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Zwischen Tradition und Moderne: Ein Frühlingsfesteinkaufsbummel mit einer junggebliebenen Beijinger Omi

2019-02-01 10:31:00 Source:China heute Author:
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Von Verena Menzel

 

Zeit ist relativ und manchmal scheinen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für einen Augenblick zusammenzufallen. Solche magischen Momente lassen sich heute besonders in China erleben, einem Land, das in nur wenigen Jahrzehnten durch große Entwicklungsschübe unter die führenden Volkswirtschaften der Welt aufgerückt ist, was das Leben der Menschen maßgeblich verändert hat. Im heutigen China greifen Gestern und Heute, Tradition und Moderne auf unvergleichliche Weise ineinander. Besonders deutlich wird das jedes Jahr rund um das traditionelle chinesische Frühlingsfest, wenn sich alte Bräuche und Rituale jedes Jahr aufs Neue ihren Platz im Bewusstsein der Menschen zurückerobern.




Wie fühlt sie sich an, die Vorfreude auf Chinas wichtigstes Familienfest im 21. Jahrhundert? Ich wollte es herausfinden und habe mich aufgemacht in einen ganz gewöhnlichen chinesischen Supermarkt im Herzen Beijings. Denn es gibt wohl nur wenige Orte, an denen es sich besser eintauchen lässt in die quirligen Festtagsvorbereitungen. Um einen noch authentischeren Einblick zu bekommen, habe ich mir zudem eine fachkundige Begleitung gesucht: die Beijinger Seniorin Sun Renping. Die 77-Jährige hat den Wandel des Frühlingsfestes über die Jahre hautnah miterlebt.




Schon am Eingang erwartet mich die rührige Rentnerin, Mutter dreier erwachsener Kinder und seit 2012 verwitwet, mit einem herzlichen Lächeln. Der Elan des allmorgendlichen Frühsports ist ihr noch anzumerken. Nach dem Tod ihres Mannes entschied die ehemalige Angestellte am chemischen Institut der chinesischen Akademie der Wissenschaften, nicht etwa sich in ihrem Beijinger Zuhause einzuigeln, sondern stattdessen die Welt zu erkunden. Seither ist sie unter anderem in die Vereinigten Staaten und nach Südafrika, nach Russland und Japan, und schließlich sogar bis zum Südpol gereist.




Heute fungiert Sun als meine Reiseführerin durch den Beijinger Warendschungel. Versiert lotst sie mich durch die Regalreihen einer Filiale der Beijinger Supermarktkette CSF Market im Beijinger Stadtbezirk Haidian, die wir für unseren Streifzug auserkoren haben.

Unseren ersten Halt legen wir an einem Ständer voller leuchtend roter Umschläge mit opulenten Goldverzierungen ein. Diese „Hongbao“, was auf Chinesisch für „roter Umschlag“ steht, seien für die traditionellen Geldgeschenke gedacht, die Kinder und Jugendliche zum chinesischen Neujahrsfest nach altem Brauch von der älteren Generation bekommen, sagt Sun, während sie die Auslage nach passenden Kuverts durchstöbert. Das Rennen macht schließlich ein Exemplar, auf dem ein beleibtes Goldschwein stolziert – passend zum anstehenden Jahr des Schweines.


„Die Generation meines Sohnes benutzt mittlerweile allerdings eher selten Umschläge aus Papier“, sagt Sun. „Heute verschicken die Chinesen ihre Hongbao oft in digitaler Form per Handy. Das kann ich mittlerweile auch“, sagt die Seniorin und lacht.




Ein weiterer fester Bestandteil des Frühlingsfesteinkaufzettels wartet nur eine Ecke weiter: die traditionellen Neujahrsspruchbänder und gedruckten Glückszeichen. Mit ihnen schmücken die Chinesen vor dem Jahreswechsel ihren Haus- bzw. Wohnungseingang, um so Glück für das neue Jahr in die eigenen vier Wände zu locken. Die Auswahl ist groß, die Entscheidung fällt schwer. Da zückt die Seniorin zu meiner Überraschung kurzerhand ihr Smartphone, macht einige Schnappschüsse und versendet sie dann über die bei Chinas junger Generation beliebte Social-Media-App WeChat. „Ich frag‘ per App mal, was die Kinder so meinen“, erklärt sie noch knapp, bevor sie mit mir im Schlepptau auch schon zielstrebig die nächste Destination im Warengetümmel ansteuert: die Tiefkühlabteilung.




Hier fischt Seniorin Sun zielsicher eine Packung Tiefkühl-Jiaozi aus der Truhe, daneben landet noch ein Päckchen gefrorene Tangyuan mit Schokofüllung im Einkaufswagen. Aber Moment mal: Jiaozi-Teigtaschen und Tangyuan-Klebreisklößchen – bereiten die Chinesen diese Speisen zum Frühlingsfest traditionell nicht selber zu? Und wieso sind die Klebreisklößchen mit Schokolade gefüllt und nicht ganz klassisch mit Sesampaste oder Adzukibohnenmus? Sun winkt ab. „Tiefgekühlte Jiaozi sind praktisch, die kann man jederzeit aufkochen, sobald man Lust darauf verspürt“, sagt sie. „Und bei den Klebreisklößchen gibt es jetzt jede Menge leckere neue Geschmacksrichtungen, die es früher nicht gab, das ist schon toll.“



 

Bei einem weiteren Posten der Einkaufsliste mag es die Dame dann aber doch lieber traditionell. Die Rede ist vom Fisch – der muss frisch aus dem Becken ausgewählt werden, erklärt sie. Dass ein Fischgericht bei keinem ordentlichen Silvesteressen in China fehlen darf, hängt mit dem Klang des zugehörigen chinesischen Schriftzeichens zusammen ( yú „Fisch“). Dieses wird nämlich genauso ausgesprochen wie das Wort „Rest“ bzw. „Überbleibsel“ ( yú) und versinnbildlicht somit den Wunsch, dass es der Familie im neuen Jahr an nichts mangeln soll.

