Caofangzi zum ersten Mal in Berlin

Von Susanne Buschmann

„Ich verdanke die Bücher, die ich geschrieben habe, den Menschen, dem Wasser und dem Regen“, sagt Cao Wenxuan nachdenklich seinem aufmerksam lauschenden Publikum. Er spricht Chinesisch, die Übersetzung von Hu Chunchun für uns Deutsche folgt perfekt und ohne Zögern. Wir sind an diesem angenehm kühlen Septemberabend in das Berliner Konfuzius-Institut gekommen, um Professor Cao, den in China bekannten Kinder- und Jugendbuch-Autor, endlich persönlich kennen zu lernen. Wir, das sind Chinesen und Deutsche, darunter auch einige Sinologen.

Jetzt, Anfang September, treffen sich in Berlin auf dem 6. Internationalen Festival für Kinder- und Jugendliteratur zwei Wochen lang Schriftsteller aus Brasilien, Frankreich, Dänemark, Großbritannien, Spanien, Indien, Algerien und vielen anderen Ländern. Zum ersten Mal ist auch Cao Wenxuan nach Berlin gekommen. Erwartungsvoll sind mein Mann und ich ins Konfuzius-Institut gefahren. Mich beschäftigte unterwegs vor allem die Frage, was ein Schriftsteller aus China wohl jungen Menschen in Deutschland erzählen könnte. Vielleicht ist die Erlebniswelt junger Leute in beiden Ländern aber zu verschieden voneinander?

Nun haben wir eine Passage aus dem in China bekannten Buch Die strohbedeckte Hütte ( Caofangzi ) gehört, auf Chinesisch und in deutscher Übersetzung. Wir sind bewegt von der Geschichte des „Glatzköpfchen“ genannten Jungen, von seinen Sorgen und Nöten in seinem Heimatdorf, wo die rotblättrigen Ahornbäume stehen. „Wie geht denn die Geschichte weiter?“ will mein Mann wissen. Also eine Geschichte nicht nur für Kinder?

Cao Wenxuan , ein schlanker, sympathischer Mann, trägt einen korrekten dunklen Anzug mit Krawatte. Er wirkt auf den ersten Blick wie ein chinesischer Diplomat. Bei seiner Lesung aus Caofangzi ist mir aber rasch klar geworden, dass hier ein einfühlsamer Schriftsteller zu uns gekommen ist, der nicht nur genau beobachtet und sich einer plastischen Sprache bedient, sondern der auch die feinen Schwingungen in den Gefühlen junger Menschen versteht, wenn er sie phantasievoll und poetisch beschreibt. Die anschließende Lesung aus Caos Buch Der rote Flaschenkürbis ( Honghulu ) und das folgende Gespräch bestätigen meinen Eindruck.

Cao Wenxuan steckt voller Geschichten. Er ist ein Meister der Fabulierkunst. Vielleicht berühren uns die Geschichten, die Cao aus dem Ärmel schüttelt, deshalb so sehr, weil er sie aus seinen eigenen Kindheitserlebnissen schöpft. Wie er selbst sagt, haben ihn das Leben in seinem Dorf in der Provinz Jiangsu, die als Kind erlebte Natur, die Beziehungen zu seinem Vater, dem Lehrer, und zu seiner Großmutter („Sie war eine große, schöne Frau.“) für sein ganzes Leben geprägt. „Das Dorf lebt in meinen Büchern und in meinem Herzen“, sagt Cao Wenxuan. Und : „Ich habe bisher noch nie etwas über das Leben in der Stadt geschrieben. Das soll sich aber ändern,“ fügt er hinzu.

Die Faszination der Geschichten Caos liegt zu einem großen Teil auch in der differenzierten Darstellung und Kombination von Schönem und Traurigem, Erheiterndem und Tragischem begründet. An die tiefe Armut, die einst in seiner ostchinesischen Heimat herrschte, erinnert sich Cao heute nicht gern, sie war als Kind für ihn zu bedrückend. Dennoch kann er sich beim Schreiben diesem Thema nicht entziehen. So erzählt er uns eine Begebenheit, die er auch in einem seiner Bücher verarbeitet hat: Weil seine Familie so arm war, musste der kleine Cao eine alte, völlig durchlöcherte Hose tragen. Eines Tages begegnete er drei Mädchen. Sie kamen ihm auf dem Wege direkt entgegen und er fürchtete voller Schrecken, sie würden sich nach ihm umwenden, sobald sie an ihm vorbeigegangen waren. Dann nämlich hätten sie durch die Löcher seiner Hose sein nacktes Hinterteil bemerkt. In seiner großen Not entdeckte er einen rettenden Baum ganz in der Nähe, und voller Scham und Verzweiflung drückte er sich mit dem Rücken an seinen Stamm, bis die Mädchen kichernd vorübergegangen waren. Dieses Erlebnis hat der Schriftsteller Cao Wenxuan bis heute nicht vergessen.

