Juni 2005
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L’Auberge chinoise

Von Raimund Crone

Unabhängig davon, zu welcher der 56 offiziell anerkannten Nationalitäten Chinas sie gehören, lieben Chinesen den Satz „China ist groß und es gibt viele Chinesen.“ So gut wie keine Gelegenheit lassen Chinesen aus, einem Ausländer diese Tatsache mit Metall verbiegender Stimme gnadenlos entgegenzuschmettern. Aber nicht nur die Chinesen werden immer mehr, auch immer mehr Ausländer treiben sich seit einigen Jahren in China herum und nehmen an der Entwicklung und dem Leben in China teil. Einst ausschließlich von Chinesen besuchte Universitäten sind mittlerweile halbe Auslandskolonien geworden. In der Fremdsprachenuniversität Beijing sind derzeit über vierzig verschiedene Nationen vertreten. Und damit liegt sie noch weit hinter der Sprachenuniversität Beijing, an der Studenten aus insgesamt hundertvierzig Ländern studieren, zurück. Internationalität ist längst kein neues Phänomen mehr, bemerkenswert ist aber die ununterbrochen weitergehende Entwicklung trotz des bereits erreichten Niveaus. Die Vielfältigkeit der  Studentenschaft ist nur eine der vielen neuen Facetten Chinas, und nur wenige Studenten bekommen viel vom chinesischen Leben wirklich zu sehen.

Die meiste Zeit verbringt ein ausländischer Student auf dem Campus ähnlich den chinesischen Studenten. Sie wohnen dort, gehen dort zum Unterricht, essen dort und es gibt sogar ein universitätseigenes Krankenhaus. Darum verlassen Studenten sehr selten das Universitätsgelände. Warum sollte man auch woanders hingehen? Alles, was der Mensch zum Leben braucht,  gibt es in der Uni. Jedes Mal, wenn ein Student also ausgeht, geht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Beweggrund für das Ausgehen nichts mit Lernen, Studieren oder sonstigen lebensnotwendigen Aktivitäten zusammenhängt gegen einhundert Prozent. Sehr verdächtig! Also bleibt die Mehrheit aller studentischen Seelen brav im Unterrichtszimmer, um misstrauische oder auch besorgte Blicke von ihren Lehrern zu vermeiden. Derartige soziale Hindernisse sind in China überall vorhanden, wie auch anderswo in der Welt, allerdings sind sie hier nicht nur abstrakter Natur. Traumatisiert von ihrem Weltwunder bauen Chinesen überall, wo es geht neue Mauern hin. Jeder Campus, jede Wohngegend ist umgeben von ausladend hässlichen und zumeist auch zerbröckelten Betonwänden. Nirgendwo kann man ungesehen hin. Will man einen Freund besuchen, muss man durch einen der bewachten Eingänge gehen, Passnummer, Telefonnummer, Ankunftszeit und Besuchsgrund eintragen und sich bei Verlassen auch abmelden. Zwar wird man selten abgewiesen, aber das Gefühl, wenn das schwere Tor hinter dem Rücken mit lautem Scheppern zufällt, ist sehr unangenehm.

Obwohl der normale Auslandsstudent sich den allgemeingültigen Regeln der chinesischen Gesellschaft weitgehend unterwirft und in das karge Leben eines chinesischen Studenten eintaucht, gibt es Tage, an denen einem durch eine glückliche Fügung die Chance gegeben wird, etwas Interessantes zu hören oder zu erleben. So war mir zum Beispiel am letzten Montag das Glück gewogen und bescherte mir ungewöhnlich ereignisreiche vierundzwanzig Stunden. Neben den sprichwörtlich alltäglich passierenden Dingen wie zu spät aufstehen, noch später zum Unterricht gehen und am Ende gar nicht mehr anwesend sein, durfte ich an diesem Tag eine interessante Person treffen, die viel zu erzählen hat. Sie ist mitunter der Grund, weshalb ich nicht mehr zu den letzten Unterrichtsstunden gegangen bin.

