„Papierdrachen schweben empor, der Weg frei Richtung Himmelstor. Ihr Gleiten in die blauen Weiten bringt den Greis zurück in Kinderzeiten.“ Diese poetische Szenerie war in ganz China schon vor über tausend Jahren zu erleben. Denn China ist die Heimat der Drachen, nicht nur der mystischen, sondern auch der Papierdrachen. Im Norden heißen sie „Yuan“ (Falke), im Süden „Yao“ (Weih) oder auch „Zhichi“ (Papier-Raubvogel). Drachenbautechniken aus Beijing, Tianjin und Weifang in Shandong sowie Nantong in Jiangsu haben es mit als erste in die Liste von Chinas nationalem Kulturerbe geschafft. Als beste Zeit für das Drachensteigen gilt in China der Frühling. Dann lassen die Menschen an dünnen Fäden ihre Drachen gen Himmel steigen und begrüßen so die blühende Jahreszeit.
Buntes Getümmel: Am internationalen Drachenflugplatz Binhai in der Stadt Weifang lassen Drachenliebhaber ihre Sammlerstücke in die Lüfte steigen.
Drachen im Wandel der Zeit: Vom Kriegsgerät zum Spielvergnügen
Im Buch „Han Feizi“ aus der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) heißt es: „Mozi baute in drei Jahren einen hölzernen Falken, der jedoch nur einen Tag flog, bevor er abstürzte.“ Dieser hölzerne Falke, erschaffen vom Philosophen Mozi im 5. Jahrhundert v. Chr., gilt als der früheste belegte Drachen in der chinesischen Geschichte – und zugleich als der erste weltweit. Sein Schüler, der legendäre Baumeister Luban (507-444 v. Chr.), verbesserte die Konstruktion und schuf einen Holzkranich, der bis zu drei Tage lang in der Luft blieb.
Ursprünglich dienten Drachen militärischen Zwecken, nämlich zur Kommunikation, Vermessung und Wetterbeobachtung. Während der Hou-Jing-Rebellion (548-552) zur Zeit des Kaisers Wu der Liang-Dynastie (464-549, Regierungszeit: 502-549) schlug Yang Che'er vor, Papierdrachen mit der Aufschrift „Wer diese Nachricht den Entsatztruppen überbringt, erhält fünf Kilogramm Silber“ als Hilferuf einzusetzen.
Millimeterarbeit: Miao Bogang führt in vierter Generation das staatlich geschützte immaterielle Kulturerbe der Cao-Familien-Drachen fort. Hier verpasst er im Beijinger Daguanyuan-Garten einem seiner Werke den letzten Schliff. Seit 2011 ist die Beijinger Drachenherstellungskunst offiziell als immaterielles Kulturerbe auf nationaler Ebene gelistet. (Foto: 23. April 2024)
Ab der Tang-Dynastie (618-907) entwickelten sich Drachen dann mehr und mehr zum Freizeitvergnügen für gutbetuchte Schichten, erste Spielzeugdrachen kamen auf. In der Song-Dynastie (960-1276) erlangten die fliegenden Papierkonstruktionen dann breite Popularität im Volk und fanden Eingang in traditionelle Festaktivitäten, etwa als Bestandteil der Ausflüge rund um das Qingming-Fest. Literaten der nördlichen Song-Dynastie (960-1127) begannen dann, Drachen auch in der Kunst zu thematisieren. Zudem entstanden professionelle Drachenbauer und kunstvolle Hofdrachen. Kaiser Huizong der Song-Dynastie (1082-1135, Regierungszeit: 1100-1126) war ein begeisterter Drachenliebhaber. Er ließ nicht nur im Palast Drachen steigen, sondern verfasste auch das bekannte „Xuanhe-Drachenverzeichnis“. Xuanhe (1119-1125) war der Name seiner sechsten und letzten Regierungszeit.
