Juni 2005
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Wann wird der Schulstress abgebaut?

Von Ren Zhongwei

„Sihan, steh auf, es ist Zeit in die Schule zu gehen!“ Um sechs Uhr morgens wecke ich meinen Sohn auf. „Ich bin müde und will noch ein wenig im Bett bleiben“, murmelt er mit geschlossenen Augen. „Das geht nicht. Die Zeit ist knapp. Mach schon, sonst wirst du dich verspäten!“

Mein Sohn Sihan ist 12 Jahre alt und besucht zur Zeit die erste Klasse der Unterstufe einer Mittelschule in Beijing. Jeden Tag steht er um 6.00 auf. Nach dem Frühstück fährt er mit dem Fahrrad eine halbe Stunde zur Schule. Um 7.15 muss er pünktlich in seinem Klassenzimmer sein. Danach hat er bis 17.00 Unterricht. Er kommt sehr spät ins Bett, denn nach dem Abendessen muss er noch mehrere Stunden über den Hausaufgaben sitzen. Auch am Wochenende kann er keine Pause einlegen, da er noch an einem Nachhilfekurs, der von seiner Mittelschule veranstaltet wird, teilnehmen muss.

„Nichts als Hausaufgaben und Prüfungen“, stöhnt er, „ich habe überhaupt keine Zeit, meinem Hobby nachzugehen.“ Sihan lernte von klein auf Flöte und hat die höchste Stufe der Prüfung für Flötenspiel für Nichtprofessionelle, veranstaltet von der Zentralen Musikhochschule, erreicht. Er ist Mitglied des Blasorchesters seiner Mittelschule. Leider ist das Hobby eine weitere Belastung für ihn. Für die Proben für ein Konzert im März und einen anschließenden Wettbewerb der Mittelschüler-Blasorchester Beijings im April musste er nach dem Unterricht noch drei Stunden in der Schule Flöte spielen und erst um 20.00 konnte er wieder zu Hause sein. Das wirkt sich sicherlich negativ auf die Gesundheit eines Kindes aus, so dass ich vorhabe, ihn vom Orchester austreten zu lassen.

Die Schulbelastung der chinesischen Kinder ist zu groß. Dieses Problem erregte auch schon die Aufmerksamkeit der Zentralregierung. Bereits am 7. Januar 2000 gab das Chinesische Bildungsministerium in einem dringlichen Rundschreiben Maßnahmen bekannt, um die Belastungen der Schüler und Schülerinnen zu verringern. Fünf Jahre sind vorbei. Warum haben sich inzwischen keine Fortschritte bemerkbar gemacht?

Wie wir wissen, fängt in China im Alter von sechs Jahren die allgemeine Schulpflicht an. Die Grundschule dauert sechs Jahre und die darauf folgende Unterstufe der Mittelschule drei Jahre. Der Unterricht wird wöchentlich auf fünf Tage verteilt. In der Grundschule werden die drei wichtigsten Fächer – Chinesisch, Mathematik und Englisch, sowie einige Nebenfächer wie Sport, Musik und Malen vermittelt. In der Mittelschule kommen noch Physik, Chemie, Biologie, Geschichte und Geographie hinzu.

