Juni 2005
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Bäuerliche Wanderarbeiter erzählen ihre eigenen Geschichten

Von Mitarbeiterin Qiao Tianbi

Eine neue Art des Barden – der chinesische bäuerliche Wanderarbeiter – kreierte die folgenden Zeilen:

Ein Frosch

In seinen Adern fließt ländliches Blut,

doch seine Seele weilt in der Stadt –

tanzt in Ketten...

Es gibt ca. 120 Millionen Bauern, die in Chinas großen Städten arbeiten und eine besondere Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft bilden. Viele lokale Künstler haben ihre Probleme ans Tageslicht gebracht, doch Wanderarbeiter verfassen nun ihre eigenen Verse, die auf ihren eigenen Erfahrungen basieren.

In China waren Stadt und Land lange Zeit zwei getrennte Welten. 1958 entschied sich die Regierung, den Strom der Bauern in die Städte zu kontrollieren, indem sie ihre Beschäftigungsmöglichkeiten einschränkte. Damals bedeutete das: Wer als Bauer geboren wird, der hat auch als Bauer zu sterben. Der einzige Weg, das Land zu verlassen, war, der Armee beizutreten, oder an einer Universität zu studieren. Erst als 1985 das Personalausweissystem eingeführt wurde und die rationierten Lebensmittelmarken in den Städten 1992 abgeschafft wurden, öffneten die Städte ihre Tore für die Bauern wieder. Zu jener Zeit hatten die Reform auf dem Land und technologische Verbesserungen großen Einfluss auf die landwirtschaftliche Produktivität und führten zu einem Arbeitskräfteüberschuss auf dem Land. Deshalb strömten viele Bauern in die Städte, wo das rasante Wirtschaftswachstum ihnen buchstäblich Arbeit versprach. Trotzdem blieb eine Ungleichheit im Bezug auf die soziale Sicherheit der Wanderarbeiter und der städtischen Bewohner bestehen. Viele der bäuerlichen Wanderarbeiter haben das Gefühl, nirgendwohin zu gehören – weder auf das Land, noch in die Stadt.

Am unteren Ende der Gesellschaft?

Wenn man ihre Gedichte betrachtet, fällt einem interessanterweise auf, dass Dichter vom Land sich gerne mit kleinen, schwachen und unattraktiven Tieren vergleichen, wie der Maus, dem Frosch oder dem Regenwurm. In seiner Geschichte einer Mäusefamilie schrieb Lu Weiping:

Sorgloses Spazieren kennen wir nicht

Achtung, damit du dir nicht den Schwanz einklemmst,

oder die Knochen brichst

Tränen und Seufzer werden unterdrückt

Freude im Knirschen der Zähne erstickt

Wir telefonieren im Dialekt

Ein Brief, der voller Fehler steckt...

Ein anderer ländlicher Dichter, Liu Dongwu, erklärt, dass diese unattraktiven Tiere gleichbedeutend sind mit benachteiligten Gemeinschaften, deren äußerste Sorge das Überleben ist. Sie haben oft das Bedürfnis, aufzuschreien und auf ihre unglückliche Lage hinzuweisen. Liu sagt, dass, obwohl diese Wanderarbeiter in den Städten für das Wohl des Staates und der Bürger hart arbeiten, sie von kaum jemandem anerkannt werden. „Unsere Gesellschaft hat wenig Respekt vor bäuerlichen Wanderarbeitern. Die Öffentlichkeit schenkt der Elite und Superstars viel Aufmerksamkeit, ist aber überhaupt nicht interessiert am unteren Ende der Leiter. Als Dichter zollen wir diesen körperliche Arbeit verrichtenden Leuten Achtung und schreiben über sie in Anerkennung der fundamentalen Rolle, die sie für unsere Gesellschaft spielen.“

Diese Meinung wird von einem anderen Dichter, Yu Jin, in seinem Ein Hundeleben bestärkt:

In Beijing kannst du ohne Kinder leben

Aber nicht ohne Hund

In der Ära der Tiere

findet ein Junge vom Land

schwieriger ein Zuhause als ein Köter.

Ein altertümlicher chinesischer Gelehrter sagte einst, dass ein Dichter keine bedeutenden Verse schreiben kann, bevor er nicht die wahre Bitterkeit des Lebens gekostet hat. Die Härten, die die Dichter unter den Wanderarbeitern durchgemacht haben, ermöglichen es ihnen, ihr Leben in unverblümter und bewegender Sprache zu beschreiben.

Ein Sprung vom literarischen Schaffen ins neue Leben

Die erste Wanderarbeiterin, die eine bekannte Dichterin in China wurde, ist An Zi. 1984, als An Zi erst 17 Jahre alt war, ging sie von der Schule in ihrer ländlichen Heimatstadt in der Provinz Guangdong weg und machte sich auf den Weg nach Shenzhen. Dort fand sie Arbeit in einer Elektronikfabrik, wo sie zwölf Stunden pro Tag am Fließband schuftete; nach einigen Tagen waren ihre Finger blutig und zerstochen. Sie studierte unablässig in ihrer Freizeit und absolvierte innerhalb von nur sieben Jahren das Programm der Unterstufe der Mittelschule bis zum Studium am Institut für Chinesisch der Universität Shenzhen. Beinahe ihr ganzes Einkommen verwendete sie für Bücher und Studiengebühren.