Um das 8. Jahrhundert verbreiteten sich chinesische Drachen schließlich auch ins Ausland. Der britische Wissenschaftshistoriker Joseph Needham führte in seinem Werk „Science and Civilisation in China“ den Drachen als eine der bedeutenden chinesischen technologischen Erfindungen auf, die den Sprung nach Europa schafften. Auch die Gebrüder Wright in den USA testeten ihre Flugtechnik mit Drachen, bevor sie das weltweit erste Flugzeug bauten. Heute steht im National Air and Space Museum der USA eine Tafel mit der Aufschrift: „Die frühesten Fluggeräte der Menschheit waren chinesische Drachen und Raketen.“
Kunst des Drachenbaus: Vier Schritte bis zur Himmelsreise
Drachen lassen sich hauptsächlich in zwei Kategorien einteilen: Starrflügler („Yingchi“) und Drachen mit flexiblen Flügeln („Ruanchi“). Zusätzlich gibt es Varianten wie Ketten- oder Zylinderdrachen. Starrflüglige Drachen, auch „Yuanbao-Flügel-Drachen“ genannt, besitzen ein nicht zerlegbares Gerüst, das selbst starken Winden widersteht und ein einfaches Aufsteigen ermöglicht. Drachen mit flexiblen Schwingen hingegen verfügen nur an der Oberkante über eine Gerüststütze, während der untere Teil aus weichem Stoff oder Seide besteht. Sie sind zerlegbar, was Aufbewahrung und Transport erleichtert. Im Himmel flattern ihre Flügel frei im Wind. Häufig muten sie daher wie Vögel oder Insekten an.
Eine der Drachenhauptstädte Chinas: Kunsthandwerkerinnen aus Weifang in der Pronvinz Shandong bei der Arbeit
Chinas traditionelle Drachenbaukunst umfasst vier Schritte: Zha, Hu, Hui und Fang, also Binden, Bekleben, Bemalen und Steigenlassen. Beim „Zha“ wird ein Gerüst aus Bambus gebunden. Es muss leicht, gerade und symmetrisch sein – das ist entscheidend für einen erfolgreichen Flug. Beim „Hu“ wird das Gerüst im zweiten Schritt mit Papier oder Stoff bespannt, entweder glatt aufliegend oder gewickelt. „Hui“ meint die künstlerische Gestaltung – vom Entwurf über Konturen bis hin zur farblichen Ausarbeitung. Und am Schluss steht das „Fang“, das Steigenlassen. Hier zählt nicht nur die Flugstabilität. Zusätze wie Windspiele, Gongs und Trommeln oder auch sogenannte „Songfan“, kleine Drachen mit glitzernden Scherben, sorgen für klangliche und visuelle Effekte.
„Hundert Vögel huldigen dem Phönix“: Diesen schnittigen Namen trägt dieser handbemalte 3D-Drache aus der Stadt Tianjin.
Regionale Vielfalt: Chinas vier große Drachenzentren
Mit der Zeit haben chinesische Drachen regionale Besonderheiten entwickelt. Dabei gelten die vier Hauptproduktionsgebiete Beijing, Tianjin, Weifang und Nantong als führend. Bekannt sind sie unter den Bezeichnungen „Beijing-Schwalbe“, „Tianjin-Kuriosität“, „Shandong-Schmetterling“ und „Nantong-Klangträger“.
Die höfischen Drachen aus Beijing blicken auf eine über 300-jährige Geschichte zurück und sie spiegeln den Einfluss der Kaiserstadt wider. Zu den Grundformen zählen Drachen entweder mit starren oder flexiblen Flügeln sowie sogenannte „Paddel“-Drachen. Besonders repräsentativ sind die starrflügligen „Zayan“-Drachen (gebundene Schwalben), die stark von der Kultur der einstigen Kaiserstadt Beijing geprägt sind – elegant, majestätisch und variantenreich. Daneben gibt es auch noch Formen wie Goldfische oder Schmetterlinge. Die sogenannten „Baby“-Drachen mit Tigermützen oder -schuhen transportieren das Flair des alten Beijings.