Bei dieser Erzählung beobachte ich, wie mein Mann sich konzentriert vorbeugt, den Schriftsteller nicht aus den Augen lässt und einige Male unmerklich nickt. Ich kenne natürlich den Grund dafür. Nach der Veranstaltung wird er Cao Wenxuan berichten, wie er als Jugendlicher ein ganz ähnliches Erlebnis verarbeiten musste. Es war auch die Armut gewesen, die es seiner Mutter unmöglich gemacht hatte, ihm eine kurze Hose aus echtem Leder zu kaufen, wie alle anderen Jungen sie trugen. Er musste eine Hose aus billigem Kunstleder tragen, das Material war hart und kratzte auf der Haut. Das Schlimmste aber war für ihn, dass die Mädchen seiner Klasse mit Fingern auf ihn zeigten, sich über ihn und seine Hose lustig machten und ihm peinliche Fragen stellten. Deshalb, glaube ich, ist mein Mann Cao Wenxuan dankbar für die Geschichte von der Hose. Wie gleichen sich doch die Gefühle junger Menschen, ganz gleich, welchem Kulturkreis sie angehören!

Mich interessiert auch sehr, was Cao Wenxuan über die Bedeutung des Wassers für seine schriftstellerische Tätigkeit sagt. „Ich habe an einem Ort gelebt“, erzählt er, „der ganz von Wasser umgeben war. Ich frage mich oft“, fügt er verschmitzt hinzu, „gibt es in meiner Heimat so viel Regen, weil wir so viele Flüsse haben. Oder haben wir so viele Flüsse, weil es so oft regnet?“ Angeregt durch das Kindheitserlebnis Wasser spielt das nasse Element in Caos Büchern eine wichtige Rolle. „Ich habe viel über den Regen geschrieben, über das Wasser der Flüsse und das Leben auf dem Fluss.“ Cao sieht sich bei diesem Thema der Tradition der alten chinesischen Literatur verbunden. Mir drängt sich dabei der Gedanke auf, wie respektvoll der Schriftsteller Cao mit dem Wasser-Thema umgeht und wie wichtig dieses Thema heute nicht nur für die junge Generation ist, angesichts der hochgradigen Verschmutzung zahlreicher chinesischer Flüsse und des Wassermangels in chinesischen Großstädten.

Im letzten Teil des Abends, von Fragen und Antworten beherrscht, wird dann, so glaube ich, allen klar, welch große Verdienste der Schriftsteller Cao sich um die chinesische Kinder- und Jugendliteratur erworben hat und weiter erwirbt. Das ist besonders augenfällig, wenn man bedenkt, dass es in der Vergangenheit in China kaum spezielle Literatur für junge Menschen gab und das Wenige stark ideologisch geprägt war. „Das ist heute vorbei“, bemerkt Cao. „Auch von der einstigen Auffassung, Kinder- und Jugendbücher müssten rein erzieherischen Zwecken dienen, haben wir uns getrennt. Meiner Meinung nach soll Literatur für junge Leute schön sein und Freude machen. Schönheit ist für mich ganz wichtig.“ Ebenso wichtig sei für ihn die Handlung. Seine Bücher seien handlungsorientiert und deshalb sehr gut als Filmvorlagen zu verwenden. Dabei, so fügt Cao hinzu, teile er Literatur nicht in Kategorien ein. Seine Bücher seien auch Bücher für Erwachsene.

Zum Abschluss möchte jemand wissen, ob Professor Cao auch berühmte europäische Kinderbücher kenne, wie „Pippi Langstrumpf“ von Astrid Lindgren oder „Die wunderbare Reise des Nils Holgersson“ von Selma Lagerlöf. Cao Wenxuan antwortet mit einem feinen Lächeln: „Bei uns sind alle international bedeutenden Kinderbücher übersetzt worden.“

Die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Wir würden gern noch viel mehr erfahren, zum Beispiel, wann Bücher von Cao Wenxuan in deutscher Sprache vorliegen werden. Aber wir müssen uns auf das nächste Jahr vertrösten, wenn – so hoffen wir alle sehr – Professor Cao wieder nach Berlin kommt.

Angeregt von dem informativen und schönen Abend fahren wir quer durch Berlin nach Hause. Wir freuen uns über die Begegnung mit dem sympathischen Menschen und interessanten Schriftsteller Cao. Eines weiß ich nun ganz sicher: Die Bücher Cao Wenxuans werden auch in Deutschland ihr – nicht nur junges – Publikum finden. Denn die Geschichten, die er erzählt, sind menschlich. Und für Menschlichkeit gibt es keine Grenzen.

 

 
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