Zur Bewertung der schulischen Leistungen wurde das Hundertpunktesystem eingeführt. Bei Erreichung von 60 Punkten hat man eine Prüfung bestanden. In vielen Grund- und Mittelschulen herrscht außerdem noch die Gepflogenheit, anhand der Prüfungsergebnisse eine Namensliste der Klasse zu veröffentlichen. Beispielsweise finde ich in Sihans Prüfungsbogen oft eine in roter Farbe geschriebene Zahl, das ist sein Platz nach den Prüfungsergebnissen der Klasse. Kein Zweifel, dass er sich durch dieses Verfahren unter Druck gesetzt fühlt, weil nur diejenigen, die gute Prüfungsergebnisse erzielt haben, sich bei den Lehrern beliebt machen und von der Schule ausgezeichnet werden können. Einmal bereitete sich Sihan für eine Chinesisch-Klausurarbeit nicht gut vor und stand mit 72 Punkten auf dem 32. Platz in seiner Klasse (Sihan’s Klasse besteht aus 42 Schülern und Schülerinnen). Am nächsten Tag hatte er eine Frage und wandte sich an seine Chinesisch-Lehrerin. Die Lehrerin beantwortete die Frage, aber anschließend sagte sie ernsthaft zu Sihan: „Vergiss nicht, die Hausaufgaben zu machen.“ Sihan wusste nicht, was mit seiner Lehrerin los war, denn er hat niemals die Hausaufgaben vergessen. Er fragte mich und ich konnte nur ausweichend antworten: „Vielleicht hat sich die Lehrerin geirrt. Aber du sollst fleißig lernen und gute Noten bei der nächsten Klausur erringen.“ Als Kind versteht Sihan sicherlich nicht, dass seine Prüfungsergebisse auch die Fähigkeit der Lehrerin widerspiegeln, die ebenfalls unter Beobachtung steht. Für eine erfolgreich bestandene Prüfung können die Lehrer eine Prämie bekommen, sonst werden sie nicht nur von dem Schuldirektor, sondern auch von den Eltern kritisiert. Deshalb legen sie größten Wert auf die Prüfungsergebnisse und vernachlässigen dabei die Entwicklung der anderen Fähigkeiten der Schüler.

Peter Hachenberg, Leiter des Studiengebietes Deutsch als Fremdsprache für Ausländer an der Universität Düsseldorf, ist ein alter Freund meiner Familie. Er war fünf Jahre lang als DAAD-Lektor an der Fremdsprachenuniversität Beijing tätig. Einmal sagte er mir: „Mir scheint, dass sich die chinesischen Studenten für nichts interessieren. Der Grund liegt darin, dass sie von klein auf zu viel Zeit für das Lernen von Buchwissen aufgewendet haben. Für uns Deutsche ist die Zeit in der Grund- und Mittelschule die wichtigste Periode des Lebens, um eigene Hobbys und andere Fähigkeiten zu entwickeln. Aber dieses Rechts sind chinesische Kinder von ihren Eltern und Lehrern beraubt worden.“ Tatsächlich haben auch viele chinesische Eltern dieses Problem bemerkt. Eine Mutter sagte: „Ich sorge mich um mein Kind. Obwohl es sehr fleißig in seinem Studium ist, ist es nicht in der Lage, seinen Alltag zu organisieren. Beispielsweise fällt es ihm sehr schwer, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen.“

Aber wieso geht die Reformierung des Schulsystems in China so langsam voran, obwohl die Nachteile schon längst bemerkt worden sind? Das ist eine Frage, die sich viele Leute stellen. Die folgenden zwei Gründe sind meines Erachtens dafür verantwortlich. Der erste Grund liegt in der starken Konkurrenz. China ist ein sehr großes Land mit einer hohen Bevölkerungszahl. Im Durchschnitt können nur 5% der Jugendlichen an einer Universität oder Hochschule studieren. Obwohl die Universitäten und Hochschulen mit Zustimmung des Chinesischen Bildungsministeriums mehr Studenten als geplant aufgenommen haben, ist dieser Prozentsatz aber immer noch viel niedriger als in den entwickelten Ländern. Man kann sagen, dass die Zulassungsprüfung der Universitäten und Hochschulen wie eine Einbaumbrücke ist, über die ein großes Heer von Reitern und Fußsoldaten gehen will. Außerdem bestehen noch Unterschiede zwischen einzelnen Universitäten und Hochschulen. Die Lehranstalten, die sich in den wirtschaftlich hochentwickelten Gebieten befinden, sind meistens Schwerpunktuniversitäten und -hochschulen. Sie sind gut eingerichtet und verfügen über hoch qualifizierte Lehrkräfte. Der Volksmund sagt: „Wer nicht von einer Schwerpunkthochschule- oder universität aufgenommen wird, der hat keine Zukunft.“ In Anbetracht all dieser Umstände bleibt die Zulassungsprüfung besonders notwendig. Um gute Noten bei Prüfungen zu erzielen, sind die zahlreichen Übungen natürlich unvermeidlich.

