
Weise konnte man zu mehreren Ehefrauen kommen. In solchen Familien
wurden die Frauen diskriminiert. In den Augen der Männer
waren sie nichts weiter als Gebärmaschinen. Ihre
Stellung in der Familie verbesserte sich erst dann, wenn sie Söhne
bekamen. Ähnlich ging es auch in Familien der Han zu.
Auch die Polyandrie in Tibet hängt mit der wirtschaftlichen
Lage der Familien zusammen. Bis 1951 wurden im alten Tibet Steuern
und Abgaben nach der Zahl der Haushalte erhoben. Wer in Polyandrie
lebte, bezahlte weniger Steuern und verringerte so die finanzielle
Belastung der Familie. Noch heute findet man Spuren der Polyandrie
in manchen Orten Tibets. Man meint, es sei ideal, wenn Brüder
zusammen bleiben und mit einer gemeinsamen Ehefrau leben. So löst
sich der Familienverband nicht auf. Außerdem sei die Ehefrau
sicher tugendhaft, meint man. Im Weidegebiet des Kreises Chagyab
wird der Polyandrie eindeutig der Vorzug vor der Monogamie eingeräumt.
Einehe-Familien sind viel ärmer als Vielehe-Familien,
weil erstere natürlich relativ wenige Arbeitskräfte
besitzen, aber nicht weniger Kinder als Vielehe-Familien
aufziehen müssten, um ein vergleichbares Wirtschaftliches
Niveau zu erreichen. Aus diesem Grund spielt die Polyandrie im
Weidegebiet in Chagyab eine wichtigere Rolle. In diesem Gebiet
leben weniger Menschen monogam.
Polygamie und Polyandrie üben noch immer einen nicht zu
unterschätzenden Einfluss auf die Moinba, Luoba und einige
andere Nationalitäten aus. Vielehe-Familien gibt es nicht
nur in Lhasa, sondern auch in anderen Orten Tibets, vor allem
aber im Gebiet des Himalaya-Gebirges. Polygamie und Polyandrie,
Überbleibsel der alten Gemeinschafts-ehe, haben sich in Tibet
aufgrund der besonderen, religiösen, politischen, wirtschaftlichen,
kulturellen und natürlichen Bedingungen bis heute erhalten.
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