Nachdem die ersten zwei Stunden vorbei waren, verabschiedeten einige Freunde und ich eine japanische Kommilitonin, die über ein Jahr mit uns an der Fremdsprachenuniversität studiert hatte. Mit zwei Taxis fuhren einige Freunde mit ihr und ihrem Gepäck, das das zwanzig Kilogrammlimit der Fluggesellschaft um dreißig Kilogramm überschritt, zum internationalen Flughafen der Hauptstadt. Mein laotischer Klassenkamerad ist von dem Abschied noch heute so sehr mitgenommen, dass er nicht richtig isst und regelmäßig weinen muss. Die Tragweite dieser Trennung war mir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht klar, so richtete ich meinen Blick auf den Nachmittag. Der Auftrag war, einen Professor der Universität für Theater und Filmwissenschaften in Deutsch zu unterrichten. Er bedurfte rudimentärer Deutschkenntnisse, weil er zwei Tage darauf nach Deutschland musste, um bei einem Film als Hauptdarsteller mitzuwirken. Entsprechend war sein Zeitplan vor der Abreise voll bis zum Anschlag des Menschenmöglichen. Zwei Stunden Deutschunterricht waren angesichts seiner Pläne großzügig bemessen. Intensiv zu üben hielt er aber nicht für notwendig. Den größten Teil der Zeit brachte er damit zu, mir Geschichten zu erzählen, und ich hörte mehr oder weniger aufmerksam zu. Eine Geschichte blieb jedoch in meinem Gedächtnis hängen: Als ob es nicht genug gewesen wäre, was er schon zu tun hatte, litt einer seiner Studenten an starken Unterleibsschmerzen. So etwas betrifft auch den Lehrkörper. Warum? In China kommen viele Studenten aus sehr entlegenen Gegenden, die Universitäten sind allerdings nur in Großstädten weit weg von zu Hause. Wenn nun ein unselbstständiger, siebzehnjähriger Junge zur Uni geht, ist er weder rechtlich noch persönlich in der Lage, Verantwortung für sich zu übernehmen. Daher wird die eigentlich elterliche Verantwortung auf den Lehrer übertragen. In diesem Fall war das jener Professor. Er musste den Jungen als Verantwortlicher ins Krankenhaus zur Untersuchung begleiten. Das ist entscheidend, weil er auch die wirtschaftliche Verantwortung trägt und zunächst zahlen muss, bis die Eltern ihm das Geld zurückerstatten können, und das kann dauern. Städtische Krankenhäuser sind für die Landbevölkerung sehr teuer und nur wenige können sich dort eine Behandlung leisten. Wenn man die medizinische Dienstleistung nicht zahlen kann, wird man nicht behandelt. Sind also zum Zeitpunkt des Betretens des Hospitals keine finanziellen Garantien da, können Schwerverletzte an der Pforte zur Rettung abgelehnt werden. Der Grund ist einfach. Es gibt nicht ausreichend Krankenhäuser in China, um alle Patienten zu versorgen. In einem normalen Krankenhaus müssen Ärzte pausenlos unter Höchstbelastung arbeiten. Sie können gar nicht alle Fälle annehmen, denn es fehlt ihnen schlichtweg an medizinischer Arbeitskraft. Viele Ärzte sind durchweg in den Operationssälen und bekommen nicht einmal mit, was außerhalb passiert. Sie behandeln, wen sie behandeln können. Wie viele Erkrankte oder Verletzte sie heute nicht behandelt haben, können sie meist nur vermuten. Ausgefiltert wird am Eingang. Dank der Begleitung des Professors kann der Junge passieren. Er wird sorgfältig untersucht und sogar geröntgt, aber ergebnislos. Der untersuchende Arzt kann keine Diagnose stellen. Die Schmerzen des Jungen sind trotz bereits eingenommener schmerzstillender Mittel unerträglich. Der Arzt hat nur eine Möglichkeit. Er bietet dem Professor als Verantwortlichem an, ohne genaue Kenntnisse der Leidensursache zu operieren. Den Unterleib erst zu öffnen, dann zu diagnostizieren, um anschließend sofort seine westlichen Heilkünste anzuwenden. Der Professor erklärt sich einverstanden, den Jungen augenblicklich in den OP zu bringen. Als Professor ist das möglich, selbst in schwierigsten Zeiten einen leeren Operationsraum zu finden. Wären die leiblichen Eltern dort gewesen, hätte der Verlauf vielleicht anders ausgesehen. Ein akademischer Rang öffnet in China viele ansonsten verschlossene Türen. Von einer Bedingung kann er sich allerdings nicht lösen. Er muss vor Ort bleiben. Verständnis von Transparenz ist in China nämlich sehr bodenständig. Anverwandte dürfen und müssen den Verlauf von Operationen kontrollieren. Das bedeutet für sie im Wesentlichen, dass sie vor dem OP-Bereich auf den operierenden Doktor warten. Dieser muss exakt zeigen, was er an dem Patienten „bearbeitet“. In dem Fall, dass Teile vom Körper entfernt werden müssen, in leichten Fällen die Mandeln oder Nieren, in schweren Fällen Organ oder ganze Körperteile, trägt ein Assistent den frisch abgesäbelten Klumpen rohen und in der Regel blutigen Fleisches aus dem OP in den Wartesaal, in dem die betroffenen Bekannten und Verwandten sitzen, damit sie die für sie unkenntliche Masse inspizieren. So sitzt auch der Professor in der Wartezone. Jedes Mal, wenn ein Arzt mit Tablett herauskommt, zieht sich sein Brustgewebe zusammen und der Puls geht über hundertsechzig Schläge pro Minute. Nach fünf endlosen Stunden tritt schließlich ein Arzt ohne Tablett aus der Tür zum OP. Er geht auf den Professor zu und teilt ihm mit, dass alles in Ordnung ist. Sein Student hatte nur ein Loch im Magen, wegen Überarbeitung. Das sei nichts Ungewöhnliches und käme häufiger vor. Für etwa fünf Tage müsste er im Krankenhaus zur Beobachtung bleiben. Sollten danach erneut Schmerzen auftreten, solle er zur Nachoperation eingeliefert werden. Erleichtert konnte der Professor das Krankenhaus verlassen und wieder seinem Alltagsgeschäft nachgehen, unter anderem auch um Deutschunterricht zu nehmen. Nach einem kurzen Plausch entlässt er mich von meiner Pflicht als Lehrer und trifft sich mit einer Kollegin von der Beijinger Fernsehstation, während ich mich zu meinem nächsten Schüler aufmache.

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