Tianjins „Wei-Drachen“ wurde von Wei Yuantai in der Guangxu-Zeit (1875-1908) der Qing-Dynastie begründet. Wei war der Erste, der Drachen mit flexiblen Flügeln konstruierte und Messingringe zur Verbindung des Gerüsts verwendete. Seine berühmte Drachenserie „Die Unsterbliche sehnt sich nach irdischem Leben“ („Xiannü Sifan“) besticht durch schlichte Eleganz und ist heute im Tianjin-Museum ausgestellt. Für die Bemalung seiner Drachen griff Wei Yuantai auf Techniken der traditionellen Architekturmalerei zurück, etwa Farbverläufe und den Kontrast zwischen warmen und kalten Tönen. So entstand ein Stil, der den Reiz chinesischer Malerei mit realistischer Detailtreue und künstlerischer Ausdruckskraft vereint. Der „Wei-Drachen“ zählt heute zu den „Drei Meisterwerken der Tianjiner Volkskunst“.
„Volkskultur weitertragen – Immaterielles Kulturerbe erleben“: Unter diesem Motto hatten die Organisatoren im Nantonger Stadtbezirk Tongzhou in der Provinz Jiangsu im März 2025 zu einer Drachenausstellung geladen. Diese Besucher informieren sich gerade über die traditionellen Plattenweih-Drachen.
Die Drachen aus Weifang in Shandong lassen sich bis in die frühe Ming-Dynastie (1368-1644) zurückverfolgen. Ihre Motive lehnen sich oft an die lokale Kunsthandwerkstechnik der Yangjiabu-Holzschnitt-Neujahrsbilder an, die zum immateriellen Kulturerbe zählt. Es wird großer Wert darauf gelegt, den Geist durch die Form auszudrücken. Seit der Neuzeit sind Weifang-Drachen bekannt für ihre langen „Tausendfüßler“-Ketten, ihre filigranen Drachen mit flexiblen Flügeln und einzigartige zylindrische Drachen. Darüber hinaus gibt es auch dreidimensionale Drachen, die eng mit der volkstümlichen Tonkunst verbunden sind. Ein Klassiker ist der Adlerdrachen – plastisch, dynamisch und mit scharfen, nach innen gekrümmten Krallen, die kraftvoll und lebensecht wirken. Weifang gilt heute als die „Drachenhauptstadt“ – Schätzungen zufolge stammen über 70 Prozent aller Drachen weltweit aus diesem sonst im Westen eher unbekannten Ort in der ostchinesischen Provinz Shandong.
Die „Banyao“-Drachen („Plattenweih“-Drachen) aus Nantong in Jiangsu sind groß und rechteckig wie Türbretter. Sie zeichnen sich durch detailreiche Farbmalereien im Gongbi-Stil aus und unterscheiden sich deutlich von den Drachen Nordchinas. Ihre Besonderheit liegt in einem Pfeifmechanismus: Ein Kalebassen-Pfeifenaufsatz erzeugt beim Aufsteigen einen durchdringenden, flötenähnlichen Klang, der Hoch- und Tieftöne miteinander kombiniert. In den ländlichen Regionen Nantongs ist das Steigenlassen dieser Drachen ein feierliches Ritual – ein Symbol für reiche Ernte und Glück.
Bis heute entwickeln Chinas Handwerksmeister die Drachenbaukunst stetig weiter, verquicken sie mit Elementen aus dem modernen Leben. So entstehen etwa Drachen mit Hightech- oder Cartoon-Motiven. Hochwertige Drachen, von Kunsthandwerkern oder Meistern der Tuschmalerei gefertigt, haben mittlerweile auch ihren Platz in der Kunstwelt gefunden. Wenn ein Drachen in den Himmel aufsteigt, trägt er nicht nur die Freude und Wünsche der Menschen mit sich – er wird auch zum Sinnbild für Freundschaft und Austausch, die Generationen überdauern.
*Die Autorin ist Dekanin und Professorin des Instituts für Kulturerbe und Kreativwirtschaft an der Universität Jinan.
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