Der zweite Grund liegt in der Auffassung über die Ausbildung der Fachkräfte. Nach der traditionellen chinesischen Auffassung „zählen nur Bildung und Gelehrsamkeit, alles andere ist ohne Wert.“ Auch in der heutigen Zeit wird diese Ansicht von den meisten Chinesen akzeptiert. Aber in der Tat ist es unrealistisch, dass alle die Hochschule besuchen, und es stimmt auch nicht, dass man nur durch den Besuch einer Hochschule zur einer Fachkraft werden kann. Die wirtschaftliche Entwicklung und der gesellschaftliche Fortschritt brauchen die Mitwirkung von Fachkräften in allen Bereichen. Es kann doch nicht so schwer sein, einige Maßnahmen zur Verringerung der schulischen Belastungen auszuarbeiten. Zum Beispiel kann das Ministerium für Bildungswesen fordern, dass die Ausscheidungsprüfung für die Zulassung zur Mittelschule abgeschafft, dass Lehrstoff leichter zusammengefasst werden soll, und die Schüler zur Erledigung ihrer Hausaufgaben nicht mehr als eine Stunde benötigen sollen, usw. Aber solange diese Auffassung über die Ausbildung der Fachkräfte bei den Menschen verwurzelt ist, werden sich sicher Maßnahmen gegen die Forderungen des Ministeriums durchsetzen. Dafür ist ein chinesisches Sprichwort passend: „Während das Gute um einen Berg steigt, steigt das Böse um zehn Fuß“. Als Folge müssen die Schüler und Schülerinnen noch mehr Belastungen ertragen. Leider kann diese Auffassung nicht über Nacht geändert werden, besonders in Zeiten der Marktwirtschaft. Wie wir wissen, machen die Arbeiter und Bauern den größten Teil der Bevölkerung Chinas aus. Nach der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik Chinas hat sich herausgestellt, dass die Menschen mit einem Hochschulabschluss viel mehr verdienen als diejenigen, die nur die Grundschule oder Mittelschule besucht haben. Eine weitere Tatsache ist, dass mit der Reform der staatlichen Betriebe seit den letzten Jahren zahlreiche Arbeiter und Arbeiterinnen freigesetzt worden sind. Viele von ihnen sind über 40 Jahre alt und nicht gut gebildet. Für sie ist es sehr schwer, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Dieses Problem tritt aber bei Menschen mit einem Hochschulabschluss seltener auf. So setzen die Eltern ihre Hoffnung auf ihre Kinder, damit sie später eine Universität oder Hochschule besuchen und nicht den „falschen“ Weg einschlagen. Auch für die Jugendlichen in den ländlichen Gebieten ist die Zulassungsprüfung der einzige Weg, Abschied von der Feldarbeit zu nehmen und ein völlig neues Leben in der Stadt zu führen. Deshalb ist es verständlich, dass sie nach dem Unterricht einen Berg von Hausaufgaben abarbeiten, um gute Noten bei der Zulassungsprüfung zu bekommen.

Aus den oben erwähnten zwei Gründen kann man ersehen, dass der Schulstress in China nicht aufgrund eines dringlichen Rundschreibens abgebaut werden kann. Erst wenn alle Faktoren des Bildungsbereiches berücksichtigt werden können, können die Schüler und Schülerinnen wirklich von der Schulbelastungen befreit werden. Wie alle chinesischen Kinder wartet Sihan auf diesen Tag!  

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