 

Neben frischem Fisch, Fleisch, Obst und Gemüse sowie heimischen Naschereien, Nüssen und Sonnenblumenkernen, landen auch zahlreiche importierte Lebensmittel in Sun Renpings Einkaufswagen, als wir uns weiter durch die Supermarktgänge schlängeln. Garnelen aus Argentinien, Schwarztee aus Sri Lanka, italienischer Kaffee, deutsche Milch, japanischer Matcha-Grüntee und amerikanischer Whiskey – nach und nach stapeln sich Produkte von allen fünf Kontinenten im Einkaufskorb.



 

„Die Lebensqualität hat sich schon deutlich verbessert über die Jahre und ich habe auch mehr im Geldbeutel. Man hat die Freiheit zu kaufen, worauf man Appetit hat. Ich kaufe von daher auch viele ausländische Lebensmittel“, sagt die Rentnerin. Auf europäische Schokolade beispielsweise wolle sie nicht mehr verzichten. „Ich esse jeden Tag ein Stück nach dem Frühstück. Das gehört für mich heute einfach dazu.“


Mittlerweile türmen sich die Produkte im Einkaufswagen der 77-Jährigen. Die Getränkeabteilung lässt Sun allerdings zu meinem Erstaunen völlig links liegen. „Bier und andere Getränke, also alles was schwer ist, muss man heutzutage nicht mehr selber nach Hause schleppen. Das kann man im Internet ordern und es wird dann direkt bis an die Wohnungstür geliefert. Das ist heute wirklich praktisch!“, klärt mich die Seniorin über ihre Einkaufsgewohnheiten auf. Über Lieferservice Apps wie ele.me oder Meituan Waimai kann man nicht nur Restaurantgerichte sondern auch die Produkte örtlicher Supermärkte bequem von zu Hause aus auswählen, mit ein paar Klicks in den digitalen Warenkorb befördern und im Handumdrehen werden sie in die eigenen vier Wände geliefert.




 

Zum Schluss steuern wir auf eine Auslage mit Kleidung und Accessoires zu, die ganz im Zeichen der Farbe Rot stehen. Hier möchte Frau Sun noch ein Geschenk für ihre Schwiegertochter finden, wie sie mir erklärt. Diese sei nämlich im Tierkreiszeichen des Schweines geboren und feiere damit ihr Tierkreiszeichenjahr (本命年 běnmìngnián). „Im eigenen Tierkreiszeichenjahr muss alles rot sein, Strümpfe, Unterwäsche, Schals, Gürtel und andere Accessoires. Das ist ein alter Brauch in China“, sagt sie.



 

Hier allerdings stößt das Warenangebot des Supermarktes an seine Grenzen. Die Seniorin wird nicht so recht fündig. Doch wer mit über 70 Jahren noch zum Südpol aufbricht, lässt sich so leicht nicht unterkriegen. Sun ruft also kurzerhand ihren Enkel Chen Chen an, der ganz in der Nähe wohnt und sich mit Onlineshopping per Smartphone-App auskennt. Einige Minuten später scrollen sich die beiden, Jung und Alt Schulter an Schulter, durch das Internetangebot des chinesischen Onlineshoppingportals Taobao. „Da gibt’s doch deutlich mehr Auswahl!“, sieht sich die 77-Jährige bestätigt. In diesem Fall macht also der Onlinehandel das Rennen.



 

Die Shoppingliste ist abgearbeitet und wir arbeiten uns zur Kasse vor. Und hier erwartet mich zum Abschluss dann noch einmal eine Überraschung. Denn statt Geldbörse und Bargeld kramt Seniorin Sun erneut ihr Smartphone aus der Tasche, um mobil per App über das Scannen eines QR-Code zu bezahlen. Lästiges Kleingeld ist damit passé.

 

Kurz darauf verabschieden sich Sun und Enkel Chen Chen mit vollgepackten Tüten und geben uns noch die besten Wünsche für das kommende Jahr des Schweines mit auf den Weg.



 

Ich bleibe zurück mit den Eindrücken eines Frühlingsfesteinkaufsbummels zwischen alten Traditionen und den Neuerungen der Moderne, insbesondere des Internets, die den Alltag der Chinesen im neuen Jahrhundert prägen. Und vor allem mit dem Bild einer Seniorin, die auch mit stolzen 77 Jahren noch nicht aufgehört hat, sich zu erneuern und mutig mit dem Wandel der Zeit Schritt zu halten. Sie lässt die Zeit für einen Moment vor meinem inneren Auge zusammenwachsen - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

 

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