1991 gab die Zeitung Youth Post An Zis Wahre Geschichten eines Bauernmädchens in Shenzhen heraus. Die Leserreaktionen übertrafen alle Erwartungen. Bald darauf lud das Radio Shenzhen sie ein, An Zis Himmel zu moderieren, ein Programm für junge Wanderarbeiter in der Stadt. Ein kürzlicher Fernsehdokumentarfilm der Zentralen Fernsehstation Chinas (CCTV) über Chinas Reform und Öffnung 20 Jahre – 20 Menschen stellte An Zi auch als bekannteste Wanderarbeiterin in Shenzhen und als Freundin und Sprecherin all derer mit Träumen von einem Leben in der Stadt vor.

An Zi ist heute Aufsichtsratsvorsitzende von vier Firmen und ihr Ziel ist, andere durch ihren Erfolg anzuspornen. Ihr letztes Werk Gipfelbesteigung zielt darauf ab, Wanderarbeitern zu Erfolg zu verhelfen und ihnen Respekt in der Gesellschaft zu verschaffen.

Heutzutage kommen Wanderarbeiter in die Städte, nicht nur um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch um ihr Selbstwertgefühl anzuheben. Heute haben über ein Dutzent ländlicher Dichter und Autoren einen guten Ruf in den chinesischen literarischen Kreisen gewonnen. Immer mehr Angehörige dieser neu heranwachsenden Generation von Wanderarbeitern wenden sich der Kunst als Medium zum Ausdruck ihrer Weltanschauung zu.

Unterstützung durch Künstler

Avantgarde-Künstler Qiu Zhijie hat einige Werke geschaffen, in denen Wanderarbeiter charakterisiert werden. Anfangs hatte er mit ihnen zu tun, da er billige Arbeitskräfte benötigte, doch später entdeckte er ihren künstlerischen Wert.

Als er 1990 begann, in ganz China Ausstellungen abzuhalten, stellte er Wanderarbeiter an, um seine Werke für die Ausstellungen vorzubereiten. „Wenn ich eine Wand brauchte für meine Arbeit, war es billiger, eine Gruppe von Wanderarbeitern anzuheuern, die sich als Wand aufstellten, als eine wirkliche Wand zu bauen – so hatte ich zum ersten mal Kontakt mit ihnen“, sagt Qiu. Während der Zusammenarbeit war Qiu überrascht, wie gut die Wanderarbeiter seine Arbeit verstanden. „Sie sehen Dinge in einer einfachen, ungekünstelten Weise. Dadurch war es ihnen möglich, eine Bedeutung aus meinen bizarrsten Arbeiten zu ziehen. Manchmal gelang es ihnen besser als so manchem Professor an der Kunstakademie! Manche von ihnen halfen mir sogar, Teile meiner Kunstwerke zu schaffen.“

Ende 2003 nahm Qiu gemeinsam mit einigen anderen Künstlern und 200 Wanderarbeitern an der Ausstellung Together with Migrants teil. Die Organisatoren hofften, dass eine offene Diskussion der Angelegenheiten der Wanderarbeiter Beachtung dieser Gruppe in allen Gebieten der chinesischen Gesellschaft nach sich ziehen werde.

Die größte realistische Fotoausstellung in China im Jahre 2004 Chinesischer Humanismus begann mit einer außergewöhnlichen Eröffnungszeremonie: 160 Wanderarbeiter saßen mit einer Kamera in der Hand und nacktem Oberkörper auf einem Bambusgerüst. Sie machten Fotos von den Zuschauern, während ihr Gruppenfoto von tausenden Kameras aufgenommen wurde.

Wanderarbeiter sind auch in die kommerzielleren Kunstsparten, wie Fernsehen oder Popmusik eingedrungen. Der bahnbrechende Regisseur Guan Hu produzierte vor kurzem die 30-teilige Fernsehserie Das Überleben von bäuerlichen Wanderarbeitern, in der 40 Wanderarbeiter gemeinsam mit einigen berühmten Schauspielern zusammen auftraten. Guan sagt, dass er diese Serie in der Hoffnung drehte, diese gesellschaftliche Gruppe, die lange vernachlässigt und missverstanden wurde, in den Vordergrund der chinesischen Gesellschaft zu rücken.

Jingwen Music Corporation, bekannt für die Vermarktung berühmter Popstars, gab letzten September eine CD einer Wanderarbeiter-Band aus Beijing heraus. Alle Lieder auf dem Album erzählen Geschichten von Wanderarbeitern. Der Text von Wir sind eine Familie hört sich so an: „Du bist aus Sichuan, ich bin aus Henan... Von wo wir auch sind, wir kommen hierher, um zu arbeiten. Du bist Bauarbeiter, ich bin Haushaltshilfe ... Egal, welchen Job wir ausüben, wir arbeiten alle für unsere Lebensexistenz und sind eine Familie!“ Xu Zhongmin, Generaldirektor von Jingwen, ist sich sicher, dass das Album das Interesse der Öffentlichkeit an Wanderarbeitern und deren geistiger Welt erregen wird.

Hao Jian, Professor an der Filmakademie Beijing, besteht darauf, dass die meisten Leute absichtlich die Existenz der Wanderarbeiter ignorieren. Als er bei der Ausstellung Together with Migrants die 80 Wanderarbeiter mit nacktem Oberkörper auf dem Fenstersims stehen sah, überkam ihn das Bedürfnis, sich zu ihnen zu gesellen. Er legte seinen Mantel ab, kletterte auf das Fenstersims und mischte sich unter sie. Man fragt sich nur, könnte er auch dieselbe Arbeit verrichten?

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