Juni 2005
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Mo Yan: Die Schnapsstadt

Von Martin Winter

Mo Yan ist einer der berühmtesten chinesischen Autoren der Gegenwart. Dieser Roman wurde bereits 1992 in Taipei veröffentlicht und ist seither in China in mehreren Versionen wieder aufgelegt worden. Die englische Übersetzung von Howard Goldblatt heißt „The Republic of Wine“. Der Originaltitel lautet „Jiuguo“, das ist wörtlich „Alkoholland“. Es geht ums Trinken, noch mehr jedoch um das Essen von gemästeten Kleinkindern. Die Erzählung enthält sehr viele Einzelheiten aus einer chinesischen Realität, die auch auf den internationalen Leser unheimlich vertraut wirkt. Auch die charakteristische Sprache und die Erzähltechnik des Romans, die von bestimmten (zeit-) geschichtlichen Gegebenheiten in China ausgehen, funktionieren ebenso im europäischen Kontext.

Gleich zu Beginn tritt ein Detektiv auf. Sonderermittler Ding Gou’er wird von der zuständigen Staatsanwaltschaft einer höhergeordneten politisch-geographischen Einheit beauftragt, gewissen Gerüchten von schrecklichen Praktiken in Jiuguo nachzugehen. Ding ist eine groteske Figur. Beim Lesen des Romans wollte ich mich immer wieder mit Ding identifizieren und hoffte, dass er sich doch noch als ein zumindest teilweise positiver Held herausstellen würde. Die Hoffnung war am Ende vergebens. Andererseits ist die Identifikation wichtig und fruchtbar. Dings Unzuverlässigkeit entspricht die Unzuverlässigkeit des ganzen Romans: Was erzählt wird, wird gleichzeitig als Traumvision oder als eine Fiktion in der Fiktion, als Erzählung in der Erzählung relativiert. Als Leser bekam ich dadurch eine gewisse Distanz zum Geschehen und konnte die eingesetzten sprachlichen und erzählerischen Techniken deutlicher erkennen, bzw. mit Genuss verfolgen. Der Implikation jedes Ermittlers oder Erzählers in die Verhältnisse, die er bloßlegen sollte, entspricht aber auch ein Gefühl beim Lesen, dass es dabei um ein Dilemma geht, das nicht nur auf China anwendbar ist.

Jede einzelne Szene ist mit oft pathetischen Übertreibungen und einem Missverhältnis zwischen den Einzelheiten und der Haltung des Helden aufgeladen. Dazu kommt eine Aufsplitterung des Romangeschehens in verschiedene als autonom präsentierte Erzählebenen. Eine der Gestalten des Romans ist der Schriftsteller Mo Yan, der einen Roman schreibt. Dieser Mo Yan wird dabei keineswegs von dem Mo Yan getrennt, der die einzelnen Teile des Romans, den der Leser vor sich hat, entweder redigiert oder gänzlich selbst verfasst hat. Als Autor der Passagen, die ursprünglich nicht von „Mo Yan“ stammen sollen, stellt sich ein gewisser Li Yidou vor, der einerseits Bürger der Schnapsstadt ist und in die dortigen gastronomischen Praktiken involviert ist, andererseits aber als Schriftsteller auftritt, der die Exzesse bloßstellen will, die er enthusiastisch und bewundernd beschreibt. „Mo Yan“ ist der ältere, arriviertere Autor in einer größeren Stadt, dem hoffnungsvolle junge Kollegen wie Li unaufgefordert ihre Manuskripte senden. Gegen Ende des Romans folgt „Mo Yan“ endlich der Einladung seines jungen Kollegen und begibt sich in die Schnapsstadt. Dort benimmt er sich schließlich ebenso unzuverlässig wie die anderen Helden und Erzähler des Romans.

In der „Schnapsstadt“ ist eine der Hauptfiguren der Schriftsteller Mo Yan, der den Film Das rote Kornfeld geschrieben hat. Mo Yan bringt damit ganz konkret seine eigene Bekanntheit in China in den Roman ein. Natürlich geht es wie bei Ma Yuan, Ge Fei und Yu Hua um das Schreiben und den Autor als suspekte Begriffe. In der „Schnapsstadt“ ist Mo Yan jedoch einer der allzu vertrauten Antihelden einer Welt, die überall hinter der nächsten Wegbiegung auf einer Bergstraße liegt, wenn man mit einem „Lastwagen vom Typ Befreiung“ (Zeile 2 des ersten Kapitels) unterwegs ist. Ma Yuan, Ge Fei, Yu Hua und die anderen Autoren der späten 80er und frühen 90er der VR China, in deren Narrativen der eigene Name figuriert, ironisieren nicht ebenso deutlich ihre eigene Bekanntheit in einer ganz konkreten Welt; Mo Yan war auch schon 1992 bekannter als sie alle, durch den oben erwähnten Film. Er ist heute weiterhin einer der Namen, die auch im deutschen Sprachraum am häufigsten mit zeitgenössischer chinesischer Literatur verbunden werden. Kenzaburo Oe, der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1994, wird oft mit der Äußerung zitiert, dass er Mo Yan für diesen Preis auswählen möchte. Von Mo Yan gibt es einen interessanten Kommentar zur Verleihung des Nobelpreises an Dario Fo und die Reaktionen in Italien. Leider sind Mo Yans Bücher auf Deutsch bisher noch lange nicht so erfolgreich wie jene von Fo oder Oe, obwohl seine internationale Bekanntheit durchaus vergleichbar wäre.

Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002. Gebunden. ISBN 3-498-04387-0

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